Gerald Uhlig

Und trotzdem lebe ich


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mir und stürzte sich ins entfernte Meer. Da war keine Welle geblieben, die mich hätte kühlen können.

      Was hatte ich Schlechtes getan, dass ich mit so viel Schmerz gestraft wurde? Ich wollte mich nur noch in Mutters Arme legen und weinen. Die Anfälle dauerten meist drei bis vier Tage. Dann zog sich das Fieber wieder zurück. Wenn die Attacken vorbei waren, fühlte ich mich für die nächsten Tage wie ein ausgebrannter Krater, den man nur noch mit Tränen füllen konnte. Später, wenn mein Körper dann tatsächlich ohne Schmerzen blieb, hatte ich das Gefühl, ein neues Leben beginnt.

      Mutter brachte mir Geschenke: Farben, Malblöcke, Kunstbücher. Das sei die Belohnung dafür, dass ich wieder so tapfer gewesen sei und die Anfälle besiegt habe. »Du wirst immer von einer anderen Aura sein, denn alle großen Melodien sind traurig«, flüsterte Mutter mir zu, als ich ihre Geschenke auspackte. Erst viel später in meinem Leben würde ich verstehen, was sie mir damals hatte sagen wollen. Die Welt, die in Farben schreien will, die ich gestalten muss, ist längst in mir gewesen.

      Unstillbare Sehnsucht

      Stundenlang betrachtete ich die Kunstbücher, in denen Bilder von Gaugin, van Gogh, Picasso und anderen abgedruckt waren. Und ich entwickelte eine unstillbare Sehnsucht, ebenfalls ein Künstler zu werden, um Dinge zu schaffen, die mich berühmt machen würden. Ich musste etwas Besonderes, Originelles, Einzigartiges und Außergewöhnliches in meinem zukünftigen Leben leisten, damit die Demütigungen aufhörten und alle stolz auf mich sein würden. Dieser Ruhm müsste meine Waffe werden und mich unangreifbar machen. Die anderen müssten mich respektieren und annehmen wie ich bin, mit all meinen Krankheiten und körperlichen Andersartigkeiten. Kein Arzt dieser Welt würde mich mehr als einen neurotischen Simulanten bezeichnen, alle würden sie sich in einem Wettstreit um mich bemühen und der Gewinner wäre stolz, neben mir stehen zu dürfen, hoch oben im Scheinwerferlicht, weil es ihm gelungen war, als Erster meine wirkliche Krankheitsursache herausgefunden zu haben.

      »Hat Prometheus das Feuer in mich gelegt?«, fragte ich Mutter beim Zubettgehen.

      »Wie kommst du denn darauf?«

      »In einem der Bücher, die du mir geschenkt hast, steht, dass Prometheus den Menschen das Feuer brachte.«

      »Ich kann es dir nicht sagen, mein Junge.«

      »Wenn ich Prometheus male, verschont er mich dann mit seinem Feuer?«

      Mutter verabschiedete sich von mir mit einem Kuss auf meine fieberfreie Stirn, wünschte mir eine gute Nacht und löschte das Licht. Und ich dachte weiter darüber nach, was Mutter mir über die Schmerzen gesagt hatte. Wieso sollten sie eigentlich durch eine Heirat weggehen? Vielleicht würden sie ja vom ständigen Streit der Eltern vertrieben. Ich kannte meine Eltern nicht anders, als dass sie miteinander stritten. In diesem Fall hätte ihr widerlicher Streit, den ich so sehr hasste, doch noch einen Sinn. Und wieso sollten die Schmerzen und Krämpfe verschwinden, wenn man Kinder bekommt? Packten die Krankheiten ihre Koffer und zogen bei den Kindern ein? War das auch bei meiner Geburt so gewesen, dass sich diese unangenehmen Zeitgenossen ungefragt bei mir einnisteten?

      Die Gedanken drehten sich so, wie mein Hamster Max beim Laufen sein Käfigrad drehte und wie sich alles um sich selbst drehte, ein Gemisch aus Gas, Wasserstoff und Staub verstorbener Sterne im kosmischen Kreißsaal, so lange, bis es so stark zusammengepresst ist, dass es sich entzündet und ein neuer Stern entsteht, der zu glühen beginnt und sich dreht und glüht und plötzlich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in meine Hände fällt. Ich schreckte aus dem Bett hoch. Ich war eingeschlafen. Solche Träume waren immer die Nachwehen meiner Anfälle, und ich war erleichtert, dass nicht wirklich ein brennender Stern auf mich gestürzt war. Ein Glück. Ich war noch einmal davongekommen. Kein neuer Anfall, nur ein Traum. Ich hörte das Geräusch aus dem Käfig von Max, der immer noch in seinem Rad lief und dabei immer schneller wurde.

      Hätte mir in dieser Nacht jemand gesagt, dass eines Tages in meinem späteren Leben die weiblichen chinesischen Verwandten von Max mein Leben retten würden, dann hätte ich diesen Jemand für verrückt erklärt.

      Waren die Fieberschübe vorbei, kamen die Zeiten, in denen ich mich wie ein ganz normales, gesundes Kind fühlte. Meine Schwester Manuela und ich probten in diesen glücklichen Zeiten kleine Theateraufführungen, die wir beim Besuch von Geschäftsfreunden meiner Eltern zum Besten gaben. Manuela tanzte dabei einen Mix aus Ballettschritten, Twist, Rock’n’Roll, Walzer und Foxtrott; ich rezitierte dazu Texte, die ich von überall her aufgeschnappt oder aus den Zeitungen und Büchern meiner Mutter zusammengesammelt hatte. Wenn es uns beiden nach einiger Improvisationszeit gelungen war, den Tanz- und Sprachrhythmus anzugleichen, gab es von den Zuschauern stets heftigen Applaus, den ich genoss wie einen köstlichen warmen, tropischen Regen, der auf uns niederprasselte. Dies waren die Königsmomente in meiner Kindheit. Sie wurden nur gleich wieder relativiert, wenn die Gäste nach unseren Aufführungen manchmal meinen Eltern zuflüsterten, was denn mit mir los sei, ich sähe krank aus und für mein Alter und meine Größe sei ich viel zu dünn. »Leidet euer Sohn vielleicht an Magersucht?« Dabei hatte ich zu Mittag gerade erst acht Pflaumenknödel verdrückt und fühlte mich in meiner Dünnheit sauwohl. Nie würde ich überflüssiges Gewicht durch die Welt schleppen müssen. Das wollte ich demnächst in das Getuschel der Gäste hineinschreien! Solange ich lebe, schwor ich mir damals, würde ich nicht aufhören, mir meine Glücksmomente zu schaffen. Ohne unsere kleinen Kunststückchen, die meine Schwester und ich erfanden und probten, um sie dann zur Aufführung zu bringen, wäre ich sicherlich zugrunde gegangen. Mal dramatisch, mal komisch, wir konnten in sie alles hineinpacken, was uns auf der Seele lag. Unser Theater war eines dieser Kindheitsparadiese, so wie die Natur mit ihren Feldern und unendlichen Wiesen unser Spielplatz war.

      Im Wartezimmer

      Jedes Mal, wenn ich im Wartezimmer sitze, um die neuen Nierenwerte zu erfahren, bewegt sich die Zeit nicht von der Stelle. An diesen Vormittagen ist das Wartezimmer für mich ein überfüllter Vorhof zum Tod. Angstgefühle unterschiedlichster Art jagen durch meinen Körper. Und die immer wieder gleichen Fragen geistern durch meinen Kopf: Ist das Kreatinin nach oben gegangen? Ist es konstant geblieben? Ist es vielleicht ein wenig zurückgegangen? Hat es sich drastisch verschlechtert? Wie lange arbeiten meine beiden Entgiftungsmaschinen noch? Und wenn meine Nierenwerte tatsächlich so schlecht geworden sind, was wird dann aus mir? Ein Leben an der Dialysemaschine? Für den Rest der Tage auf eine Entgiftungsmaschine angewiesen?

      Wer einmal in der Dialysefalle steckt, hat schlechte Aussichten, je wieder lebend herauszukommen. Jedes Kind weiß mittlerweile, dass es in Deutschland zu wenige Spenderorgane gibt, dass viele tausend Menschen auf Wartelisten stehen und, wie bei Wladimir und Estragon im Stück von Samuel Beckett, das ewige Warten auf die Erlösung vom Warten schmerzlich schwer und immer schwerer wird. Dialysepatienten müssen im Durchschnitt sechs bis acht Jahre auf ein Spenderorgan warten und viele von ihnen sterben während ihrer Zeit auf dieser Warteliste.

      Der Arzt ruft mich in sein Sprechzimmer. Ich zucke zusammen. Einen Gang in die Todeszelle stelle ich mir kaum schlimmer vor. Hoffentlich wartet im Sprechzimmer des Arztes eine Begnadigung auf mich. Zweimal im Monat vollziehe ich dieses Prozedere. Der Arzt fragt obligatorisch: »Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich?« Meine Antwort darauf ist eine auch nicht gerade abwechslungsreichere Litanei von Fragen: »Warum gibt es keine medizinische Erklärung für das Versagen meiner Nieren? Was genau ist es, das sie zerstört? Ich habe keinen chronischen Bluthochdruck, höchstens einmal cholerische Ausbrüche, die ich von meinem Vater geerbt habe. Ich ernähre mich, seit ich auf der Welt bin, einigermaßen gesund: Fisch, Obst, Gemüse, Gemüse, Obst, Fisch. Ich habe keinen Diabetes. Bitte sagen Sie mir endlich, welcher Dämon es ist, der sich in meinen Körper eingeschlichen hat? Oder verkraften meine beiden Nieren mein bisheriges Leben einfach nicht?«

      Er lächelt jetzt zum ersten Mal, seit ich in seinem Sprechzimmer bin, öffnet meine Krankenakte und sucht den blauen Zettel, auf dem die neuesten Blutwerte stehen.

      »Ihr Kreatinin liegt heute bei 3,08. Der Wert ist also im Vergleich von vor vierzehn Tagen etwas nach oben gegangen. Ein Sprung von 0,5. Kalium 5,3, Harnstoff 57.«

      Der