Gerald Uhlig

Und trotzdem lebe ich


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der sechziger Jahre gesunde Lebensmittel anzubieten hatte. Mutter war also ständig unterwegs auf der Suche nach ausgefallenen Farben, dem körnigsten Schwarzbrot, der neuesten Mode und nach ihrem Selbst. Um Letzteres zu finden, suchte sie den Psychoanalytiker und Therapeuten Alexander Mitscherlich auf, Direktor der Psychosomatischen Klinik an der Universität in Heidelberg und damals der Guru schlechthin.

      Einmal fragte ich Mutter ganz neugierig, was denn ein Therapeut sei. Sie erwiderte, ein Therapeut sei ein Mensch, der gelernt habe, die Seele eines anderen Menschen zu massieren, damit sie sich entspanne und sich alte, unangenehme Erlebnisse langsam von ihr lösten. Ich war erstaunt über Mutters Antwort und stellte gleich die Frage hinterher, wo denn die Seele im Menschen liege, die der Therapeut massiere? Die fände man in der Nähe des Herzens, antwortete Mutter. Dann müsse der Therapeut ihren Busen berühren und massieren, denn das Herz mit der Seele läge ja dahinter. So sei das, antwortete Mutter und lachte. Ich hatte noch nie Mutters Busen gesehen und war etwas verstört, aber gleichzeitig auch fasziniert vom Berufsbild eines Therapeuten, der so nahe an die geheimnisvollen Dinge des Lebens kommen konnte. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob Mutters Seele sehr verspannt war.

      Einmal, als Mutter aus ihrer Therapiestunde kam und danach auch noch den Friseur aufgesucht hatte und ihre Haare hellblond leuchteten, flüsterte sie mir und meiner Schwester Manuela ins Ohr: »Ach, meine Kinder, Therapeut hin, Seelenmassage her, ich glaube, es gibt da doch nicht so viel zu finden. Beim Friseur war es heute viel lustiger.«

      Mutter schwärmt

      »Hast du den Müll nun hinausgebracht«, fragte Mutter, als ich leise das Wohnzimmer betrat.

      »Ja«, antwortete ich, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir gar nicht zuhörte. Mutter verehrte die Literatur, und manchmal, an den langen Nachmittagen der Stille im Wohnzimmer unseres Hauses, las sie mir aus klassischen Werken vor. In ihrer Hand wechselte häufig Thomas Manns Buddenbrooks mit Stefan Zweigs Roman Die Welt von gestern. »Wie viel Weltsehnen weht aus der Literatur immer wieder zu uns herüber«, pflegte sie gerne zu sagen und fügte hinzu, dass die deutsche Sprache über einen so großen Reichtum an Ausdruckskraft verfüge. Mutter verabscheute den sächsischen Dialekt ihrer Heimat und sagte meiner Schwester und mir immer wieder, wie froh sie auch aus diesem Grund sei, ihre Heimat Sachsen verlassen zu haben. Der Dialekt, von dem sie in ihrer neuen Heimat begrüßt wurde, das Badische, brachte sie allerdings genauso zur Verzweiflung. Mutter achtete in aller Strenge darauf, dass sich bei meiner Schwester und mir keine Dialektfärbung einschlich. »Der Klang gesprochener Sprache ist Musik.« Darum las Mutter uns Kindern im reinsten Hochdeutsch vor, als Training für ein gutes Sprachgefühl, wie sie gerne hinzufügte.

      Thomas Mann war ein Dichter der Krankheiten. Der Zauberberg war immer auf Mutters Nachttisch zu finden. Zettel mit Notizen, die Mutter sich gemacht hatte, ragten aus den Seiten des Buches heraus. Auf einem stand zu lesen: »In den Sphären der Krankheit fühlte Thomas Mann sich rettungslos zu Hause (September 1919/aus seinem Tagebuch).« Was suchte Mutter in diesem Roman, der zwischen Poesie und exakter medizinischer Krankheitsbeschreibung pendelt? Fühlte sie die Krankheit auch als ihr Zuhause? Oder fühlte sie eine Krankheit, die sich in ihr ein Zuhause gemacht hatte?

      Meinen ersten Namen, Gerald, verpasste mir mein Vater, meinen zweiten, Christian, habe ich Thomas Manns Buddenbrooks zu verdanken. Christian Buddenbrook war einer von Mutters Lieblingsfiguren. Wenn ein Junge, dann Gerald, rief mein Vater, denn der Name sei germanischer Herkunft und bedeute »der Speer, der ins Zentrum trifft«. Und ein männlicher Nachfolger, ausgestattet mit Vaters Genen, müsse unbedingt zur Jagd. Nach einem längeren Streit mit meiner Mutter landete Christian eben an zweiter Stelle. Den Namen für unseren Schäferhund Boogie hatte Mutter ganz allein entschieden. Mutter schwärmte leidenschaftlich für den Schauspieler Humphrey Bogart.

      Unterschiedliche Planetensysteme

      »Ich habe den Müll hinausgebracht«, sagte ich zu Mutter. »Das hast du gut gemacht, mein Junge«, antwortete sie.

      Nach meiner Geburt in einem Heidelberger Krankenhaus ging es direkt in den Brutkasten. Ich war ein schwächliches Geschöpf und konnte aufgrund eines Magenpförtnerkrampfs keine Nahrung bei mir behalten. Für alle um mich herum galt ich bereits als verloren. Dass ich wie ein Phönix aus der Asche wieder auftauchen sollte, verdankte ich einer Verwandten meines Vaters aus dem Osten und ihren dicken Brüsten.

      Meine Mutter war keine Übermutter. Kinderlieder wie »Die Mutter ist eine Milch, eine schöne, eine warme« wurden bei uns nicht gesungen. Mutter konnte mir den beruhigenden Busen nicht geben, da gab es für mich als Letztgeborenen nichts mehr zu trinken. Meine Eltern waren 1950 aus dem Osten geflohen und hatten bei dem anstrengenden Neubeginn im Westen wenig Zeit für ihre Kinder: Ihr Ältester, mein Bruder Richard, war bereits 1942 zur Welt gekommen, meine Schwester Manuela wurde bald nach der Ankunft im Westen geboren und ich anderthalb Jahre später, 1953. Die neu gegründete Firma forderte meinen Eltern alle Energien ab. Mutter sagte auch ganz ehrlich, dass sie eigentlich mit Kleinkindern nie sehr viel habe anfangen können und dass Vater sie immer gegen ihren Willen geschwängert habe. Nach drei Geburten sei endgültig Schluss damit gewesen.

      Mutter war von ihrem Wesen her Unternehmerin durch und durch. Gemeinsam mit meinem Vater baute sie eine Strumpffabrik auf, die von ihr perfekt gemanagt und geleitet wurde. Sie war eine begnadete Verkäuferin der Strumpfprodukte, die mein Vater mit seinen Maschinen produzierte. Vater war der Praktiker des Unternehmens, und der nahtlose Damenstrumpf, den er damals entwickelte, sollte sich als ein Verkaufshit herausstellen. Im Geschäftsleben ergänzten sich die beiden zu einem perfekten Team, in den anderen Lebensbereichen bewohnten sie vollkommen unterschiedliche Planetensysteme. Er hasste, was ihr wichtig war: Großzügigkeit, Gefühle, das Theater, die Literatur, die Künste, feine Restaurants, überhaupt alles, was mit einem gewissen Lebensstil zu tun hatte.

      Mehrere Wochen nach meiner Geburt bekam Mutter einen ersten Schlaganfall und mein Vater traf die Angst, dass damit die Existenz der Firma und unserer Familie auf dem Spiel stände. Vater, sonst als aufgeblähter Hahn bekannt, fühlte sich ohne seine Frau hilflos.

      Was nur war mit Mutter geschehen? Sie war gerade erst dreißig Jahre alt geworden. Hatte sie sich mit der Flucht, mit dem Neuaufbau und ihrer dreifachen Mutterschaft überfordert? Hatte ihr meine Geburt zu viel Kraft geraubt? Vater sprach später von einer Zeit der Verzweiflung, die er damals durchstanden habe. Mein Überleben war noch nicht gesichert, seine Frau lag mit einem Schlaganfall im Krankenhaus und die Firma geriet ins Trudeln. Wie durch ein Wunder erholte sich Mutter dann doch recht schnell. Das Einzige, was der Schlaganfall bei ihr zurückließ, war eine Gleichgewichtsstörung, die sich in einer Unsicherheit beim Laufen bemerkbar machte. Seit dieser Zeit unternahm Mutter Spaziergänge nie mehr allein.

      So kam es, dass ich, kaum im Westen geworfen, gleich in den Osten verfrachtet wurde, an die dicken Brüste von Maria. Meine Eltern nannten sie Tante Maria, obwohl sie nur eine entfernte Verwandte aus der Familie meines Vaters war. Es dauerte ein halbes Jahr lang, bis mein Körper Essen bei sich behalten konnte. Tante Maria fütterte mich Löffelchen für Löffelchen. Meist erbrach ich mich nach der Nahrungseinnahme wieder. Doch Maria päppelte mich geduldig weiter. Vierundzwanzig Stunden wachte sie über mich, Tag für Tag, ein halbes Jahr lang. Einzig ihrer Geduld und Fürsorge habe ich mein Überleben zu verdanken. Dazu gab es jede Menge Körperwärme, geballt zwischen ihren überdimensionalen Brüsten. Zwischen diesen verbrachte ich wohl die meiste Zeit meines Aufenthaltes in dem kleinen Dorf Gelenau im Erzgebirge.

      Als Mutter wieder einigermaßen von ihrem Schlaganfall geheilt war, sehnte sie sich nach ihrem Söhnchen, sodass Vater noch einmal eine Fahrt zurück in den Osten antrat, um mich wieder in die Familie zurückzuholen. 1954 war eine solche Reise nicht mehr ganz ungefährlich, da die Grenze nach Westdeutschland bereits geschlossen war. Wesentlich leichter war damals die Flucht in den Westen über Berlin.

      Das Zittern meines Vaters

      Meine Eltern waren 1950 mit meinem Bruder Richard aus ihrer Heimat Augustusburg in Sachsen mit dem Auto geflüchtet. Zuerst ging die aufregende Fahrt bis Potsdam. Dort trennten sie sich. Mutter fuhr mit meinem Bruder Richard in der S-Bahn