Gerald Uhlig

Und trotzdem lebe ich


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Gedanken und Gütern.« Natürlich kommt mir die buddhistische Philosophie als postpostmodernem Individualisten sehr entgegen. All unsere Begierden, sagt der Gründer des Buddhismus, Gautama Siddhartha, wird man durch die innere Einkehr verlieren: »Du darfst nur behalten, was du in jedem Moment bereit bist loszulassen!« »Meister, ich kann so vieles loslassen, nur mein Leben im Moment noch nicht. Meine überschäumende Weltneugierde treibt mich immer noch an. In mir hat sich noch keine Spur von Unzufriedenheit oder Abgestumpftheit eingegraben. Ich will auch das Aufwachsen meiner geliebten Tochter noch miterleben.«

      Wie ein stures Kind murmele ich weiter in Richtung meines Bücherregals, dass ich mich noch nicht von allem Weltlichen lösen will! Ich will noch kein Erleuchteter sein, lieber ein Kaminfeuer in der Welt, das voll von Widersprüchen munter vor sich hin brennt und auch meinen Liebsten um mich herum Wärme und Licht spendet. Anhäufungen von Besitz sind für mich reizlos. Begegnungen mit interessanten und denkgewandten Menschen, die den Geist beflügeln, das Eingebundensein in einen Freundeskreis, kluge Zeilen in einem Gedicht, ein Spaziergang in der Natur: das ist mein Weltwert. Wie sehr genieße ich den Duft einer frisch gerösteten und gut zubereiteten Melange am Morgen, das aufgewühlte Meer mit dem verschwimmenden Horizont, eine Zugfahrt von Hamburg nach Berlin, vorbei am Gelb der Rapsfelder in der Abendsonne, den ersten frischen Spargel mit gekochten Kartoffeln und Buttersoße, die Wolkenbilder über dem Berliner Tiergarten, die Zufälle, die mir bisher die schönsten Erlebnisse geschenkt haben, den warmen Wind, der Maras langes lockiges Haar in Richtung des blauen Himmels hebt, meine mir innewohnende Trauer. An all dem möchte ich noch ein wenig teilhaben.

      Beim Verlassen der Wohnung fällt mir ein, dass ich meine Tabletten noch nicht eingenommen habe. Ich eile zurück und schlucke die Chemie herunter. Hat nicht schon vor dreihundertfünfzig Jahren der Dichter Jean Molière gesagt, dass die meisten Menschen an ihren Medikamenten und nicht an ihren Krankheiten sterben. Aber noch bin ich nicht so weit. Noch fühle ich in meinem Körper enorme Kraftreserven. Da sind zwei Reinigungsmaschinen defekt und eine davon muss ausgewechselt werden. Für unsere Medizin ist das heute ein Kinderspiel. »Papa, Totsein ist blöd, weil man da nichts mehr erleben kann.« Recht hatte meine Tochter, als sie mir das beim gemeinsamen Radfahren zurief. Das Leben hält für uns so viel bereit, da will man erst gehen, wenn die Kraft einen verlässt.

      Beim erneuten Versuch, aus der Wohnung zu kommen, bleibe ich vor dem Spiegel im Flur stehen. Ich sehe keinen Schleier der Resignation, keine Lebensenttäuschung, keinen übersättigten Blick der Langeweile in meinen Augen. Sie strahlen noch. Sie sind nicht matt, wie bei einem verlorenen Schachspiel. Diese Augen gehören noch nicht dem Tod, sie gehören dem Leben! »Wenn das Alter bloß könnte – wenn die Jugend bloß wüsste«, rezitiere ich vor mich hin. Viele übersehen, dass es dazwischen eine Lebensstrecke gibt, in der man sowohl »kann« als auch »weiß«. Das ist die schönste Zeit im Leben. Und diese Zeit hat bei mir doch gerade erst begonnen.

      Ich schaue auf meine Uhr und bemerke, dass es gerade erst halb sieben ist. So früh haben mich meine Alpträume geweckt. Das Café ist noch lange nicht geöffnet. Also bleibe ich zunächst in der Wohnung. Ich behalte den Mantel an, setze mich auf die Couch und greife nach dem Schachbrett, das auf dem Tisch steht. Ich stelle die Figuren gegeneinander auf. Ich muss etwas tun, damit die Träume nicht wieder von mir Besitz ergreifen. Ich werde Schach spielen, werde mich einfach in zwei Personen aufteilen und gegen mich selbst antreten. Meine Eltern kommen mir in den Sinn, mein damaliges Leben zwischen meinem Vater und meiner Mutter, das mir noch heute manchmal so erscheint, als sei ich eine Schachfigur gewesen, die im ständigen Konkurrenzkampf der beiden hin und her geschoben wurde. Mutter hat mich Vater entrissen, indem sie ihn ständig schlecht machte und dann habe ich begonnen, mir meinen Vater auszureden, und dann das ganze Spiel umgekehrt. Ein verfluchtes Familienschach.

      Nach ein paar Zügen höre ich auf, ich kann mich an diesem Morgen nicht sehr lange konzentrieren. Ich laufe ziellos in der Wohnung auf und ab. Ich greife in meinen Bücherschrank und nehme das eine oder andere Buch heraus. Beim unruhigen Durchblättern fallen mich Sätze an, die ich irgendwann einmal unterstrichen habe. »Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, schlechten Lebens«, steht da auf Seite 387 zu lesen. Ich erschrecke ein wenig, als sich in diesem Moment der Briefkastenschlitz öffnet und die Zeitung auf den Fußboden fällt. Zu Wittgensteins Gedanken habe ich mir damals mit dem Bleistift eine Anmerkung ins Buch geschrieben, die ich kaum entziffern kann, und ich ärgere mich über meine unleserliche Schrift, die mir vorkommt wie das Geschmiere eines Kleinkindes.

      Trotz meiner unerklärlichen Krankheitszustände habe ich mir bisher keinen Gott zugelegt. Mein Glück wie mein Unglück verdanke ich der Natur und den Entscheidungen, die ich in meinem bisherigen Leben getroffen habe, den guten wie den schlechten, den richtigen wie den falschen. Und mit den Folgen dieser Entscheidungen muss ich leben! Ohne Klagen.

      Beim Weiterblättern begegne ich Epikur: »Der Tod geht mich nichts an, denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und so lange ich bin, ist er nicht«, und Voltaire: »Die Geburt ist offenbar ein Schwerverbrechen, denn sie wird mit dem Tode bestraft«, und Seneca: »Wenn es daher das allergrößte Glück ist, nicht geboren zu werden, so halte ich es für das nächstgrößte Glück, nach einem überstandenen kurzen Leben schnell in den früheren unangefochtenen Zustand zurückversetzt zu werden.«

      Ich stelle die Bücher alle wieder ins Regal und gehe Pinkeln.

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