Gerald Uhlig

Und trotzdem lebe ich


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mitten im Winter bei eisigen Temperaturen stehen. Der noch vor wenigen Sekunden frühlingshafte Garten ist nun meterhoch mit Schnee bedeckt. Mehrere Litfasssäulen wachsen aus dem gefrorenen Weiß heraus, auf denen riesige Poster aufreizender Damen in Unterwäsche zu sehen sind. In Zeitlupe lösen sie sich von den Plakaten und kommen im Laufsteggang auf mich zu: »Ich habe immer nur an dich gedacht«, sagt die eine, »denn ich kann alles denken, Wurstbrot, Glück und Fahrradschläuche, nur noch nicht das Nichts! An dein Geschlecht will ich. Ich will dich niederdrücken unter dem Gewicht meines geilen Körpers, denn unser Leben besteht aus der Suche nach dem Etwas im Nichts.«

      Die Frauen formieren sich zu einem Chor. Ihre Brüste leuchten in der eiskalten Schneesonne wie weiße Tauben. Sie beginnen gemeinsam zu gurren und zu singen:

      »Deine Kleidung zerreißen, dein Fleisch öffnen, dein Blut und deinen Samen schmecken, denn das reine Nichts und das reine Sein sind dasselbe. Herr Gerald Uhlig-Romero! Du weißt nicht, wie lange wir Frauen schon an dieser Säule verharren und dich herbeigesehnt haben und nun sollst du von uns bekommen, was du verlangst.« Die Damen nehmen mich bei der Hand, und wir schreiten gemeinsam durch den vielen Schnee ins Innere der Villa. Auf dem Weg dorthin frage ich eine der Damen, ob ihr denn in dieser spärlichen Bekleidung nicht kalt sei. Sie antwortet mir, dass ihre Wunde im Schoß brenne und ich ihr wärmender Sonnenaufgang sei. Daraufhin frage ich sie nach ihrer Blutgruppe, und sie antwortet: »Wir können uns küssen, mein Freund, ficken bis in alle Ewigkeit, aber unsere Organe können wir nicht tauschen.«

      Der Mann mit der blutroten Mönchskutte erwartet mich bereits im Haus. Auf einer goldfarbenen Bühne strippt ein Mädchen, das mir zuruft, ihre Brüste seien noch zu klein, deshalb dürfe sie nur in der Mittagsshow auftreten. Der Mann mit der blutroten Mönchskutte spricht zu mir: »Für dich, mein Freund, fährt in wenigen Minuten eine Limousine vor, um dich abzuholen.« Er wendet nun seinen Blick an die Decke des Hauses, wo Szenarien aus Himmel und Hölle gemalt sind. »Herr im Himmel, nimm meine Blume, und ich möchte, Herr, dass du mir einige Sachen bringst. Notiere, Herr im Himmel: Ich will zwei Pakete Nudeln und Seife aus Lorbeerblättern und dann von der halben Wurst, der langen, und Herr, schau mich nicht an wie eine Taube, die du essen willst.« Er wendet nun den Blick zu mir zurück:

      »Angesichts einer Schöpfung, in der alle Geschöpfe fressen und gefressen werden, liegt die Vermutung nahe, dass auch der Urheber frisst.«

      In meinem Traum finde ich mich jetzt auf dem Dach der Villa wieder und eine Dame in einem lilasamtenen Abendkleid kommt mit einer blutenden Niere in der Hand auf mich zu. Ich schaue vom Dach nach unten in den Garten, wo es wieder Frühling geworden ist. Das Geschlecht der Dame verwandelt sich plötzlich in ein Piano, das Walzer spielt. Sie klammert sich mit einer solchen Wucht an mir fest, dass wir beide in die Tiefe stürzen. Ich habe den Sturz überlebt. Die Dame ist während des Fluges spurlos verschwunden. Neben mir auf dem blühenden Frühlingsrasen liegt die blutende Niere, die wie ein Springbrunnen kleine Fontänen von Urin in die Luft abgibt. Überglücklich versuche ich sofort, die Niere an mich zu nehmen, als plötzlich ein schwarzer Panther auf mich zurast, die Niere schnappt und vor meinen Augen auffrisst. Ich weine. Ich weine so sehr, dass der Frühlingsgarten zu einem riesigen Meer wird.

      Statt der angekündigten Limousine kommt eine Segeljacht in ultramarinblauer Farbe. Ich betrete das Schiff. Nach ungefähr dreihundert Minuten stürmischer See verlasse ich es wieder und steige vor dem Auktionshaus Christie’s, London, 8 King Street, aus.

      Heute soll ein seltenes Krankheitsbild versteigert werden. Mit vierhundert Millionen Euro ist das Bild aufgerufen. Sollte es verkauft werden, wäre es das teuerste Bild der Welt, brüllt der Auktionator über ganze Länder bis hin nach Heidelberg, wo ich einst geboren wurde.

      Aus aller Herren Länder ist die High Society angereist und sämtliche Jetset-Sammler drängeln sich im Saal. Um sich die Zeit vor dem Beginn der Versteigerung zu vertreiben, entschwinden die Leute im Innern des Hauses auf die klassizistisch eingerichteten Toiletten, um sich halb Kolumbien in ihre Nasen zu ziehen und halb Afghanistan in ihre Venen zu spritzen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich zu besteigen.

      Dann beginnt die Versteigerung. Das Bild, dessentwegen alle gekommen sind, steht auf einer goldenen Staffelei aus dem 17. Jahrhundert, die hinter dem hereinschreitenden Auktionator von zwei nackten Damen in den Saal geschoben wird. Die Spannung im Raum vibriert bereits. Noch ist das Bild von einem violetten Tuch verhüllt. Alle beginnen zu steigern, einhundert Millionen sind bereits geboten. Der Auktionator zieht das Tuch nicht vom Bild. Er nennt immer wieder den Titel des Werkes, den ich durch das laute Stimmengewirr im Raum akustisch nicht verstehe. Die Menschen im Auktionssaal steigern und steigern. Ich will nur zwei Dinge wissen: den Namen des Krankheitsbildes und wie es aussieht! Schon sind weit über dreihundert Millionen geboten. Jeder im Raum will das Bild besitzen. Rausch und Gier sind nicht mehr zu überbieten. Einer ruft: »Vierhundert Millionen.« Bei dieser Summe zieht der Auktionator langsam das violette Tuch vom Bild. Ich schreie: »Das bin ja ich auf dem Bild!« Ich schreie zum Auktionator: »Wie heißt das Krankheitsbild? Wie heißt das Krankheitsbild?«

      Ich schrecke hoch. Es ist Morgen, und die Nacht liegt hinter mir.

      Man sucht etwas und findet etwas anderes

      Manchmal schlafe ich wegen zu viel Freude am Leben schlecht ein. Manchmal halten mich einfach zu viele Glücksgefühle wach. Und wenn ich dann wegen der Vorfreude auf den nächsten Tag zu wenig geschlafen habe, hängt den ganzen Tag über eine Müdigkeit an mir, die mich in tausend Stücke brechen kann. Heute Morgen ist alles ganz anders. Die Träume dieser Nacht haben mich wach geschleudert, begleitet von panischen Ängsten. Mein erster Gedanke ist: Niemals werde ich ein Organ auf dem Schwarzmarkt kaufen. Lieber kämpfe ich hier in Deutschland für ein verändertes Organgesetz, damit der Mangel an Spenderorganen endlich ein Ende hat. So kann man wenigstens im Kleinen dem schrecklichen Schwarzhandel entgegentreten. Mein zweiter Gedanke ist: Auch wenn mich der Vortrag des Mafioso fasziniert hat, nie werde ich mein Kaffeehaus an so einen Menschen verkaufen, egal, wie hoch die Summe ist, die er bietet. Nein, so ein Wesen wie er bin ich nicht. Auch wenn ich kriminelle Anflüge im Leben verspürt hätte, sie durchzuführen, das hätten meine schwachen Nerven nicht zugelassen. Ich sehe den Zettel mit der Nummer des Mafioso auf meinem Nachttisch liegen und zerreiße ihn in winzige Stückchen.

      Bei der Katzenwäsche im Bad schleichen Gedanken zu den nächtlichen Träumen in meinem Kopf herum. Einmal sehe ich den schwarzen Panther vor mir, der eine gesunde Niere vor meinen Augen auffrisst, dann wieder die Versteigerung dieses Krankheitsbildes, auf dem ich mich erkannt habe, aber dessen Namen ich nicht verstanden habe. Welch eine Krankheit plagt mich, deren Namen ich nicht kenne und die langsam Stück für Stück meine Nieren frisst? Beim Anziehen frage ich mich wieder einmal, wie viel Zeit mir noch bleibt, ehe meine Nieren versagen. Nach den vagen Berechnungen meiner Ärzte sind es ja vielleicht nur noch fünfzehn Monate. Nieren machen beim langsamen Versagen im Körper keinen Lärm. Sie verabschieden sich in einer beklemmenden Stille, einer gespenstigen Schmerzlosigkeit. Möglich ist auch, dass alles sehr viel schneller dem Ende zugehen kann. Und das soll es dann gewesen sein? Während ich zur Küche laufe, um nach etwas Essbarem im Kühlschrank zu suchen, ist mir die Vorstellung, dass ich mit meinen rund fünfzig Jahren bald sterben könnte, während die Menschen weiter lieben, lachen und leben, unerträglich. Im Kühlschrank herrscht absolute Leere, dafür sehe ich in Gedanken meine Freunde beim festlichen Leichenschmaus, jeder scheint ganz froh, dass es ihn noch nicht erwischt hat. Jetzt, wo mein Kaffeehaus in voller Blüte steht, soll ich einfach verschwinden? In einer Zeit, in der die meisten eine Lebenserwartung von achtzig oder bald neunzig Jahren haben, da soll ich mich jetzt schon von den Würmern fressen lassen?

      Auch wenn ich noch so lange in den Kühlschrank starre, da ist einfach »nichts von nichts«, wie Mara immer zu sagen pflegt. Der Gedanke an das viel zu frühe »Nicht-mehr-Mitspielen-Können« löst Wut in mir aus. Die Kunst, mein Café und all die spannenden Dinge, die mein Leben prägen, all das soll von einem schwarzen Loch aufgesogen werden und für immer verschwinden? Ich verlasse die Küche und beschließe, mich sofort auf den Weg ins Kaffeehaus zu machen, um dort zu frühstücken. Der Koch dort weiß um meine Diät, die ich zu mir nehmen muss und was soll ich nach diesen furchtbaren