Gerald Uhlig

Und trotzdem lebe ich


Скачать книгу

viel Zeit bleibt mir noch? Wie lange werden meine Nieren noch arbeiten?«

      Er holt seinen Taschenrechner aus der Schublade und fragt, wie viel ich im Moment wiege. Ich antworte: 58 Kilogramm. Ob ich immer so wenig gewogen hätte, fragt er. Ich bejahe. Er tippt die Zahl 58 ein. Er fragt, welche Körpergröße ich habe. Ich sage: einen Meter und fünfundachtzig Zentimeter. Er murmelt weiter vor sich hin, dass mein Kreatininwert bei dreipunktnullacht liege. Auch diese Zahl tippt er in seinen Rechner ein. Dann setzt er eine mir unbekannte Zahl in seinen Rechner dazu und teilt mir mit, dass beide Nieren zusammen noch etwa 23 Prozent Leistungskapazität haben. Da Nieren sehr zähe Organe seien, die selbst noch bei 15 Prozent den gesamten Körper entgiften könnten... Er unterbricht sich selbst, um mir mitzuteilen, dass er es einfach nicht genau sagen kann. Je nach Konstitution eines Körpers hätte man bei einer Leistungskapazität von 23 Prozent vielleicht noch zwei oder drei Jahre. Und er erzählt von den vielen anderen Faktoren, auf die es eben auch noch ankäme. Aber es könne eben alles auch sehr viel schneller gehen.

      Wir verabschieden uns freundlich voneinander, und ich verabrede mit der Schwester im Vorzimmer den neuen Termin für die nächste Blutentnahme.

      Ein Engel kommt

      Mit heruntergezogenen Schultern gehe ich den langen Gang hindurch zum Ausgang des Krankenhauses, meine Lebensgefährtin eilt mir mit offenen Armen entgegen, um mich zu fragen, wie es denn heute mit den Werten aussehe. Mein Blick wie auch meine Körperhaltung beantworten ihre Frage. Zärtlich tröstend nimmt sie mich am Arm, und wir laufen gemeinsam hinaus in den herbstlichen Park des Krankenhauses und setzen uns auf eine Bank. »Vielleicht morgen, vielleicht in zwei Jahren«, murmele ich in mich hinein. »Du weißt, wenn es so weit ist, dann bekommst du meine Niere.« Wenn Mara diesen Satz zu mir sagt, bin ich zum einen sehr erleichtert, ja, für kurze Zeit glücklich, und die Angst weicht von mir, aber gleichzeitig breitet sich auch eine Traurigkeit aus. Wenn nur etwas bei einer solch schwierigen Operation schieflaufen sollte und sie diese nicht überleben würde, ich würde mich mein Leben lang schuldig fühlen für ihren frühen Tod. Und ich hätte unserer gemeinsamen Tochter die Mutter genommen. Was aber, wenn wir beide die Operation überstünden, mein Körper jedoch ihre Niere nicht annehmen würde?

      Mara unterbricht meine Gedanken und sagt mit leiser Stimme, dass wir doch nun endlich einen Termin bei der Professorin machen sollten, die für die Untersuchungen zuständig sei, bei der man herausfinden kann, ob unsere Werte übereinstimmen und ob diese Transplantation zwischen uns beiden überhaupt möglich ist. Vor längerer Zeit hatten wir bei unserem Hausarzt bereits eine Bestimmung unserer Blutgruppen vornehmen lassen, und diese Ergebnisse zeigten ein kleines grünes Licht. Seit ich bei diesem Arzt bin, war das die erste gute Botschaft, die ich mit aus seiner Praxis nehmen konnte. Nur, ob es zwischen Mara und mir tatsächlich zur Operation kommen kann, das müssen noch unzählige weitere Untersuchungen zeigen. Und vor diesen habe ich mich bis jetzt gedrückt. Was, wenn es nicht geht? Dann wäre meine letzte Hoffnung dahin.

      »Ja, diese Untersuchungen sollten wir jetzt bald endlich machen«, antworte ich mit belegter Stimme und drücke Mara fest an mich. Ob ich noch ins Kaffeehaus will? Ich nicke und sage, dass ich dort einen Termin habe. Später soll ich Mara und unserer Tochter zum Flughafen bringen. Beide fliegen für ein paar Wochen in Maras Heimat, um die Familie zu besuchen. Wir gehen nachdenklich zum Parkplatz zurück, und jeder steigt in seinen Wagen. Aus dem geöffneten Fahrerfenster ruft mir Mara zu: »Kopf hoch, Geraldino! Va a salir todo bien! Wie die heilige Maria der guten Lüfte immer sagt: Es wird schon alles klappen!«

      Zwei Stück Sachertorte

      Während ich mit dem Wagen durch Berlin fahre, erinnere ich mich an Mara, wie ich sie das erste Mal in meinem Leben in meinem Café sah. »Wer ist diese hübsche Frau, die da an Tisch 26 sitzt«, fragte ich den Kellner und fuhr gleich weiter fort, dass sie bestimmt Spanierin oder aber auch Südamerikanerin sein könnte. Der Kellner, der in dem Tischrevier arbeitete, wo diese wunderschöne Frau saß, tippte auf Südamerika. Und er erzählte mir weiter, dass sie bei ihm zwei Stück Sachertorte bestellt habe, aber schon eine ganze Weile allein an ihrem Tisch sitze. Ihre äußere Erscheinung zog meinen Blick immer wieder zu ihr hin. Da ich aber recht schüchtern bin, gerade, wenn es um Frauen geht, die mir gefallen, bat ich den Kellner, er möge doch anfragen, ob ich mich zu ihr setzen dürfe. Das organisierte er sehr charmant und gab mir dann das erhoffte Zeichen.

      Sie begrüßte mich mit einer solchen Herzlichkeit, die man in unseren Breitengraden nicht alle Tage erleben kann, und bat mich auch gleich, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Ihr Name sei Mara. Draußen vor dem Fenster sah man ein wenig Schnee auf die Straße fallen, und sie erzählte drauflos, dass sie fünf Jahre alt gewesen sei, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee gesehen habe. Sie war mit ihren beiden etwas älteren Schwestern im Haus gewesen und keine der drei habe sich in den Garten getraut, denn dieses unbekannte Weiß, das sich auch auf dem Boden des Gartens ausbreitete und liegen blieb, dieses Weiß hätte ja ein böser Geist sein können. Heute liebe sie den Schnee. Sie erzählte weiter, dass Argentinien ihre Heimat sei, sie aber schon seit sechs Jahren in Berlin leben würde. Sie stamme aus Rosario, der drittgrößten Stadt Argentiniens, und sie fügte stolz hinzu, dass auch der Revolutionär Ernesto Guevara und der Philosoph, Ästhet und Trainer César Luis Menotti, der die Argentinier 1978 zur Fußballweltmeisterschaft geführt hatte, aus ihrer Heimatstadt kämen.

      »Ich hoffe nicht, dass ich störe«, unterbrach ich sie. »Wieso? Nein.«

      »Vielleicht erwarten sie noch jemanden, hier steht ja noch ein Stück Sachertorte.«

      »Nein, nein«, erwiderte sie. Das sei nur so ein kleines Ritual, zum Gedenken an ihren Großvater. Ich war ganz neugierig und fragte Mara, ob sie mir mehr davon verrate. Und so erzählte sie: Als sie sechs Jahre alt war, verstarb ihr Großvater. Ihre Familie war so arm, dass sie sich nie Schokolade leisten konnten. Aber am Todestag des geliebten Großvaters stand in der winzig kleinen Küche eine riesige Schokoladentorte. »So«, sagte die Mutter zu den Kindern, »ihr geht jetzt einzeln ins Zimmer, wo der Großvater aufgebahrt liegt und verabschiedet euch von ihm. Danach gibt es für alle Schokoladenkuchen.« Mara sei dann als Erste in das Zimmer gegangen, wo der Großvater in seinem schönsten Anzug, weißem Hemd und mit einer Krawatte um den Hals, auf die lauter gelbe Bananen gestickt waren, aufgebahrt lag. »Lieber Großvater, du wirst mir so fehlen, aber ich danke dir auch von ganzem Herzen, dass du gestorben bist, denn heute gibt es zum ersten Mal in meinem Leben Schokoladenkuchen. Und das haben wir Kinder nur dir, geliebter Großvater, zu verdanken.« Mara küsste ihn zum endgültigen Abschied auf die Stirn, und in diesem Moment schien es ihr, als ob der Alte seine Augen öffnete, das rechte auf- und zuknipste, sie anlächelte, um dann seine beiden Augen für immer zu schließen. Und so würde sie immer, wenn sie Lust auf Schokoladenkuchen habe, wie zum Bespiel heute, zwei Stückchen bestellen, eines zu Ehren ihres Großvaters und das andere zu ihrem Genuss.

      Jetzt müsse sie aber leider gehen, denn in einer Stunde würde ihre Arbeit beginnen. Bevor wir uns verabschiedeten, bat sie den Kellner, er möge ihr doch das übrig gebliebene Stückchen einpacken, die Zeit für das Erinnerungsritual sei jetzt vorbei, und sie würde das Stück ihrem Sohn mitbringen, der Schokoladenkuchen ebenfalls liebe. So könne sie mit einer Klappe zwei Fliegen schlagen, und das sei doch ein deutsches Sprichwort.

      Ich weiß nicht genau, warum, aber ich wollte Mara wiedersehen. Dabei fiel mir ein nur wenig origineller Trick ein. Ich fragte sie, ob sie Lust hätte, mir Spanischunterricht zu geben, da wir sehr viele Spanisch sprechende Gäste hätten. Sie schrieb mir ihre Telefonnummer auf ein Zettelchen und zeichnete dazu noch ein Buch, das auf zwei laufenden Beinchen in ein Kaffeehaus ging.

      Beim Einparken muss ich noch ein wenig über meine erste Begegnung mit Mara lächeln. Aber als ich das Kaffeehaus betrete, überfällt mich wieder diese Traurigkeit.

      Ein Stück Land in Ägypten

      Hamdy, der Barkeeper, ist der Erste, den ich erblicke. Er ist Ägypter und schon von Anfang an dabei. Er hat sich zum Meister in der Kaffeezubereitung entwickelt und kreiert auf dem Milchschaum jeder Tasse Melange Blumen, Herzen oder abstrakte Figuren.