Selena Mayfire

Yuri


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senkte ich den Blick. Ich hatte es gesagt. Ich hatte es tatsächlich gesagt. Einen Moment lang schwiegen wir. Dann fragte Yuri: "Wieso hast du das nie erzählt?" - "Weil ich nie eine Hexe sein wollte." Yuri legte den Kopf schief. "Warum nicht? Du müsstest stolz auf deine Gabe sein." Meine Muskeln spannten sich an. "Nein", sagte ich entschieden, "ich will nicht stolz sein! Wozu denn stolz darauf sein, dass ich so bin wie sie?" Yuri zog die Augenbrauen hoch. "Wie wer?" Ich holte tief Luft. "Die Schneekönigin." Yuri schüttelte den Kopf. "Du bist nicht wie sie." - "Doch, das bin ich! Ich trage dieselben Hexenkräfte in mir! Es gibt Kräuterhexen, Lufthexen, Berghexen… aber ich, ich bin eine Eishexe, Yuri, verstehst du? Ich bin ebenso eine Kalte Hexe wie sie es ist." - "Du bist nicht wie sie", wiederholte Yuri sanft, "du gebrauchst deine Kraft im Gegensatz zu ihr nicht, um Böses zu tun." Mir schossen die Tränen in die Augen. "Trotzdem wollte ich nie eine Hexe sein! Ich habe mir geschworen, diese Kräfte nie einzusetzen!" - "Du solltest nicht verleugnen, was du bist. Wer du bist." Ich presste die Lippen aufeinander und drehte Yuri den Rücken zu. Stille. "Weiß Mendrick davon?", fragte Yuri dann leise. "Nein", erwiderte ich dumpf, "du weißt doch, wie schlecht Mendrick über Hexen spricht und was er von ihnen hält." - "Aber wieso verbrachte er dann so viele, lange Abende bei Kräuterhexe Pau?" - "Yuri, das war einzig und allein wegen der Waldnymphe." - "Was ist mit Kimama? Weiß sie von deinen Kräften?" - "Nein. Niemand weiß davon. Außer dir." Ich seufzte tief. "Ich glaube, ich habe die Hexenkraft von meiner Mutter Orenda geerbt. Sie starb bei meiner Geburt und gab sie an mich weiter. Das weiß aber nur ich. Nie hat jemand mit so etwas gerechnet, denn meine Mutter hat ihre Kraft nie einsetzen können, weil sie all die Zeit ihres Lebens an einer schlimmen Krankheit litt. Es war eine Art Knochenkrankheit... sie besaß Knochen wie aus Glas. Bei jeder zu schnellen oder zu großen Bewegung, bei jedem Stolpern, jedem Laufen, war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie sich dabei etwas brach. Also musste sie äußerst vorsichtig sein, durfte sich kaum bewegen und verließ nur selten die Hütte. Aber sie trug wohl magische Energie in sich und hat sie bei meiner Geburt auf mich übertragen. Zumindest vermute ich das. Woher sonst hätte ich diese Kräfte bekommen sollen?" Ich seufzte noch einmal. "Na, jedenfalls habe ich irgendwann bemerkt, dass ich anders war als die anderen, schon als Kind. Ich wollte aber nicht anders sein, ich wollte normal sein. Also fing ich an, meine Kräfte zu verleugnen und zu unterdrücken, bis ich sie irgendwann überhaupt nicht mehr spüren und einsetzen konnte. Aber dann... kamst du." Ich sah Yuri nicht an, spürte aber deutlich in meinem Rücken, dass er mich jetzt anstarrte. "Wie meinst du das?", fragte er. "Nun", sagte ich leise, "irgendwie musste man dich ja aus dem Königsschloss rausholen..." - "Du bist also der Grund, warum ich entkommen konnte… du hast mich befreit…" Ich wagte nicht, ihn anzusehen. "Ja", erwiderte ich kleinlaut. "Wie?", fragte er, mit ebenso gedämpfter Stimme. "Kannst du dich denn wirklich gar nicht mehr daran erinnern?", antwortete ich. Yuri zuckte mit den Schultern. "Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass einer der Wachen Alarm geschlagen hat, und dann hat mir irgendjemand mit einem Knüppel auf den Hinterkopf geschlagen - vermutlich, damit ich während des Aufruhrs nicht entwischen konnte. Ich wurde ohnmächtig und wachte in deinen Armen wieder auf. Das ist alles, was ich noch weiß." Er pausierte kurz. Dann sah er mich an. "Wie konntest du mich befreien, Pauline?" - "Ich... ich weiß nicht... ich meine, ich wusste ja nicht, ob meine Kräfte überhaupt noch funktionieren würden. Aber der Gedanke an dich… der Gedanke daran, dass hinter diesen weißen, kalten Mauern aus Eis die einzige Hoffnung unseres Volkes liegt… die einzige Möglichkeit, Sternland wieder zu einem Ort voller Frieden und Herzlichkeit zu machen... dieser Gedanke hat mich dazu gebracht, meine Kräfte hervorzurufen und die Kerkermauer zu durchbrechen. Zuerst hab ich einfach mit meinen Fäusten dagegen getrommelt. Das hat natürlich nichts gebracht. Also versuchte ich es mit einem Eisenstab, den Mendrick und ich zuvor einem Modorok-Soldaten abgenommen hatten. Das half auch nichts. Ich wollte aufgeben und fing aus Enttäuschung, aus Trauer und unbändiger Wut zu weinen an. Verzweifelt presste ich meine Hände und meine Stirn an die Mauer… und plötzlich war der Gedanke an dich ganz klar… und von da an ging alles ganz schnell. Ich weiß nur noch, dass es überall in meinem Körper gekribbelt hat… zuerst ganz kalt, und dann heiß… als wäre eine Welle durch jeden einzelnen meiner Muskeln gerauscht. Und plötzlich stand ich vor der aufgebrochenen Mauer." Wieder Schweigen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich zögerte kurz und wandte mich dann doch zu Yuri um. Seine Augen waren glasig. "Alles in Ordnung?", fragte ich vorsichtig. Er starrte ins Leere. "Niemand sonst hätte mich befreien können", sagte er, "nur eine Hexe, die dieselben Kräfte in sich trägt wie die Schneekönigin ist anscheinend dazu fähig, ihre Schlossmauern zu durchbrechen... ja, jetzt ergibt auch alles einen Sinn! Die Wachen sprachen von dem Bann, den die Schneekönigin über das Schloss gelegt hat… damit auch niemand ungewollt hinein oder hinaus kommt. Sie hat wohl vermutet, sie wäre die einzige Eishexe im Land…" Er erwachte aus seiner Starre und warf sich um meinen Hals. Ein Stich fuhr durch meinen Arm und ich biss die Zähne zusammen. "Du hast mich gerettet, Pauline… du bist dazu bestimmt worden, den Auserwählten zu befreien… deswegen musste deine Mutter sterben… damit sie ihre Kräfte an dich weitergeben konnte… denn nur durch ihren Tod war es möglich, die magische Energie aus ihrem kranken Körper in deinen gesunden übergehen zu lassen…" Tränen liefen über meine Wangen. Ich spürte Yuris Herzschlag und seine Finger, die sich in meinen Nacken krallten. "Ja", flüsterte ich, "vielleicht war es so bestimmt." Yuri ließ mich los und blickte mich mit großen Augen an. "Natürlich war es so bestimmt! So musste es sein, so und nicht anders! Und gerade deshalb solltest du deine Kräfte als Gabe ansehen und nicht als Fluch!" Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und erwiderte: "Bitte behalte mein Geheimnis trotzdem für dich." - "Pauline, was redest du da? Du musst Mendrick davon erzählen! Stell dir vor, wie gezielt ihr gegen die feindlichen Truppen vorgehen könntet, wenn ihr mit vereinten Kräften gegen sie kämpft!" - "Yuri, bitte, ich muss darüber nachdenken!" Ich senkte die Stimme. Mein Hals war staubtrocken. "Lass mich erst noch darüber nachdenken." Yuri nickte. "In Ordnung." Ich war geschwächt. Mein Arm hatte wieder zu schmerzen begonnen. Ich ließ mich auf die Daunendecke nieder und schloss die Augen.

      Kapitel 13 - ALLES NEU

       MENDRICK.

      Ich war hundemüde. Seit wir Vaters Versteck verlassen hatten, waren wir zu fast keiner Gelegenheit gekommen, Schlaf zu finden. Ich nahm mir vor, dies nachzuholen, sobald wir ins Zigeunerlager zurückkehrten.

      Der Wollhügel sah nicht sehr besonders aus, im Gegenteil, er war ein stinknormaler Hügel. "Ich kenne ihn auch nur aus Erzählungen", meinte Shamandra, als sie meinen schrägen Blick bemerkte, "aber man sagt, vor der Machtübernahme der Schneekönigin, als es den Frühling noch gab, wucherte so viel üppiges, grünes Gras auf dem Hügel, dass es aus der Ferne so aussah, als sei er aus grüner Watte oder eben aus Wolle gemacht." - "In diesem Teil der Stadt war ich noch nie", sagte ich, "auch in meiner Kindheit nicht. Zumindest erinnere ich mich nicht daran." - "Ich bin auch noch nie hier gewesen", sagte Erwin, "ich war immer direkt im Zentrum Abeytus zugegen." - "Du bist also in Abeytu aufgewachsen und dann in den Schmetterlingswald ausgewandert?", fragte mich Shamandra, während wir den kleinen Einkaufsladen am Fuße des Hügels ansteuerten. Ich nickte. "Als ich achtzehn Jahre alt war, ja." - "Wieso hast du das gemacht? Gab es Probleme in deiner Familie?" - "Nun, ja, die gab es, aber deswegen bin ich nicht weggegangen, die liegen schon weiter zurück. Ich ging in den Schmetterlingswald, um die Leute dort zu unterstützen. Immerhin hatten die ja Hilfe bitter nötig, zumal das Königsschloss in unmittelbarer Nähe liegt." - "Das war sehr ehrenvoll von dir", sagte Shamandra. "Das macht ihn zu Balthaszars Sohn", sagte Erwin. Ich ließ es mir nicht anmerken, war aber stolz. Wir hatten den Laden erreicht. Es war ein kleines Häuschen aus wirr zusammengeleimten, roten Ziegelsteinen. "Scheint, als wäre der Maurer, der diese Steine zusammengeleimt hat, starker Schmogg-Raucher gewesen", kommentierte Erwin amüsiert, "wenn man zu viel von den Dingern inhaliert, bekommt man nämlich Schwindelanfälle. Glaubt mir, ich habe es leider schon selbst spüren müssen... ich habe es ausprobiert." Ich grinste. An der purpurnen Eingangstür hing ein Schild mit der Aufschrift: Rufus - Ramsch und Zauberstäbe. Wir betraten den Laden. Der schlaksige Mann hinter der Theke hob erfreut den Blick, als wir herein kamen. Er hatte kinnlanges, rot-grau meliertes Haar und eine runde, schwarze Brille auf die Knollnase geschoben. Die Ärmeln seines bunten Zaubererumhangs hatte er hochgekrempelt und umgestülpt. "Guten Nachmittag, die Herrschaften",