Selena Mayfire

Yuri


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Gwendolin hatte Mendrick unter den Vorbeiziehenden entdeckt und sie steckte vorsichtig ihren Kopf hinter einem Baum hervor. Mendrick deutete den anderen, vorauszugehen; ich wartete auf ihn. Nachdem unsere Dorfleute ein Stück weitergegangen waren, kam Gwendolin im Schwebeschritt mit einem breiten Lächeln auf den blassgrünen Lippen auf uns zu. "Hallo, Zauberer! Wie lieb, dass du mich schon in aller Frühe besuchen kommst. Und du hast eine Freundin mitgebracht!" Ich lächelte sie an. "Das ist Pauline", sagte Mendrick hastig, "aber ganz ehrlich, Gwen, ich bin nicht hier, um dich zu besuchen." Die Meliade war jetzt ganz nah. Ich betrachtete mit Staunen ihre olivenfarbene, samtig weich aussehende Haut. "Wir ziehen fort", sagte Mendrick, "gestern Abend wurde unser Dorf von Modoroks zerstört. Wir können hier nicht bleiben. Sie würden uns bestimmt abermals überfallen und bedrohen, wenn wir hier im Schmetterlingswald blieben." - "Oh", sagte Gwendolin, "aber… wieso jagen sie euch?" - "Das ist eine lange Geschichte", antwortete Mendrick. "Wohin wollt ihr denn gehen?", fragte Gwendolin. Ich tauschte mit Mendrick kurz die Blicke aus, dann sagte er etwas niedergeschlagen: "Das kann ich dir leider nicht verraten. Ich meine, ich vertraue dir, Gwen, aber... der Wald hat Ohren. Es ist äußerst wichtig, dass wir unentdeckt bleiben." - "Oh", sagte Gwendolin noch einmal. "Ich hoffe, du verstehst das", fügte Mendrick hinzu. "Ich verstehe", versicherte Gwendolin, "das heißt, du wirst ab heute nicht mehr zu mir und Madame Pau kommen?" Mendrick seufzte tief und schüttelte dann den Kopf. "Nein." - "Oh", sagte die Meliade ein drittes Mal. Ihr freundlicher Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, aber ihre engelsklare Stimme verriet, dass sie traurig war. "Mendrick", sagte ich und zupfte ihn am Mantelärmel, "wir sollten jetzt wieder weiterziehen. Die anderen warten sicher schon auf uns." Er nickte und wandte Gwendolin den Rücken zu, um zu gehen. Da blieb er noch einmal stehen und drehte sich wieder zu ihr um. "Sei nicht traurig, Gwen", sagte er, "ich komme ja wieder." - "Gewiss", antwortete die Meliade. Dann gingen wir. Mendricks tief hängenden Schultern nach zu urteilen hätte man meinen können, er würde ein Pferd samt Reiter auf dem Rücken tragen. "Du hast die Waldnymphe ganz schön ins Herz geschlossen, hm?", bemerkte ich. Mendrick tat so, als hätte er mich nicht gehört und zog sich dafür die Kapuze seines Mantels so tief in die Stirn, dass ich von seinem Gesicht nicht mehr sah außer ein Paar griesgrämig heruntergezogener Mundwinkel.

      Kapitel 6 - ZWEIFEL

       YURI.

      Du hast es getan, Yuri.

      Du hast es wieder getan.

      Du weißt, was hätte passieren können.

      Was immer noch passieren könnte.

      Wieso?

      Wieso hast du es getan?

      Du weißt, dass du es nicht kontrollieren kannst.

      Dass du es nicht verstehen kannst.

      Wieso hast du es wieder getan?

      Pauline. Mein Herz bebte allein beim bloßen Gedanken an ihren Namen. Wie konnte man dieses Gefühl, das ich für Pauline empfand, beschreiben? Als Dankbarkeit? Beschützerinstinkt? Liebe? Liebe. Ich hatte keine Ahnung, wie sich Liebe anfühlte.

      Ich sah mich um. Die Umgebung war durch meine Morphaugen in einen blassen Sepia-Ton getaucht und verlieh der Welt einen melancholischen Teint. Zaghaft setzte ich Pfote vor Pfote, hörte das Rauschen des Windes in den verdörrten Blättern der Bäume, fühlte die Vibration der Fußtritte der Fischerleute meine Beine hochklettern, roch Schnee und Eis und die feuchte Erde darunter und spürte deutlich Paulines Blick in meinem Rücken. Was war es, das uns miteinander verband? Irgendetwas war mit mir geschehen, als ich in ihren Armen aufgewacht war. Irgendetwas hatte sich anders angefühlt. Besonders. Eigenartig. Ungewöhnlich. Es hatte mir Angst gemacht und das tat es immer noch. Flügelschlag. Meine Ohren spitzten sich wie von selbst und ich sah nach oben. Über uns zog ein Bussard einsam seine Kreise, in der Hoffnung, es würde etwas Essbares für ihn abfallen.

      Dein Wunsch wird unerfüllt bleiben, mein Freund.

      Obwohl ich seit meinem Ausbruch aus dem Königsschloss mehr an Wunder glaubte als ich es je zuvor getan hatte. Ich war es schließlich nicht alleine gewesen, der es geschafft hatte, zu fliehen. Jemand hatte mich befreit. Die Schlossmauern zerschmettert. Die Wachen überwältigt. Mich aus der Dunkelheit hinaus in die Kälte des Waldes gezerrt. Wer? Meine Gedanken liefen auf Hochtouren, aber meine Erinnerung blieb verschwommen. Ich war bewusstlos gewesen, als das alles vonstatten gegangen war. Alle Bilder, die mir in den Sinn kamen, als ich daran dachte, waren bloß finstere, verschwommene Teile eines großen ungewissen Ganzen. Als ich erwacht war, hatte mich Pauline bereits gefunden. Von meinem mysteriösen Retter keinerlei Spur. Die Götter? Vielleicht. Aber ich wusste nichts von der Götterwelt. Genauso wenig wie ich von der Welt der Sterblichen wusste. Alles, was ich kannte, war das betörende Schwarz meines Kerkers, die eiskalten, feuchten Mauern, die unzähligen Peitschenhiebe, die Tritte, die Schläge. Die seltsamen Tränke, die Alpträume, die Schatten an der Wand, die Fratzen, die Schmerzen.

      Der Auserwählte. Ich? Dazu auserkoren, ganz Sternland zu befreien? Das Zeitalter der Kälte zu beenden? Die Schneekönigin zu vernichten? Schneekönigin. Diese Stimme. Dieser Atem. Dieser Griff. Die Eiseskälte. Ihr Lächeln. Schmerzen.

      Wieso hast du es getan, Yuri?

      Wieso hast du es wieder getan?

      Sie werden dich jagen.

      Sie werden dich finden.

      Sie werden dich einsperren und alles wird von vorne beginnen.

      Du hättest sie glauben machen können, du könntest es nicht mehr.

      Du hättest es nie wirklich gekonnt.

      Deine Kräfte hätten dich verlassen.

      Durch all die Schmerzen. All die Qualen.

      Du hättest ein neues Leben beginnen können.

      Fort. Weit fort vom Schloss, von der Kälte, der Dunkelheit. Weit fort von ihr.

      Wieso hast du es wieder getan?

      Pauline.

      "Du hast Angst, nicht wahr, Yuri?" Ich hatte ihre Schritte näher kommen gehört, noch bevor sie den Mund geöffnet hatte um etwas zu sagen. Mein Blick hob sich nicht. "Du hast Angst, dass du deiner Aufgabe nicht gerecht werden kannst", fuhr Pauline fort, "und das ist verständlich. Aber vielleicht solltest du versuchen, deine Aufgabe und deine Kräfte als Geschenk zu erachten, nicht als Fluch. Es ist sehr ehrenvoll, von den Göttern zu etwas Besonderem auserwählt zu werden, Yuri."

      Die Götter.

      Wo waren die Götter die vergangenen zehn Jahre gewesen?

      Wo waren sie, als all meine Erinnerungen an meine Familie, meine Kindheit, meine Vergangenheit ausgelöscht wurden?

      Wo waren sie, als mich all meine Hoffnungen, meine Träume, mein Glück verließen?

      Und doch.

      Ich war aus dem Schloss entkommen.

      Ich hatte den dunklen Kerker hinter mir gelassen, und mit ihm all die Schmerzen.

      Ich befand mich in der Gegenwart von Menschen, die mir Gutes wollten.

      Von Herzen Gutes oder nur deshalb, weil ich dieser legendäre Krieger aus der Prophezeiung war, und sie sich dadurch bloß ein Ende ihrer eigenen Sorgen erwarteten? Vielleicht etwas von beidem.

      Meine Zweifel fraßen mich von innen her auf wie eine Spinne ihre Beute einwickelte: langsam, aber sicher. Das einzige, das mich daran hinderte, die Gutherzigkeit meiner Gefährten völlig in Frage zu stellen, war dieses seltsame, unbeschreibliche, tiefe Gefühl, das ich für Pauline empfand. Dieses Gefühl, das mich beflügelte, aber einschüchterte; mich hoffen, aber auch bangen ließ.

      Liebe.

      Wenn das Liebe war, dann musste es wohl das schönste und zugleich selbstquälerischste Gefühl der Welt sein.

      "Yuri?" Ich hatte nicht bemerkt, dass ich