Selena Mayfire

Yuri


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Wo er doch weiß, welche qualvolle Dinge auf ihn warten werden, wenn er sich uns zu erkennen gibt?" Ich spürte seinen heißen, grausigen Atem in meinem Gesicht. Er wandte sich ab, steckte sein Schwert zurück in die Scheide und klopfte Yuri, der, gebückt und mit gesenktem Blicke, vor ihm saß, grob auf den Rücken. "Nicht wahr, Bursche? Dabei ist es doch nahe liegend, dass du transformieren kannst. Wie sonst hättest du aus dem Schloss der Königin entkommen können, im Gegensatz zu all den anderen?" - "Ich weiß es nicht", flüsterte Yuri. Ich wollte etwas sagen, aber nun verließ kein Wort mehr meinen trockenen Mund. Ich war wie versteinert. Tu was, sagte ich in Gedanken zu mir selbst. Jetzt tu etwas, Pauline! Aber wie sehr ich mich auch darum bemühte, einen klaren Entschluss zu fassen - es gelang mir nicht. Ich konnte mich nicht bewegen, wusste nicht, wie die Situation noch zu retten war. "Der Knabe ist unschuldig", versuchte Kimama den Modorok umzustimmen, "er... wohnt schon seit Jahren hier bei uns im Dorf...!" - "Genug geredet, Weib", knurrte der Anführer, "wir nehmen ihn mit. Und nun zum fröhlichen Teil: eurer Strafe, weil ihr ihn vor der Königin versteckt gehalten habt!" Er gab den anderen Reitern ein Zeichen, und sie stießen ihren Pferden die Hacken in die Seiten und steckten nach und nach alle unsere Hütten in Brand. "Nein! Bitte nicht!", schrie Kimama. Unsere Ziegen und Schafe kamen verzweifelt blökend aus den brennenden Ställen galoppiert. Chitto bellte und legte die Ohren an, während er aufgeregt hin und her lief. Landogar trat aus der kleinen Menge hervor und stieß dem Anführer der Modoroks seinen Gehstock vor die Brust. "Ihr wollt Krieg? Den sollt Ihr haben!" Andere Männer unseres Dorfes folgten Landogars Beispiel, benutzten alles mögliche als Waffe, was ihnen in die Finger kam - Stöcke, Äxte, Eisklumpen - und forderten die Modoroks zum Nahkampf. Binnen Sekunden hatte sich unser friedliches Dorf nicht nur in ein loderndes Inferno, sondern zu einem Schlachtfeld verwandelt. Der Anführer der Modoroks, der Yuri mit auf sein Ross gepackt hatte, verschwand inmitten der kämpfenden Masse. Ich wollte ihm nach, aber Kimama schnappte mich am Arm. "Pauline!", schrie sie durch den tosenden Lärm. "Die Kinder!" Ich wandte mich um und sah, wie zwei Modoroks eine kleine Gruppe Kinder, die sie zuvor wohl gewaltsam von deren Eltern getrennt haben mussten, zurück in die brennenden Hütten treiben wollten. Unbändige Wut stieg in mir hoch und ließen meinen Körper erbeben. Während ich geradewegs auf die Kinder zueilte, las ich im Laufen drei Pfeile und einen Bogen auf, die herrenlos im Schnee herumlagen. Mein Großvater hatte manchmal früher mit mir Bogenschießen geübt. Dabei hatte ich mich immer sehr geschickt angestellt. Ich überlegte nicht, als ich einen Pfeil einspannte, zielte und schoss. Einen Modorok traf ich genau in den Kopf. Er fiel vom Pferd. Die Kinder weinten und schrien. Mein Hals brannte vom stoßartigen Einatmen der eiskalten Luft. Ich spannte den nächsten Pfeil. Dieses Mal traf ich nicht den Modorok, aber sein Pferd. Erschrocken bäumte es sich auf und warf ihn ab. "Lauft!", brüllte ich. "Lauft weg!" - "Pauline!" Die aufgeregte Stimme meiner Großmutter zwang mich dazu, mich wieder umzudrehen. Was ich dann sah, ließ mir das Herz in meiner Brust fast zerbersten. Kimama hatte sich auf einen Modorok gestürzt, um eine Dorfbewohnerin zu schützen, die nun rasch die Flucht ergriff. Nun schleuderte der Modorok Kimama mit seinen massigen Armen brutal zu Boden und trat mit den Füßen nach ihr. Ich rannte schneller als mich meine Beine je zuvor getragen hatten. Der letzte Pfeil saß einsatzbereit zwischen Sehne und Griff gespannt. Der Modorok beugte sich über eine regungslose Kimama, sein Schwert gezückt. Meine Hände waren schweißnass. Nicht zittern. Ich zog den Bogen aus. Noch nicht. Der Modorok schwang das Schwert wie eine Keule über seinen Kopf. Noch nicht. Er festigte seinen Griff. Ich auch. Noch nicht. Seine Armmuskeln spannten sich an, er holte aus. Jetzt! Ich ließ los. Der Pfeil zischte hinfort, beschleunigte, zerschnitt die kalte Luft und schließlich auch den Hals des Modoroks. Getroffen. Er sank mit lautem Stöhnen zu Boden. Das Schwert glitt ihm aus den Händen, traf Kimama beim Fall mit dem Griff am Kopf. Ich schrie. Tränen hatten meine Augen verschleiert. Atemlos stürzte ich über Kimama, warf den Bogen fort. Blut ergoss sich im Schnee. Ich sank auf die Knie. "Kimama!" Verzweifelt packte ich sie an den Schultern und rüttelte sie. Meine Rufe gingen in ein panisches Schluchzen über. "Wo bleibt nur Mendrick?"

      Kapitel 4 - WEISSER WOLF

       MENDRICK.

      Ich hatte mich von Madame Pau und Gwendolin verabschiedet und war gerade die Strickleiter hoch geklettert, als ich aus der Ferne hysterische Schreie vernahm. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Das Dorf!, schoss es mir durch den Kopf. Mein nächster Gedanke galt Pauline und Kimama, und ich zog augenblicklich meinen Zauberstab aus der Mantelinnentasche und eilte in Richtung Teich und Fischerdorf.

      Zauberer meiner Art benutzten keine Beschwörungsformeln oder Sprüche, wenn sie Magie anwenden. Mein Vater hatte es vorgezogen, mich nach der Zauberkunst Gandulfs zu unterrichten, dem größten Kampfmagier der Geschichte. Die Gandulf'sche Kunst bestand darin, magische Energie nicht etwa durch Zaubersprüche, sondern durch mentale Kraft zu erwecken und diese dann über den Zauberstab nach außen zu leiten. Es bedurfte jahrelangem Training, um dies zu erlernen, denn mental waren Zauberkräfte viel schwieriger zu kontrollieren als über Sprachformeln – man musste stets hochkonzentriert und mit sich selbst im Einklang sein, um den Status eines wahren Gandulf'schen Meisterzauberers zu erreichen.

      Nun, ich war noch lange kein Gandulf'scher Meisterzauberer, so wie mein Vater Balthaszar. Aber meine Kräfte sollten ausreichen, um einigen Modorok-Soldaten eine Lektion zu erteilen.

      Ich stürmte ins Dorf und war entsetzt beim Anblick der brennenden Hütten und wild durcheinander laufenden Menschen. Dazwischen tummelten sich die Modoroks auf ihren Rössern und unser Vieh, das großteils in den tieferen Wald floh. Ich atmete tief durch, um kurz in mir selbst Ruhe zu finden, und feuerte dann einen Schutzzauber ab, der sich daraufhin über einige, noch wenig brennende oder gar verschonte Dächer ausbreitete und die Feuerfackeln, die die Modoroks durch die Gegend warfen, eine Zeit lang abhalten sollte. Ich entdeckte Pauline unter den aufgebrachten Dorfleuten und lief auf sie zu. Sie schien über jemandem zu knien. Tränen brachen wie Wasserfälle aus ihren Augen hervor, als sie mich sah. "Mendrick! Schnell! Kimama!", rief sie. Ich erblickte Kimama, die Blut überströmt im Schnee lag. Erschrocken fiel zu Pauline auf die Knie. "Sie atmet noch", stieß Pauline hervor, "aber sie erwacht einfach nicht aus ihrer Ohnmacht!" Die Wunde auf Kimamas Stirn sah auf den ersten Blick sehr schlimm aus, aber als ich mit einem Ball aus Schnee vorsichtig das Blut wegwischte, war zu erkennen, dass es sich zum Glück um eine relativ kleine Platzwunde handelte, die sich zumindest nicht entzündet hatte. "Mendrick!", kreischte Pauline auf. Ich folgte ihrem Blick und bemerkte den Modorok, der sich uns hoch zu Ross näherte. Ich zückte meinen Zauberstab und schleuderte ihm einen Schockzauber entgegen, der für knappe zehn Sekunden sein gesamtes Nervensystem lahm legte und ihn wie einen Sack Kartoffeln von seinem Pferde herunterfallen ließ. "Verdammter Verräter", stöhnte er hervor. Ich verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen. "Gestatten? Mendrick, Zauberer, Sohn des Balthaszar aus Abeytu, nicht wie die anderen meinesgleichen daran interessiert, sich der Kalten Hexe zu unterwerfen. " - "Schneekönigin", knurrte der Soldat und wand sich am Boden hin und her. "Ich pfeife auf deine Schneekönigin", gab ich zurück und versetzte ihm einen Tritt in den Magen. Er ächzte und blieb liegen. Zwei weitere Soldaten, denen unser Zusammentreffen nicht entgangen war, setzten zum Angriff an. Ich attackierte sie mit einem Glühwurm, einem Zauber, der sich blindschleichenartig in einem grellen Grün vor ihren Augen hin und her bewegte und ihr Sehvermögen behinderte. Ihre Versuche, den Zauber mit wilden Handbewegungen von ihrem Gesicht zu verscheuchen, führten nur dazu, dass sie die Kontrolle über ihre Pferde, die durch ihr Verhalten irritiert waren, verloren und die Tiere Hals über Kopf mit ihnen davon galoppierten. "Was... ist passiert?", erklang eine schwache, vertraute Stimme. Ich wandte mich um. "Kimama! Du bist wach!" Pauline schlang ihre Arme um ihre Großmutter. "Nicht so fest", stöhnte diese, "mir tut... alles irgendwie... weh... mein Kopf..." Wir halfen ihr auf die Beine und stützten sie. Hektisch suchte mein Blick die Umgebung ab. "Wo ist eigentlich Yuri?" - "Den hat der Anführer mit aufs Pferd genommen", stöhnte Pauline, "und ich hab sie aus den Augen verloren..." - "Die schnappe ich mir. Ihr beide versteckt euch. Da, hinter der Herrenhütte! Die ist durch meinen Schutzzauber geschützt. Ich kümmere mich um Yuri."

      Ich fand den Anführer der Modoroks beim Dorfausgang. Er hatte gerade Peadir, unserem stärksten Krieger, der