Selena Mayfire

Yuri


Скачать книгу

dazu in der Lage, seine Kräfte richtig zu kontrollieren", erzählte ich, "das heißt, das restliche Jahr müssen wir nun damit verbringen, herauszufinden, unter welchen Bedingungen Yuris Kräfte am stärksten hervorgekehrt werden und wie sie sich gezielt einsetzen lassen. Deswegen wollen wir in die Lequoiawälder, wo die Legende ihren Ursprung hat. Ihr müsst euch noch ein wenig gedulden mit euren Jubelschreien." Yuri blickte niedergeschlagen in die Runde und schwieg. Lundira stand auf. "Ich werde für dich zu den Göttern beten, Wolfskrieger Yuri, damit du die nötige körperliche wie geistige Kraft haben wirst, dein Schicksal zu meistern." Mit diesen Worten verließ sie den Kreis. Mein Blick folgte ihr und da sah ich plötzlich aus den Augenwinkeln, wie zwischen den Baumstämmen des schneebedeckten Tannenwalds, hinter dem Fluss Huyana, der die Grenze von Abeytu zum Albenreich darstellte, etwas Glühendes in feurigem Orange hin und her huschte. Als ich mich ruckartig danach umwandte, war es bereits verschwunden. "Was ist los, Mendrick?", fragte Pauline. "Da war irgendwas", murmelte ich. "Vielleicht einer der Rothüte, die euch auf den Fersen sind", meinte Nando. Ich schüttelte den Kopf und antwortete: "Ich denke nicht, dass die Rothüte neuerdings glühende Feuerumhänge tragen." - "Na, wer weiß", sagte Erwin und sah sich besorgt um. Weit und breit war nichts zu entdecken.

      Vielleicht hatte ich es mir ja auch nur eingebildet.

      Vier Stunden später waren wir bereit für die Abreise. Wir hatten uns noch ein wenig ausgeruht und fühlten uns nun bereit, ins Albenreich weiter zu ziehen. Shamandra und ihre Eltern verabschiedeten sich von uns. Shamandra überreichte jedem von uns ein Paar Handschuhe aus Schwarzschafwolle. "Habe ich selbst gestrickt", sagte sie stolz, "schon gestern Nacht saß ich daran." - "Gib es zu", neckte Erwin, "du hast sie irgendwo mitgehen lassen!" Shamandra errötete leicht. "Tja, also… Großmutter hat genug Handschuhe in ihrer Kleidertruhe..." - "Shamandra!", mahnte Lundira ihre Tochter. "Willst du, dass sich der Auserwählte und seine Gefährten auf dem Weg in die Lequoiawälder erkälten? Ich nicht", gab Shamandra zurück. "Ist schon gut, Teufelslocke", sagte Nando lächelnd. "Gute Reise", wünschte uns Lundira, "und ich hoffe, es gibt irgendwann ein Wiedersehen." - "Danke für eure Gastfreundschaft", sagte Yuri. "Passt auf euch auf", fügte Pauline hinzu. "Vor allem auf eure Tochter", sagte ich. Shamandra streckte mir die Zunge heraus und warf sich dann Yuri um den Hals. "Bitte versprich uns, dass du uns von dieser grässlichen Hexe erlösen wirst!" Yuri erwiderte ihre Umarmung. "Ich werde mein Bestes geben", sagte er. Shamandra ließ ihn los und verpasste ihm einen Hieb mit ihrem Ellbogen. "Autsch", sagte Yuri, "wofür war das denn?" - "Als Wegzehrung", erwiderte Shamandra spitz, "es warten noch eine ganze Menge Ellbogenhiebe und Kopfnüsse auf dich, wenn du Sternland nicht rettest." - "Ich werde mein Bestes geben", wiederholte Yuri. "Jetzt ist es genug, Shamandra", sagte Lundira, "ich bin mir sicher, der Auserwählte nimmt die Aufgabe, die ihm von den Göttern auferlegt wurde, sehr ernst." Sie winkten uns noch ein letztes Mal zu und wir verließen das Lager.

      Kapitel 14 - BEGEGNUNGEN

Bild 177215 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

      

       PAULINE.

      Wir hatten Abeytu hinter uns gelassen und stapften nun durch den Tannenwald, begleitet vom Rauschen des Huyana-Flusses, der wie durch ein Wunder nicht zugefroren war. "Scheint, als hätten es die Götter mit dem Albenreich gut gemeint", sprach Erwin meinen Gedanken laut aus, "ich hätte darauf wetten können, dass dieser Fluss mit einer dicken Eisschicht bedeckt ist." Huyana bedeutete so viel wie Fallender Regen und führte nicht nur ins Albenreich, sondern auch quer durch die Lequoiawälder bis hin zum Wasserdorf Chimani und hinauf zur unteren Gebirgskette der Kiona-Berge, wo er entsprang. Der Huyana-Fluss ist der Lebenssaft der Götter, hatte mein Großvater Nathaniel immer gesagt, er fließt durch die Hälfte aller Regionen Sternlands und ist voll mit solch reinem, klarem, glitzerndem Wasser, dass er den Göttern im Himmel von Sternland aus als Spiegel dient. - "Großvaters Buch!", fiel mir da plötzlich ein und ich blieb so abrupt stehen, dass Mendrick fast über seine eigenen Füße stolperte. "Was ist denn los?", fragte er erschrocken. "Großvater Nathaniels Buch über Naturheilkunde", jammerte ich, "ich habe es ganz vergessen! Vermutlich habe ich es bei deinem Vater in der Schlafkammer gelassen!" - "Daran kann man leider nichts mehr ändern", antwortete Erwin. "Du brauchst es doch nicht wirklich, Pauline", sagte Mendrick, "du hast das Buch so oft durchgelesen, dass du es bestimmt in und auswendig kennst." Ich seufzte. "Ja, vielleicht." - "Wartet!", sagte Yuri plötzlich. "Da versteckt sich irgendetwas hinter den Bäumen…" Mendrick zog den Zauberstab aus seiner Mantelinnentasche. "Ich habe es doch gewusst", zischte er, "wir werden schon seit wir im Zigeunerlager waren verfolgt." Meine Augen suchten nervös die Baumstämme ab, aber ich konnte nichts entdecken. "Komm raus, wer auch immer du bist!", stieß Mendrick hervor und hastete, den Zauberstab drohend gezückt, tiefer in den Wald hinein. Erwin folgte ihm. "Wartet!", rief ich, "Wir sollten besser zusammen bleiben…!" Yuri und ich standen Rücken an Rücken und spähten zwischen den Tannenwipfeln hindurch. "Da ist nichts", murmelte ich, "wo bleiben Mendrick und Erwin?" - "Pauline", wisperte Yuri plötzlich, "dreh dich bitte um… aber ganz langsam…" Mir wurde unbehaglich zumute und mein Puls schnellte in die Höhe. Ich wandte mich um und stieß einen spitzen, schrillen Schrei aus, der mir selbst durchs Mark fuhr. Vor Yuri und mir stand ein etwa drei Meter großes, trollähnliches Wesen auf zwei Beinen, mit einer Nase, die an eine breite Hundeschnauze erinnerte, und zwei Stoßzähnen, die nicht spitz, sondern abgerundet waren. Das Wesen hatte große, braune Augen und einen wuchtigen Unterkiefer. Was aber am Erstaunlichsten und am Schaurigsten war, war dass das Monstrum von Kopf bis Fuß in glühenden Flammen stand. Mein Gesicht war schon ganz heiß. Das Trolltier glotzte auf Yuri und mich hinab und röchelte vor sich hin wie ein sterbender Ebenholzelefant. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals vor Aufregung. "Rührt euch nicht von der Stelle!", hörten wir Mendrick rufen, "Das haben wir gleich!" Er attackierte das Feuerwesen mit einem Schockzauber. Das Wesen stöhnte erschrocken auf, aber der Zauber schoss durch seinen Flammenkörper hindurch als wäre da nichts und rauschte stattdessen auf Yuri und mich zu. "Runter!", schrie Mendrick, da hatte mich Yuri auch schon mit sich zu Boden gerissen. Ich schmeckte Schnee und Erde. "Verdammt, was willst du von uns?", bellte Mendrick das Untier an und feuerte noch einmal einen Zauber ab, der abermals durch das Wesen hindurchging, ohne auch nur den geringsten Schaden anzurichten. "Was bist du?", murmelte Yuri, als wir uns aufrichteten. "Es scheint uns jedenfalls nicht feindlich gesinnt zu sein", vermutete Erwin, der sich dem Wesen langsam näherte, "sonst hätte es uns schon angegriffen." Das glühende Trolltier gab weiterhin ächzende, zischende Laute von sich, wie die züngelnden Flammen des Feuers, die es umgaben. "Ich glaube, es will uns etwas sagen", meinte Yuri. Ich lauschte aufmerksam, konnte aber keine Worte heraushören. "Lasst uns einfach weitergehen", schlug Mendrick vor, ohne das Monster aus den Augen zu lassen, "anscheinend will es uns wirklich nichts tun, sondern findet uns bloß interessant." - "Das sind wir ja auch ", sagte Erwin, "zumindest Yuri, als Auserwählter." - "Erwähne das nicht zu laut", riet Mendrick, "wer weiß, wer uns sonst noch auf den Fersen ist." Vorsichtig entfernten wir uns von dem Wesen und gingen weiter durch den Wald. Es dauerte nicht lange, da verfolgte es uns. "Was bitteschön willst du denn?", schnappte Mendrick entnervt, als er sich nach der wandelnden Flamme umdrehte. Das Wesen blieb stehen, beugte sich zu Mendrick hinab und versengte dabei fast seine braunen Stirnfransen. "Sag mal, kannst du nicht aufpassen?", zeterte er. Das Wesen verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und knurrte. Jetzt wirkte es wirklich gefährlich. Mendrick verstummte und blieb stocksteif stehen. Auch Erwin, Yuri und ich verharrten regungslos. Das Trolltier begann wieder zu röcheln und irgendetwas vor sich hinzubrabbeln. Ich hörte genauer hin und plötzlich glaubte ich, zu verstehen, was es sagte. Es sprach nicht richtig; vielmehr war es ein Hauchen, ein tiefes Flüstern: "Hilfe…" Yuri bemerkte meinen gebannten Blick und fragte leise: "Hörst du das auch?" Ich bejahte. Erwin und Mendrick blickten uns verwirrt an. "Seid ihr verrückt?", zischte Mendrick, woraufhin das Wesen ein drohendes Grollen von sich gab. "Hör doch mal genauer hin, Mendrick", sagte ich gespannt. Er tat es, wenn auch widerwillig. Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er das Hilfeflüstern nun auch vernahm. "Wobei sollen wir dir helfen?", brummte er schließlich. "Wir könnten selbst gut Hilfe gebrauchen." Das Feuerwesen