Selena Mayfire

Yuri


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ich bin wahnsinnig überwältigt von dieser kleinen Idylle hier. Am Liebsten..." Er seufzte tief. "Am Liebsten würde ich einfach meinen Vater und die Leute aus dem Dorf herholen und bleiben." Der plötzliche Gedanke an Kimama schoss durch meinen Kopf und ließ meinen Körper erzittern. "Dann lass uns das einfach tun", sagte Yuri leise. Meine Knie wurden weich. Ich hörte Kimamas Lachen, sah die weiße Haarpracht, die ihr ovales Gesicht umspielte, spürte ihren Arm um meine Schultern. Dann sah ich meinen Vater, Tristan; sah, wie er sich mit Tränen in den blassblauen Augen von mir abwandte; fühlte mein Herz rasen, fühlte Schmerz, Wut, Angst und unendliche Traurigkeit, als er mir den Rücken zuwandte und den anderen Kriegern aus dem Dorf folgte. "Nein", wisperte ich. "Was, nein?", fragte Mendrick. "Wir können nicht bleiben", erwiderte ich, während mein inneres Bild von Tristan verblasste, "nicht, solange der Krieg nicht vorbei ist. Yuri muss seine Aufgabe erfüllen und wir müssen ihn dabei unterstützen, um jeden Preis. Das ist unser Schicksal." - "Ach, Schicksal", blaffte Mendrick, "manchmal denke ich mir, dass diese ganze Rederei über Schicksal und Bestimmung bloß dummes Zeug ist. Wir waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. So etwas kommt vor." Ein violett schimmernder Schmetterling mit dunkelblauen Flügeln ließ sich auf meiner Hand nieder. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. "Es kommt darauf an, von welcher Seite aus du es betrachtest", sagte ich fast tonlos, "vielleicht waren wir auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es ist immerhin unsere Chance, etwas zu verändern." Ich spürte, dass Noah mich ansah. "Sie spricht weise", sagte er. "Das ist etwas, das mich von Pauline unterscheidet", sagte Mendrick, "ihre Großmutter Kimama meint, sie habe das von ihrem Vater." Ich sagte nichts. Yuri war aufgestanden. "Nur an ihr selbst", murmelte er, so leise, dass nur ich es hören konnte, "an ihr selbst findet sie kaum etwas Gutes..." Er spielte auf meine Hexenkräfte an. Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich von ihm ab. "Letztendlich gibt es stets immer nur zwei Möglichkeiten auf unserem Lebensweg", sagte Noah, "entweder, wir beschließen, stehen zu bleiben und geben damit die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, auf; oder, wir entscheiden uns für das Weitergehen, um herauszufinden, wo der Weg uns hinführen mag." Der Schmetterling breitete die Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. "Weitergehen", sagte Yuri. Bild 177216 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      Mendrick wurde sehr krank.

      Er musste sich innerhalb der letzten Tage eine schlimme Erkältung zugezogen haben. Noah gewährte uns Unterschlupf, bis sich Mendrick wieder erholt hatte. Außerdem riet er Yuri und mir, in einem anderen Raum zu schlafen, damit wir die Gefahr einer Ansteckung vermeiden konnten. Eines Nachts, es musste wohl eine Woche vergangen sein, hatte Yuri wieder einen schrecklichen Alptraum. Er schien dem, den er in Baldur hatte, sehr ähnlich. Erst nach einigen Versuchen konnte ich ihn beruhigen und er schlief, müde und geschwächt, wieder ein. Auch ich war erschöpft. Ich verließ kurz das Zimmer, um selbst wieder ein wenig Ruhe zu finden, und traf draußen am Gang auf Albenprinz Noah. "Sie schläft noch nicht zu so später Stunde?", bemerkte er. "Ich kann nicht", antwortete ich, "und wieso seid Ihr noch auf?" Eigentlich ging mich das nichts an, aber die Frage war mir irgendwie heraus gerutscht. "Ich habe noch einen Spaziergang draußen gemacht", erwiderte Noah freundlich, "Alben schlafen nicht." - "Was macht ihr Alben dann nachts, wenn der Rest der Welt schläft?", fragte ich. "Oh, wie gesagt, wir reisen gerne", antwortete Noah, "auch in der Nacht. Es gibt viele Wesen hier im Albenreich, die nur des Nachts aktiv sind und die man tagsüber nie zu Gesicht bekommt. Auch der Feuerputz ist in den Abendstunden energiegeladener. Ich habe ihm vorher während meines Spaziergangs einen kleinen Besuch abgestattet. Er wirkt sehr unruhig und angespannt. Ich glaube, er wartet inständig darauf, dass einer von euch seine Seele befreit." - "Ich weiß nicht, wie", sagte ich. "Sie wird es schon noch herausfinden", sagte Noah und bot mir seinen Arm an. "Geht sie ein Stück mit mir?", fragte er. Ich nickte. Wir gingen die Treppen hinab und er führte mich in die Bibliothek, wo es angenehm warm war. Die Bibliothek war die einzige Räumlichkeit des kleinen Schlosses, die nicht in die Farben Blau und Silber gekleidet war; hier war alles samtgrün und golden. Nur die Holzmöbel waren aus demselben dunklen Baum gemacht wie die anderen. "Möchte sie lieber noch in den Garten?", fragte mich Noah. "Nein", sagte ich und sah neugierig von Bücherregal zu Bücherregal, "ich finde es auch hier sehr schön." - "Sie mag Bücher, nicht wahr?" - "Bücher sind etwas Herrliches, etwas Göttliches fast. Sie lehren uns, wecken Emotionen in uns und regen unsere Gedanken an." - "Hat sie ein Lieblingsbuch?" Ich musste lächeln. "Das Kräuterkundebuch meines Großvaters, ja. Er war eine Art Medizinmann und erforschte die Heilpflanzen der Natur. Er war ein sehr kluger Mann. Leider habe ich das Buch nicht bei mir. Ich habe es wo vergessen." Noah ging zum dritten von sieben Bücherregalen, ließ seine bleichen Finger über die Einbände gleiten und zog dann ein schwarzes Buch mit hellblauer Aufschrift heraus. "Das ist ein Buch über Albenmedizin", erklärte er und überreichte es mir, "gewiss ist es nicht so wertvoll wie das Buch ihres Großvaters, aber wenn sie interessiert ist, biete ich ihr an, es zu lesen. Die Kapitel sind in mehrere Sprachen unterteilt, sie wird es also problemlos verstehen können." Ich freute mich. "Danke. Behandelt Ihr und Aurore Mendrick auch mit dieser Medizin?" Er nickte. "Ja, aber Albenmedizin wirkt leider nur bei Alben rasch. Andere Lebewesen müssen sich mit der Genesung etwas gedulden. Ihre Körper sprechen genauso gut darauf an, nur etwas langsamer." Er ließ sich im Schneidersitz auf dem Teppichboden nieder. Ich kniete mich zu ihm, das Buch in den Händen. "Wo ist ihre Familie?" Ich zuckte zusammen. Noah blickte mich entschuldigend an. "Oh", sagte er betroffen, "sie hat keine Familie?" - "Ich habe eine Großmutter namens Kimama", antwortete ich leise, "sie hat mich großgezogen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater ist in den Krieg gezogen. Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. Meine Familie besteht eigentlich nur aus Kimama. Nun, und auch aus Mendrick. Der gehört mittlerweile auch dazu. Er ist uns ein treuer wie lieber Freund geworden." - "Und wo ist ihre Großmutter jetzt?" - "Irgendwo in Abeytu unter der Obhut von Mendricks Vater Balthaszar." - "Sie muss ihr wohl sehr fehlen." Ich spürte einen Kloß in meinem Hals. "Ja", sagte ich, "das tut sie." Noah legte die Hand auf die meinige. Ich hob, fast erschrocken, den Blick und sah ihn an. "Ich bin mir sicher, ihre Großmutter vermisst sie ebenso sehr", sagte er. Mir stiegen Tränen in die Augen. Vielleicht würde ich Kimama nie wieder sehen. "Weiß sie, dass sie sehr schön ist?", fragte Noah, nachdem er seine Hand wieder behutsam von meiner weggezogen hatte. "Wer, ich?", stieß ich hervor. "Ob ich weiß, dass ich schön bin?" Er lächelte und antwortete mit einem Nicken. Ich lief purpurrot an. "Äh... ich weiß nicht, ich... danke." - "Ich meinte nicht ihr Äußeres", klärte mich Noah höflich auf, woraufhin ich noch röter wurde, "ich meinte ihre Seele. Gewiss ist auch ihr Körper hübsch anzusehen. Aber ihre Seele, scheint mir, ist von ganz besonderer, noch intensiveren, Schönheit." - "Ach", sagte ich unsicher, "woher wollt Ihr denn wissen, wie meine Seele ist? Ihr kennt mich ja kaum. Und außerdem... tja, Mendrick würde sagen, es weiß doch niemand, ob wir tatsächlich Seelen haben." - "Oh, das sollte man nun wirklich nicht bezweifeln. Dafür würden die Götter über einen höhnen." - "Ich wusste nicht, was ich Euch antworten sollte." - "Sie muss mir nicht antworten, wenn sie keine geeigneten Worte findet. Ich bin auch einfach so gerne in ihrer Nähe." Ich wandte mich ab und lächelte schief. "Ich glaube, sie verbirgt ein Geheimnis", sagte Noah. Mein Magen hob sich. "Ich..." - "Sie muss es mir nicht erzählen. Sie kann es ruhig für sich behalten, wenn sie das möchte. Ich habe nur vermutet, es gibt etwas, das sie vor uns allen verbergen will. Warum, weiß ich nicht. Aber ich sehe es an ihrem Blick. Ich sehe es, wann immer sie die Augen niederschlägt. Ich sehe es, wann immer eine Emotion ihr Herz zum Beben bringt. Ich sehe es, weil es ein Teil von ihr ist." Er pausierte kurz und schien ziemlich amüsiert über meinen gequälten Gerichtsausdruck zu sein. "Alben nehmen die Seelen anderer Lebewesen deutlicher und spürbarer wahr als andere Geschöpfe", fügte er hinzu, "auch die Seelen derer, die nicht mehr als Sterbliche unter uns weilen." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir war nicht ganz wohl. "Sie braucht keine Angst zu haben", versicherte Noah. Dann überlegte er kurz. "Der Wolfskrieger hat eine ganz unbefleckte Seele. Eine, die noch nicht oft hier in unserer irdischen Welt unterwegs war, wenn überhaupt." - "Ist das gut oder schlecht?" - "Weder das eine noch das andere. Seine Seele ist jung und rein, die komplette Unschuld. Das macht ihn einerseits zu etwas Besonderem, andererseits sehr verwundbar. Seine Seele ist neugierig, lässt sich leichter formen als andere. Also gebt Acht, dass ihr ihn nicht an dunkle Mächte verliert." Ich winkte ab. "So etwas wird nicht passieren. Keiner von uns würde dies zulassen. Auch Yuri selbst nicht." Da hallte ein lauter Schrei durchs Schloss: