Selena Mayfire

Yuri


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Wo warst du die vergangenen Jahre, wo dich unser Volk gebraucht hätte?" - "Schluss mit den Fragen", ging Erwin dazwischen und legte Yuri den Arm um die Schultern, "Yuri muss kein offenes Buch für alles und jeden sein." Shamandra rümpfte die Nase. "Fein. Also, wenn du und dein Zaubererfreund uns also nicht hier heraus bringen könnt", sagte sie zu ihm, "was ist mit ihr?" Sie deutete auf mich. "Ich bin keine Hexe", sagte ich prompt. "Siehst auch nicht so aus wie eine", antwortete Shamandra, "aber hast du denn keine außergewöhnlichen Fähigkeiten, so wie die anderen?" - "Hast du welche?", gab ich zurück. "Nein, aber das macht nichts", antwortete sie froh, "der Auserwählte ist ja unter uns. Er könnte sich in einen Wolf verwandeln und das Gitter durchbrechen. Er besitzt doch die Gabe der Transformation, nicht wahr?" Yuri wandte sich ab und kauerte sich deprimiert in die Ecke zurück. "Also nicht", deutete Shamandra seine Reaktion. "Doch", sagte Mendrick, "aber es dauert angeblich noch ein Jahr, bis seine Kräfte ausgereift und gut kontrollierbar sind." - "Na prima", seufzte Shamandra, "da befindet man sich mit einem vermeintlichen Held in einer Gefängniszelle und dann bekommt man gleich die nächste Enttäuschung serviert…" - "Die redet wie du, Mendrick", bemerkte ich spitz. Mendrick blies die Backen auf, sagte aber nichts. "Wir finden schon einen Weg hier heraus", meldete sich Erwin. "Ja", brummte Shamandra, "morgen Früh, zum Richtplatz." Mein Magen hob sich bei der Vorstellung meines Halses in einer Schlinge. Nervös ging ich auf und ab wie ein Tiger in einem Käfig. "Lass das doch, Pauline", sagte Mendrick, "du regst Yuri womöglich noch mehr auf." - "Ist schon in Ordnung", sagte Yuri zaghaft und begann wieder, sein Wiegenlied zu summen. "Ich werde verrückt hier", schnappte Shamandra. "Ruhe jetzt!", mahnte Erwin. "Ich habe eine Idee", verkündete ich, allerdings nicht ganz von mir selbst überzeugt, "Mendrick, du als Gandulf'scher Zauberer müsstest doch in der Lage dazu sein, nur durch deine Gedanken einen Zauber auslösen zu können…" - "Dazu bin ich noch nicht fortgeschritten genug", antwortete Mendrick trübe, "aber was ist mit dir, Erwin? Gedankenzauber ist etwas für Zauberer der Muster - oder Meisterklasse. Man denke an die Mauer, hinter der das Versteck meines Vaters liegt. Du hast damit einen perfekten Illusionszauber geschaffen. Du musst also ein Musterzauberer sein." Alle wandten sich gespannt zu Erwin um. Dieser zog hilflos die Schultern hoch. Schließlich seufzte er tief und sagte: "Ich verstehe nichts von Gedankenzauber." - "Aber als Gandulf'scher Zauberer..." - "Ich bin kein Gandulf'scher Zauberer, Mendrick. Ich habe nicht den blassesten Schimmer davon." Mendrick riss seine haselnussbraunen Augen auf. "Wie bitte?" Er war nicht weniger überrascht als Yuri und ich. "Es ist wahr", erwiderte Erwin kleinlaut, "ich habe das Gandulf'sche Lehrbuch zwar gelesen, aber nie etwas davon angewendet. Wisst ihr, ich hätte es nicht gekonnt, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich habe meine Zauberkraft im Laufe der Jahre einer anderen Kunst verschrieben." - "Das kann ich mir nicht vorstellen", sagte Mendrick. Erwin jedoch entgegnete: "Ich bin Zeldarianer."

      Kapitel 11 - TEUFELSLOCKE

       MENDRICK.

      Mir fehlten die Worte. "Erwin, du…? Zeldarianer…? Mein Vater… ich meine… was hat er dazu gesagt?" - "Balthaszar weiß nichts davon", sagte Erwin bedrückt, "dadurch, dass ich das Gandulf'sche Lehrbuch aber genauestens studiert, und Zauberer, die diese Kunst anwenden, exakt beobachtet habe, konnte ich lernen, ihre Bewegungen und ihr Auftreten perfekt nachzuahmen. Durch meine Adern jedoch fließt das Blut eines Zeldarianers." - "Wieso hast du denn nicht umgelernt, wenn dich die Kunst der Gandulf'schen Zauberlehre doch viel mehr interessiert hat als alles andere?", fragte Pauline. "Das ist nicht möglich", sagte ich, "hat sich ein reinblütiger Zauberer einmal einer Zauberkunst verschrieben, so wird er dieser auf ewig treu bleiben. Es ist ein Schwur, die nicht aufgehoben werden kann." Zigeunermädchen Shamandra räusperte sich aus dem Hintergrund. "Was ist denn so tragisch daran, dass der Typ ein Zeldarianer ist? Ist doch alles dasselbe." - "Die Art seiner Zauberkunst tut wenig zur Sache, solange er sie klug gebraucht", gab ich zu, "tragisch ist, dass er uns und vor allem meinen Vater so belogen hat und sich für jemanden ausgab, der er nie war." - "Es tut mir Leid", beteuerte Erwin, "aber was hätte ich denn tun sollen, Mendrick? Dein Vater hätte mich niemals in den Orden aufgenommen, hätte er gewusst, dass ich nie zuvor einen Gandulf'schen Zauber angewendet habe. Du weißt, was dein Vater von der Zauberkunst Zeldars hält." Ich musste auflachen. "Mein Vater hätte sich nicht daran gestoßen, dass du Zeldarianer bist, wenn du ihn von Anfang an ehrlich unterstützt hättest! Er sah in dir einfach einen Gleichgesinnten! Einen teuren Freund. Es wäre ihm egal gewesen, welcher Zauberei du angehörst." - "Ich entschuldige mich für mein Verhalten. Es war nicht richtig. Aber ich hatte einfach Angst vor Balthaszars Reaktion." - "Das wäre also geklärt", unterbrach uns Shamandra, "können wir jetzt endlich zu unserem Fluchtplan zurückkehren?" - "Wenn Erwin uns nicht hier raus bringen kann", sagte Pauline, "dann musst du es tun, Mendrick." - "Hast du mir vorhin nicht zugehört?", blaffte ich sie an. "Ich kann noch keine großen Gedankenzauber vollbringen." - "Dann musst du einen normalen Explosionszauber anwenden, das geht doch." - "Ohne Zauberstab? Beeindruckender Plan." - "Höre doch erstmal zu! Dein Zauberstab tut ja nichts anderes als deine mentalen Impulse und deine Zauberkraft nach außen zu leiten, nicht wahr? Also brauchen wir einfach einen Zauberstabersatz – irgendetwas aus Holz, zum Beispiel Shamandras hölzerner Armreifen. Das Prinzip ist das gleiche." - "Klingt einleuchtend!", bemerkte Shamandra erfreut. "Es könnte wirklich funktionieren", stimmte Erwin zu. "Vorausgesetzt, Mendrick gibt sich ordentlich Mühe", sagte Pauline frech. "Wofür hältst du mich?", gab ich zurück und brannte darauf, es auszuprobieren. "Macht bloß keinen Lärm", meldete sich Yuri aus der Ecke, "sonst macht ihr noch die Wachen auf euch aufmerksam." - "Keine Sorge", sagte Pauline. "Ich darf doch?", fragte ich und deutete auf Shamandras Armreifen. Das Zigeunermädchen nickte, legte ihn ab und gab ihn mir mit den Worten: "Was immer uns hier raus bringt." Ich tastete den Reifen sorgsam ab, damit ich mich an die Form und die Größe des Gegenstands gewöhnen konnte und atmete dann ein paar Mal tief durch, um mich zu konzentrieren. "Leise jetzt", mahnte Pauline Shamandra, als diese den Mund öffnete, um meine Atemübung zu kommentieren. Nachdem mein Geist und mein Körper spürbar ruhiger geworden waren nahm ich den Armreifen fest in die rechte Hand, während ich mit meiner linken die Gitterstäbe des Kerkerfensters griff, um die Energie besser überleiten zu können. "Viel Erfolg, Junge", sagte Erwin. Ich schloss die Augen, damit ich mich zur Gänze auf die Magie einlassen konnte, und stellte mir die Situation so vor, wie ich sie gerne hätte: durch meinen Zauber würden die Gitterstäbe zuerst grünfarben zu glühen beginnen und anschließend in kleine Teile zerbersten. Ich sah in Gedanken den grün leuchtenden Funken, der in einen der Gitterstäbe überging, sah, wie der Funke nach und nach auf die anderen Stäbe überspringen würde, wie ein Lauffeuer; ich hatte den Geruch der sich zersetzenden Stäbe in der Nase und alles schien ganz klar und echt und ich erwartete, dass meine Fingerkuppen augenblicklich, wie beim Zaubern üblich, leicht zu brennen anfangen würden, aber nichts passierte. Ich schlug die Augen auf. Absolut nichts hatte sich gerührt. Shamandra schnaubte enttäuscht, ich gab nicht auf, versuchte es noch einmal. Ohne Erfolg. Es ging nicht, so sehr ich mich auch anstrengte. Ich war nicht stark genug. "Versuch du es, Erwin! Gibt es keine zeldarianische Spruchformel, die den Zauber auslösen könnte?", bat ich und bedauerte, dass ich meine Gandulf'sche Ausbildung nicht wenigstens bis zum Kapitel Musterzauberer zu Ende gebracht hatte. "Das hat wohl keinen Sinn", meinte Erwin niedergeschlagen, "ich bräuchte einen richtigen Zauberstab. Solange wir keinen zur Verfügung haben wird das hier ohnehin nichts." - "Mumpitz", sagte Pauline und stellte sich dicht neben mich, "komm schon, Mendrick, du schaffst das!" Sie legte aufmunternd ihre Hand auf die meine, in der ich Shamandras hölzernen Armreifen hielt. Gestärkt durch ihre Unterstützung versuchte ich es noch einmal. Ich senkte die Lider abermals, um die Vorstellung vor meinem inneren Auge so deutlich wie nur möglich zu sehen, und als Pauline meine Hand losließ und der Klang von zerberstenden Gitterstäben in meinen Ohren dröhnte, riss ich die Augen auf. "Schnell, raus hier!", zischte Erwin, als augenblicklich die schnellen Schritte der Rothüte ertönten. Ich ließ Shamandras Armreifen fallen, um skeptisch meine Hände zu begutachten. Sie waren ganz kalt. Bis jetzt hatte ich immer deutlich gespürt, wenn ein magischer Impuls durch meinen Körper gezuckt war; dieses Mal nicht. "Mendrick, worauf wartest du?", drängte Pauline, die bereits mit Erwins Hilfe durch das Kerkerfenster nach draußen geklettert war. "Ich hab nichts gespürt", stieß ich verwirrt hervor, "gar nichts…" - "Darüber kannst du dir später den Kopf zerbrechen! Mach voran!", schnappte Shamandra und stieß mich in Richtung Fenster. Erwin half zuerst