Selena Mayfire

Yuri


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Albenreich. Dort könntet ihr untertauchen, zumindest eure Dorfleute. Für Yuri müsst ihr eine Möglichkeit finden, wie er so rasch wie möglich lernen kann, seine Kräfte zu beherrschen." Ich blickte meinen Vater ratlos an. "Und wie sollen wir das anstellen?" Er wippte mit seinem rechten Fuß nervös auf und ab. Das hatte er immer schon getan, wenn er angestrengt nachdachte. "Es wäre nahe liegend, wenn ihr in die Lequoiawälder vordringt und einen Wolfskriegerstamm aufsucht. Die Eingeborenen wissen am Allermeisten über die Legende zu erzählen. Und nicht zuletzt ist Yuri einer von ihnen. Vielleicht findet er mit ihrer Hilfe heraus, wie er mit seiner Gabe richtig umgehen kann." - "Ich dachte, die Schneekönigin hätte alle Wolfskriegerstämme ausgerottet?" - "Manche fanden einen Weg, zu entkommen, Mendrick. Nicht viele, aber immerhin einige. Niemand weiß, wo genau sie sich aufhalten. Aber ich hörte aus sicherer Quelle, dass ein paar von ihnen im Laufe der vergangenen Jahre wieder in ihre ehemaligen Heimat, die Lequoiawälder, zurückgekehrt sind. Natürlich sind ihre Lager gut versteckt, doch ich würde dir raten, nach ihnen zu suchen. Es ist die einzige Möglichkeit, wie Yuri etwas über seine Vergangenheit und seine Fähigkeiten in Erfahrung bringen kann." - "Nun, es wäre zumindest ein vorläufiger Plan und auf jeden Fall einen Versuch wert", sagte ich, eher zu mir selbst als zu Balthaszar. Mein Vater streckte die Hand nach mir aus und tätschelte meinen Kopf. Ich kam mir wieder vor wie der kleine Junge von früher. "Ich bin stolz auf dich, Mendrick", sagte Vater. Ich neigte mein Kinn zum Brustbein und antwortete: "Sei lieber nicht zu stolz auf mich. Noch ist nicht viel erreicht." - "Du hast den Auserwählten gefunden und fühlst dich nun dazu berufen, ihm zu helfen. Das ist deine Bestimmung. Ich habe allen Grund, stolz auf dich zu sein. Du hättest diese Aufgabe nicht übernehmen müssen." - "Doch", erwiderte ich ernst, "um einer Welt des Friedens Willen." Mein Vater klopfte mir anerkennend auf die Schulter. "Du bist ein bemerkenswerter junger Mann geworden, Mendrick. Als Kind warst du so schreckhaft und zurückhaltend, aber jetzt bist du mutig und selbstbewusst. Nun, irgendetwas musst du ja von mir geerbt haben, abgesehen von der Zauberkraft und der Statur." Ich schmunzelte. "Nun denn", fügte Vater hinzu, "jetzt will ich den Auserwählten kennen lernen und das Mädchen, das dir half, ihn zu finden."

      Pauline und Yuri waren mit Kimama draußen am Gang. Erwin und Landogar mussten ins Zimmer nebenan zu unserem Klan gegangen sein. "Steht doch auf von dem kalten Boden", drängte Vater, "sonst holt ihr euch noch eine Erkältung." Ich musste lachen, denn: nein, Vater sah gewiss nicht so aus, als wäre er fürsorglich. Sie erhoben sich. "Das ist also Pauline", sagte ich, "und das hier ist Kimama, ihre Großmutter." - "Sehr erfreut", sagte Vater, während er einem nach dem anderen die Hand schüttelte. "Pauline, ja? Eine Freundin oder deine Freundin, Mendrick? Hübsch ist sie. Hoffentlich auch klug. Aber möglicherweise zu dünn um Kinder zu gebären." - "Vater, also... ich bitte dich!" Mir schoss die Schamesröte ins Gesicht. "Eine Freundin", warf Pauline amüsiert ein. Balthaszar zwinkerte ihr zu. "Ach", sagte er dann erstaunt, als er Yuri musterte, "und du bist wohl…?" - "Yuri, der besagte Wolfskrieger", stellte ich ihn vor. Mein Vater blickte etwas skeptisch drein. "Es ist mir eine Ehre, Yuri… obwohl ich gestehen muss, dass ich mir den Auserwählten irgendwie… anders vorgestellt habe. Irgendwie… tja… kräftiger." - "Ja", warf ich ein, "es stimmt, er ist etwas klein geraten für sein Alter und hat nicht sonderlich viel Appetit." - "Seid bitte unbesorgt", sagte Yuri in leicht genervtem Ton, "ich werde schon noch an Größe und Gewicht zulegen." - "Davon bin ich überzeugt", lachte Kimama. Chitto bellte, animiert durch Kimamas Lachen. Balthaszar verzog die Mundwinkel. "Der Hund sollte nicht zu laut sein", sagte er streng, "am Besten überhaupt nicht laut. Es wäre alles andere als erstrebenswert, dass das Versteck der Akandos auffliegt." - "Hörst du?", sagte Pauline zu Chitto und beugte sich zu ihm hinunter, um seinen Hals zu tätscheln. "Sei ein braver Junge!" Chitto legte fragend den Kopf schief, gab aber keinen Laut mehr von sich. "Vater meint, wir sollen bald wieder weg von hier", erklärte ich, "in Richtung Albenreich. Dort könnte jemand die Dorfleute vorerst unterbringen während wir in die Lequoiawälder weiterziehen, um mehr über die Legende und das Transformieren zu erfahren…" - "Verzeih, dass ich dich unterbreche, Mendrick", sagte Kimama, "aber wen genau meinst du mit wir?" Ich wunderte mich, dass sie das fragte. Für mich war es ganz klar. "Na, Pauline, Yuri und mich! Du könntest natürlich auch mitkommen, wenn es deine Gesundheit zulässt, aber ich denke, es sollte jemand bei den Dorfsleuten bleiben, der Ordnung schaffen kann und gut auf alle Acht gibt…" Ich verstummte, als ich merkte, dass Kimama ganz und gar nicht erfreut über die Erwähnung von Paulines Namen war. "Ich lasse euch das lieber allein ausdiskutieren", meinte Balthaszar, nickte uns zu und ging in sein Quartier zurück.

      "Pauline wird beim Klan bleiben", verkündete Kimama mit einer Strenge in der Stimme, die man üblicherweise nicht von ihr gewohnt war. Pauline und ich öffneten gleichzeitig die Münder, um etwas zu sagen, aber Kimama fügte augenblicklich hinzu: "Es hat gereicht, dass du nächtelang im Wald unterwegs warst, um Yuri zu finden, Pauline. Da dies nun erledigt ist, brauchst du dich nicht in noch größere Gefahr begeben. Ich habe deinem Vater versprochen, dass dir nichts zustoßen wird." - "Wer kann garantieren, dass ich im Albenreich oder hier in Abeytu sicher bin?" - "Pauline, du hast gehört, was ich gesagt habe! Du wirst nicht mit dem Zauberer mitgehen!" Ich zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte mich den Zauberer genannt. Das tat sie für gewöhnlich nie. "Kimama", sagte Pauline schwach, als sie bemerkte, dass ihre Großmutter den Tränen nahe war, "wieso machst du dir plötzlich solche Sorgen? Du bist doch sonst stets so zuversichtlich." Kimama trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel ihrer Wolljacke und erwiderte: "Wer weiß, was dich da draußen erwartet? Ich habe schon meine Tochter und meinen Schwiegersohn verloren. Ich will nicht riskieren, auch noch dich zu verlieren." Pauline griff ihre Hand. "Aber, Großmutter…" - "Es ist genug, Pauline! Du bleibst beim Klan!" Sie warf Yuri und mir einen kurzen Blick zu, wünschte uns einen guten Abend für später und verschwand dann mit Chitto hinter der Tür, die ins Schlaflager führte.

      "Ich werde nicht beim Klan bleiben", sagte Pauline, nachdem Kimama die Türe hinter sich geschlossen hatte. "Du willst die Bitte deiner Großmutter ignorieren?", fragte Yuri. "Ich habe keine andere Wahl", antwortete Pauline. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Doch, natürlich hast du die Wahl. Niemand hat dich gezwungen, mitzukommen." - "Und es kann mich auch niemand dazu zwingen, hier zu bleiben, Mendrick! Hör zu, ich weiß, was ich tue. Mir ist klar, worauf ich mich einlasse. Aber ich war es, die Yuri..." - sie pausierte kurz, um ihre Gedanken in die richtigen Worte zu fassen - "... auf dem Waldboden kauernd fand. Und als ich ihn da so liegen sah, wusste ich, dass ich ihn beschützen werde müssen, ihn begleiten werde müssen auf seinem Weg… es war so ein klarer Gedanke, Mendrick, ich weiß einfach, dass ich es tun muss. Ich werde mit euch gehen! Vielleicht laufe ich da draußen auch irgendwann meinem Vater über den Weg." Ich zögerte kurz, entgegnete dann betont vorsichtig, aber wohl nicht vorsichtig genug: "Bitte mach dir wegen Tristan keine allzu großen Hoffnungen." Paulines Augen blitzten gefährlich auf. "Was meinst du damit?", fuhr sie mich an. "Soll das heißen, du denkst, er sei ohnehin schon tot?" - "So habe ich das nicht gesagt." - "Aber gedacht!" - "Pauline, bitte, hör mir zu! Ich verstehe ja wirklich, dass dich die Sache mit deinem Vater beschäftigt…" - "Beschäftigt? Nein, Mendrick, du verstehst gar nichts!" Und sie wandte sich wutentbrannt um und folgte Kimama. "Was habe ich denn jetzt falsch gemacht?", fragte ich Yuri, wollte aber eigentlich keine Antwort darauf haben, weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Und schnaubte demnach zufolge verächtlich, als Yuri dennoch den Mund öffnete. "Sei bloß still!", schnappte ich, noch bevor er etwas sagen konnte.

      Pauline sprach den restlichen Tag kein Wort mehr mit mir.

      Als wir uns des Abends ins Schlafgemach begaben und ich sicher gegangen war, dass alle eingeschlafen waren, weckte ich Yuri. Wir wollten keine große Sache aus unserem Aufbruch in die Lequoiawälder machen. Leise schlossen wir die Tür hinter uns und gingen zu meinem Vater, der immer noch wach war, weil er an einem Plan, die Spitzel der Königin aus Abeytu entfernen zu lassen, arbeitete. Wir verabschiedeten uns von ihm. "Ihr wartet nicht bis morgen Früh und verlasst das Stadtzentrum mit dem Klan gemeinsam?", fragte er, als er uns sah, angezogen wie Wandersleute. "Nein", sagte ich, "je früher wir uns auf den Weg machen, desto besser. Wo bringt ihr die Dorfleute morgen hin?" - "Mein Kumpane Degenhart wird sie bei Sonnenaufgang zu meinen treuen Freunden Volkward und Helena bringen. Sie sind ein wohl situiertes, älteres Zaubererehepaar, das großes Geld mit der Erfindung und Herstellung neuer Geschmacksrichtungen und Aromastoffen für Schmoggs gemacht