Selena Mayfire

Yuri


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Stimme aus dem gepolsterten Stuhl, "du hast heute lange auf dich warten lassen." - "Ich wurde aufgehalten, mein Freund." - "Von wem?" Mendrick, der neben mir stand, atmete tief durch. Erwin nickte ihm ermutigend zu. "Von mir", sagte Mendrick bemüht ruhig. Balthaszar blickte über die rechte Schulter zu uns her. "Und wer seid Ihr, junger Geselle, wenn ich fragen darf? Kommt näher ins Licht, ich kann Euer Gesicht nicht erkennen." Mendrick trat einen Schritt näher. Balthaszars ockerfarbene Augen weiteten sich. Ihm glitt der Zauberstab aus der Hand. "Mendrick", stieß er hervor. Mendrick stiegen die Tränen in die Augen. Mir auch. "Hallo, Vater." Balthaszar stolperte fast über den Stuhl, als er ruckartig aufstand und auf Mendrick zustürzte. "Mein Sohn! Ich kann es nicht glauben, dass du tatsächlich gekommen bist!" Sie warfen sich einander in die Arme. Mir gab es einen Stich. Plötzlich sah ich nicht Mendrick und Balthaszar vor mir, sondern mich und meinen Vater Tristan. Wut, Trauer und Enttäuschung überkamen mich. Ich wandte mich um und lief aus dem Zimmer hinaus.

      Niemand schien es bemerkt zu haben.

      Ich ließ mich auf den kalten Steinboden des Gangs sinken, lehnte meinen Rücken an der Wand an, stützte mein Gesicht in meine Hände und weinte. Tristan fehlte mir. Wenn ich doch nur wüsste, ob es ihm gut ging! Mehr wollte ich ja gar nicht. Nur die Gewissheit, dass es ihm gut ging. Etwas winselte und ich sah auf und blickte in Chittos treuherziges Gesicht. "Du bist ein braver Junge", sagte ich leise und vergrub meine Stirn in seinem gescheckten Fell. "Pauline, alles in Ordnung?", fragte jemand. Ich hob abermals den Blick. Yuri stand vor mir. Ich schlug die Augen nieder. "Es ist alles gut, Yuri, keine Sorge." - "Du siehst aber nicht so aus, als ob alles gut wäre. Du weinst ja." Chitto bleckte die Zähne und knurrte ihn an, als Yuri sich zu uns hinunter kniete. "Schon gut, Chitto, ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst", sagte Yuri. Ich lächelte schwach. "Liegt vermutlich daran, dass du dich ab und zu in einen großen, weißen Wolf verwandelst." - "Weich mir nicht aus, Pauline", sagte Yuri, "was ist los? Wieso bist du so plötzlich aus dem Zimmer geeilt?" Ich seufzte tief und wischte mir die Tränen von den Wangen. "Es ist meines Vaters wegen", sagte ich schließlich mit gedämpfter Stimme. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu reden. "Weißt du, als ich Mendrick und Balthaszar da so sah… Vater und Sohn, wieder vereint… da… da wurde ich plötzlich traurig." Die Stimme versagte mir und ich schwieg. Ich war wütend. Es erschien mir so ungerecht. Natürlich freute ich mich für Mendrick, aber ich fühlte mich vom Schicksal auf eine gewisse Art und Weise benachteiligt. Während Mendrick und Balthaszar einander wieder in die Arme schließen durften wusste ich nicht einmal, ob mein Vater überhaupt noch am Leben war. Vielleicht würde ich ihn nie wieder sehen. Ein Schluchzen ließ meinen Körper erbeben. Hör auf, Pauline, sagte ich in Gedanken zu mir selbst, hör auf, zu weinen. Ich konnte nicht aufhören. Chitto bettete seinen Kopf in meinen Schoß, ohne Yuri dabei aus den Augen zu lassen. "Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte Yuri nach einigen schweigsamen Augenblicken, "ich habe meine Familie auch verloren." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also breitete ich einfach meine Arme aus und nach kurzem Innehalten nahm Yuri mein Angebot einer Umarmung an. In diesem Augenblick kamen Kimama, Erwin und Landogar aus Balthaszars Zimmer. Kimama gab ein erleichtertes "Ach!" von sich, als sie uns beide sah. Sie kniete sich zu uns. "Ihr zwei Schätze", sagte sie gerührt. Ich sah, dass Landogar - neugierig, wie er war - versuchte, durch das Schlüsselloch zurück in Balthaszars Zimmer zu spähen um etwas von ihrer Unterhaltung mitzubekommen; das sah so ulkig aus, dass es mir sogar ein leises Lachen entlocken konnte.

      Kapitel 9 - EIN FALSCHES WORT

       MENDRICK.

      Ich war überwältigt.

      Ich wusste ja gar nicht, was ich zu meinem Vater sagen sollte. Umso erleichterter war ich, als er den ersten Schritt machte und zu reden anfing. "Oh, mein Junge", seufzte er, nachdem die anderen den Raum verlassen hatten, "wie lange ist’s her…? Fünf Jahre…? In der Tat, fünf Jahre… du bist so groß geworden… ich meine, du warst schon immer groß… aber jetzt, jetzt bist du... na, sehr groß." Er hatte Tränen in den Augen. "Ach, Mendrick, ich möchte... ich würde dir gerne so viel sagen, dir so viel erzählen, aber ich... ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll." - "Dann sind wir ja schon zwei", meinte ich verlegen und grinste. Er nahm mich an den Schultern und zog mich noch einmal in eine Umarmung. "Mein Junge", murmelte er immer wieder, "mein lieber Junge." Ich spürte wieder einen Kloß im Hals und presste Lippen aufeinander, um die abermals aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Balthaszar ließ mich los und sah mir tief in die Augen. "Geht es dir gut, Mendrick, ja?" - "Ja, ich bin wohlauf. Die Fischerleute sind wie eine Familie für mich, mir fehlte es all die Jahre an nichts." Jetzt sah er ein wenig wehmütig aus. "Das... nun, das freut mich, zu hören, Mendrick." - "Aber natürlich hast du mir gefehlt", fügte ich ebenso wehmütig hinzu, "und ich habe sehr oft an dich gedacht." Gedacht war wohl untertrieben. Ich hatte sogar häufig mit dem Gedanken gespielt, wieder zu ihm nach Abeytu zurückzukehren. Aber ich konnte und wollte Pauline und Kimama nicht verlassen. Sie hatten meine Hilfe und meinen Schutz bitter nötig. Und trotzdem. Gerne hätte ich meinen Vater in den vergangenen Jahren an meiner Seite gehabt. Aber er hatte sein Leben und ich das meine. So ähnlich wir uns in gewissen Dingen auch schienen, so unterschiedlich gingen wir mit manchen Situationen um. Während mein Vater den Verlust meiner Mutter mit Arbeit und Zaubereistudium abzutun versuchte, hatte ich damals beschlossen, die Lösung meines Problems im Außen zu suchen. Ich musste einfach weg. Weg aus Abeytu, weg von meiner Kindheit, weg von der Erinnerung an meine Mutter und vor allem auch weg von meinem Vater, der mich mit seiner Trauer damals fast erdrückt hatte. Andererseits konnte man ihm das ja auch nicht verübeln. "Du ahnst nicht, wie oft ich an dich gedacht habe, Mendrick!", riss mich seine Stimme aus den Gedanken, "Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, als du fortgegangen bist." - "Ja, ich weiß." - "Allerdings hätte ich mich erst gar nicht um dich sorgen müssen... immerhin bist du mein Sohn, und aus mir ist schließlich doch auch etwas Anständiges geworden. Zumindest so gut wie!" Wir lachten. "Du hast dich zum Positiven verändert, Vater", stellte ich lächelnd fest, "du siehst eindeutig besser aus als früher... so frisch und befreit!" Er winkte verlegen ab. "Hör doch auf! Ich sehe aus wie ein Straßenköter." Er rückte seinen Umhang zurecht. "Nun, mein Sohn, was führt dich eigentlich her? Du hast nur geschrieben, es sei aus gutem Grund. Ein verdammt guter Grund, hoffe ich! Du solltest dich nicht unnötig in Gefahr bringen. Hat dich auch niemand verfolgt? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir meinetwegen etwas zustieße, Mendrick, das weißt du…" - "Es ist in Ordnung, Vater. Ich bin hier, weil es wirklich wichtig ist." Ich holte tief Luft. "Vater, der Auserwählte wurde gefunden." Balthaszar fielen beinah die stechenden Augen aus dem Kopf. "Der Auserwählte? Der legendäre Wolfskrieger aus Nagi Tankas Vision?" Ich nickte. "Genau der." - "Unfassbar! Wie konnte man ihn aus dem Schloss befreien?" - "Gar nicht. Er muss wohl selbst ausgebrochen sein, obwohl er sich nicht mehr richtig daran erinnern kann. Meine Freundin Pauline und ich haben ihn jedenfalls im Wald gefunden, ganz verstört und verschreckt..." - "Unglaublich! Er muss ein sehr starker Transformationskünstler sein, wenn er aus dem Schloss fliehen konnte!" - "Nun, ja, er ist ein Morph. Allerdings hat er seine Kräfte noch so gut wie gar nicht unter Kontrolle. Er kann weder bestimmen noch abschätzen wann, wie und ob er transformiert. Deswegen mussten wir das Dorf verlassen. Solange er seine Kraft nicht kontrollieren kann, ist er den Modoroks und der Schneekönigin ausgeliefert. Es ist für ihn im Schmetterlingswald zu gefährlich." Vater musste sich setzen. "Solange er seine Kraft nicht kontrollieren kann", wiederholte er dumpf, "ist es für ihn überall zu gefährlich." Er hob den Zauberstab auf, der ihm vorhin aus der Hand geglitten war, und drehte ihn nachdenklich zwischen seinen Fingern hin und her. "Deshalb kamen wir zu dir", sagte ich, "ich hatte gehofft, du könntest uns für eine Weile Schutz bieten." - "Für eine Weile, ja", erwiderte Balthaszar, "aber lange könnt ihr nicht bleiben. Die Modoroks sind euch gewiss auf den Fersen und die Spione der Schneekönigin vermutlich auch. Das ist nicht nur für euch eine Gefahr, ich kann und will außerdem nicht riskieren, dass die Tarnung meines Ordens auffliegt. So oder so seid ihr hier auf längere Sicht nicht sicher genug. Sie werden euch früher oder später aufspüren. Die Schneekönigin wird den Auserwählten um keinen Preis hier draußen frei herumlaufen lassen. Sie wird alles Nötige daran setzen, ihn wieder einzufangen, bevor er seine Kräfte zu kontrollieren erlernt." - "Ich weiß", antwortete ich niedergeschlagen, "was sollen wir denn tun, Vater?"