Selena Mayfire

Yuri


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kletterte nun ebenfalls nach draußen. Zuletzt folgte Erwin. Gerade noch rechtzeitig, denn in dem Moment stürmten die Rothüte in unsere Zelle. "Ich brauche einen Zauberstab! Rasch!", rief ich, als uns Handlanger der Schneekönigin mit diversen Fluchzaubern attackierten. Ihrem Gebrabbel nach zu urteilen benutzten sie Zauberformeln, was für Zeldarianer typisch war. Pauline schrie auf, als ein Fluchzauber ihren Oberarm streifte und einen tiefen, roten Schnitt hinterließ. Mein Magen drehte sich um; Paulines Arm verfärbte sich grau und sie konnte ihn nicht mehr bewegen. Es schien, als wäre er aus Stein. "Nein, nein!", brüllte ich, als sie vor Schreck das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Erwin packte sie, hob sie hoch und warf sie wie einen Sack Mehl über seine breiten Schultern. Wir rannten weiter, der Labyrinthgasse entgegen, die ihrem Namen alle Ehre machte. Shamandra kramte in der Seitentasche ihres schäbigen Faltenrocks herum und zog dann eine kleine, dunkelblaue Kugel heraus. "Was ist das?", rief ich, da hatte sie die Kugel unseren Verfolgern bereits vor die Füße geschmissen und es knallte augenblicklich so laut, dass ich fürchtete, die Rothüte hätten einen Explosionszauber auf uns geschleudert; aber dem war nicht so. Shamandras Kugel war aufgebrochen und gab einen stinkenden, gelblichen Rauch frei, der die Rothüte zum Husten brachte und ihre Sicht verschleierte. "Schwefelkugel", keuchte Shamandra, als wir die kreuz und quer verlaufenen Sträßchen weitereilten, "aus einem Scherzartikelladen in Baldur!" Ich grinste breit und wir kamen an eine Weggabelung. "Links, links!", rief Shamandra. "Zum Zeltlager meiner Familie! Dort können wir uns verstecken!" Wir liefen so schnell uns unsere Füße trugen und erreichten schließlich das Zeltlager. "Was ist denn los?", rief eine magere Frau aufgeregt, die dieselben dunklen Locken wie Shamandra hatte und große, gold schimmernde Ohrringe trug, "wo warst du, Shamandra?" - "Ich erkläre dir alles später, Ma! Schnell, lass mich und meine Freunde ins Zelt, um uns zu verstecken!"

      Wir hörten, wie die Rothüte ins Lager drangen und Shamandras Gefährten nach uns ausfragten. Pauline lag mit ihrem Kopf in meinen Schoß gebettet und presste die Lippen aufeinander, um nicht vor Schmerzen, die ihr der Arm bereitete, aufzuschreien. "Hier ist niemand entlang gekommen", lauschten wir dem Dialog zwischen den Zauberern und Shamandras Mutter, "und ich würde doch wohl meine eigene Tochter erkennen, wenn sie an mir vorbeiliefe. Was habt Ihr mit ihr gemacht? Wieso seid Ihr hinter ihr her?" - "Die Fragen stellen wir", blaffte der Zauberer, "und wenn du nicht hören willst, wirst du deiner Tochter im Kerker gleich Gesellschaft leisten." Ihre Schatten tanzten auf der Zeltwand auf und ab. Ich tauschte mit Erwin angespannt die Blicke aus. Pauline schien das Bewusstsein verloren zu haben. Endlich ließen die Rothüte von den Zigeunern ab und verschwanden. Erleichtert atmete Shamandra auf. "Zum Glück!" Sie stürmte nach draußen. "Danke, Ma!" - "Du bist mir einiges an Erklärungen schuldig, Teufelslocke!" - "Später, Ma, zuerst brauchen wir Hilfe. Jemand wurde von einem Fluchzauber getroffen. Wir brauchen Medizin. Oder einen Zauberstab. Aber ich schätze, so etwas besitzen wir nicht." - "Zauberstab?", wiederholte Shamandras Mutter verwirrt, reichte uns aber Arznei ins Zelt. "Das ist eine Salbe aus Silberhirschfett", erklärte sie, "die müsste helfen, den Schmerz zu mildern." - "Danke", sagte ich und rieb Paulines Arm ein, der immer noch gräulich glänzte. Die Wunde selbst war blutrot und eitrig. "Was machen wir denn jetzt?", fragte Yuri besorgt in die Runde. "Ich meine, wir müssen den Fluch aufheben…" - "Alles zu seiner Zeit, Yuri", sagte ich, bemüht, ruhiger zu wirken, als ich war, "Erwin und ich brauchen dringend Zauberstäbe, damit wir uns verteidigen und den Fluch rückgängig machen können." - "Zauberer also", stellte Shamandras Mutter wenig erfreut fest. "Sie sind Verbündete Balthaszars", erklärte Shamandra zugleich. "Nun gut", erwiderte ihre Mutter, wirkte aber immer noch etwas misstrauisch. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit kurzen, rabenschwarzen Locken steckte den Kopf ins Zelt herein. "Was geht da vor sich, Lundira? Wer sind die Fremden, und was wollten die Rothüte hier?" - "Keine Aufregung, Nando. Die Fremden sind uns gut gesinnt, sagt Shamandra, und sie sind mit ihr gemeinsam aus dem Gefängnis entflohen." - "Das war mir klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich unsere Tochter wieder beim Stehlen erwischen lässt", sagte der Mann namens Nando genervt. "Was war es denn diesmal, Teufelslocke?" Shamandra seufzte tief. "Den neuen Ring der Königin." Lundira schlug sich die Hand vor den Mund. "Shamandra…!" - "Was denn? Sie wollte einen neuen haben, weil ihr der alte anscheinend nicht gut genug ist, und in Abeytu wollte sie ihn anfertigen lassen, da hab ich mir gedacht, den braucht sie ja gar nicht, sie hat ja schon einen, und wir könnten ihn für ein Vermögen verkaufen..." - "Dafür hättest du an den Galgen kommen können!", rief Nando entrüstet. "Ich weiß, Pa", sagte Shamandra leise. "Du musst vorsichtiger sein! Bei allen Göttern, was ist bei der Geburt dieses Kindes bloß falsch gelaufen?" Er verschwand wieder nach draußen. Pauline gab einen leisen Klagelaut von sich. Dann öffnete sie schließlich die Augen.

      Kapitel 12 - PAULINES GEHEIMNIS

       Bild 177219 - Dieses Bild ist aus diesem Werk. PAULINE.

      Das erste, das ich sah, als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war das schmale, lange Gesicht von Mendrick. Er musterte mich sorgenvoll. "Wie fühlst du dich?", fragte er. Ich setzte mich langsam auf. Ein bisschen drehte sich noch alles. "Es geht schon", sagte ich. In diesem Moment durchfuhr ein stechender Schmerz meinen rechten Arm und ich ächzte auf. Erst jetzt riskierte ich einen Blick auf die Stelle, wo mich der Fluchzauber gestreift hatte. Die Haut rund um die Wunde herum wirkte abgestorben und grau. Die Wunde selbst war purpurrot und brannte entsetzlich. "Wo sind wir eigentlich?", brachte ich hervor. "Im Zigeunerlager", sagte die dunkelhaarige, zierliche Frau, die bei uns saß. "Ich bin Lundira, Shamandras Mutter." Sie wandte sich an Erwin und Mendrick. "Ihr solltet schleunigst zusehen, dass ihr irgendwo Zauberstäbe ergattert. Die Silberhirschfettsalbe hilft nur vorübergehend." - "Es gibt einen Zauberstabladen am Fuße des Wollhügels, so weit ich weiß", meinte Shamandra, "vielleicht findet ihr dort etwas Passendes." - "In unserem jetzigen Aufzug können wir allerdings nirgends hingehen", warf Erwin ein, "man würde uns womöglich erkennen." - "Zieht doch Kleider von uns an", schlug Lundira vor. So geschah es auch. Mendrick und Erwin sahen in den bunten Zigeunerklamotten wirklich fremd und ungewöhnlich aus. Erwin hatte man seinen Schnauzbart abrasiert, was ihn jünger wirken ließ. Die Schmerzen in meinem Arm hatten nachgelassen, bewegen konnte ich ihn aber immer noch nicht. "Lasst uns aufbrechen", sagte Mendrick, "je früher wir an Zauberstäbe kommen, desto besser. Die Zauberei im Kerker war mir nicht ganz geheuer." Ich sagte nichts. Shamandra begleitete Erwin und Mendrick, während Yuri im Lager blieb. Lundira brachte uns dicke Decken aus Gänsedaunen, denn es war kälter geworden. Schnee war am heutigen Tag aber noch nicht gefallen. "Wo übernachtest du mit deinem Mann und Shamandra, wenn wir euer Zelt haben?", fragte Yuri. "Keine Sorge", antwortete Lundira, "wir schlafen einfach bei meinem Bruder und seiner Frau im Zelt, das ist in Ordnung so. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch." Sie ließ uns allein im Zelt zurück. Yuri trug noch etwas Salbe auf meinen verwundeten Arm auf und schien dabei jeden Blickkontakt mit mir zu vermeiden. Ich hatte das Gefühl, dass ihm irgendetwas auf dem Herzen lag. "Bedrückt dich etwas, Yuri?", wollte ich wissen. Die Salbe kühlte meine brennende Wunde. "Um ehrlich zu sein, gibt es da tatsächlich was, worüber ich die ganze Zeit nachgedacht habe", erwiderte Yuri. "Und das wäre?", fragte ich. "Du", sagte er, "ich habe über dich nachgedacht." - "Über mich?" - "Ja." Jetzt sahen mich seine türkisgrünen, mandelförmigen Augen direkt an. "Du warst das im Kerker", sagte er schließlich. Mein Gesicht wurde heiß. "Was meinst du? Ich weiß nicht, wovon du sprichst." - "Nicht Mendrick hat die Gitterstäbe des Fensters zum Bersten gebracht. Du bist das gewesen." - "Du redest Unsinn! Ich bin ja keine Zauberin, Yuri…" - "Nein. Eine Hexe." Mein Herz hörte für einen kurzen Augenblick auf zu schlagen. "Nein", beteuerte ich dann hastig, "das bin ich nicht." - "Ich weiß aber, dass du eine bist, Pauline." Meine Hände wurden schwitzig, so angespannt war ich. "Ich habe gesehen, dass du es warst, die den Zauber vollbracht hat", sagte Yuri ruhig, "es war deine magische Energie, die übergesprungen ist. Nicht Mendricks." - "Woher willst du das wissen?" - "Ich sah es in deinen Augen, Pauline. Augen lügen nicht." Ich wandte mich ab. "Das ist doch Unsinn." - "Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass ich unrecht habe. Dann werde ich nie wieder ein Wort darüber verlieren." Ich schüttelte nur den Kopf. "Mach schon, Pauline", sagte Yuri, "du würdest mich doch nicht anlügen, nicht wahr?" Jetzt sah ich ihn an. "Nein", sagte ich. "Also", antwortete er, "ich denke, dass du eine Hexe bist.