Selena Mayfire

Yuri


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Großmutter war vom Bellen des Hundes aufmerksam geworden und hatte die Türe ihrer Hütte einen Spalt geöffnet. "Pauline?" Ich lief auf sie zu. "Ja, ich bin es! Mir geht es gut, Kimama!" Ich warf mich ihr um den Hals und atmete den Geruch ihres langen, weißen Haares ein. Sie duftete wie üblich nach den Zimt-Räucherstäbchen, die sie stets anzündete, um unsere Hütte zu einem einladenden, süßen Ort zu machen. "Du bist eiskalt, mein Liebstes! Mendrick, mein Junge, du siehst auch ganz durchgefroren aus…! Wen habt ihr da mitgebracht? Ist er das? Ist das der Knabe, auf den wir so lange gewartet haben? Na, kommt erstmal rein." Sie verriegelte die Tür hinter uns.

      Kimama hatte Yuri in die dickste Schafswolldecke gewickelt, die wir hatten, und ihn auf unser Schlaflager aus Daunen und Stroh gebettet. Er schlief. Manchmal öffnete er seine Augen, ganz kurz, und sackte dann wieder benommen in sich zusammen. Kimama setzte über unserer kleinen Feuerstelle Teewasser auf. "Er sieht ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe", bemerkte sie, während das Wasser kochte, "ich habe mir den legendären Wolfskrieger, von dem die Prophezeiung spricht, um ehrlich zu sein als viel stärker und größer erhofft." - "Nun", sagte Mendrick dumpf, "er ist ja vielleicht auch nicht der legendäre Wolfskrieger." Er tauschte mit mir die Blicke aus. "Ist er nicht?", fragte Kimama überrascht. "Das verstehe ich nicht, Kinder. Ihr wart die letzten Nächte ununterbrochen unterwegs, um den Auserwählten zu finden, und kommt wieder mit einem Jungen, von dem ihr sagt, er sei nun doch nicht der Richtige…?" - "So ist es leider, Kimama", antwortete Mendrick und seufzte tief, "dabei hätte alles so schön gepasst. Er ist ein Wolfskrieger aus den Lequoiawäldern, er ist ungefähr siebzehn Jahre alt…" - "Noch ist nicht aller Tage Abend, Mendrick", unterbrach ich ihn, "Yuri sagt zwar, er könne nicht transformieren, was natürlich dem, was Nagi Tanka prophezeit hat, entgegen spricht, aber vermutlich kann er sich durch seine Unterkühlung oder seinen Schock einfach

      nicht mehr daran erinnern. Wer weiß, womöglich ist er sogar gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen." - "Naja", meinte Mendrick, "so schwer gestürzt kann er nicht sein. Außer den Kratzer im Gesicht hat er ja nichts. Und wie er zum Schluss geredet hat, hat er dann eigentlich doch einen eher normalen Eindruck gemacht. So, als ob er wüsste, was er sagt. Vielleicht hat er tatsächlich keine magischen Kräfte. Es ist mir dennoch ein Rätsel, wie er aus dem Schloss entkommen konnte." Kimama servierte uns heißen Ingwertee. "Nun, möglicherweise hat Pauline recht und der Junge weiß einfach nicht mehr, dass er transformieren kann", überlegte sie, "er sieht sehr benommen und geschwächt aus. Gebt ihm ein paar Tage Zeit, um sich zu erholen. Vielleicht kehrt sein Erinnerungsvermögen zurück, wenn er erstmal ordentlich zu Kräften gekommen ist." - "Das hoffe ich doch", brummte Mendrick, "ich meine, ich will nicht, dass er uns unnötig zur Last fällt. Ich möchte mich nicht mit irgendjemandem aufhalten, den wir eigentlich nicht brauchen." - "Ach, Mendrick." Kimama setzte sich zu uns an den Tisch. "Gibt es Neuigkeiten aus den Kiona-Bergen?", fragte ich sie schließlich. Mein Herz sehnte sich nach einem Ja als Antwort, aber Kimama senkte traurig das Kinn zum Brustbein. "Leider nicht, mein Schatz", sagte sie, "allerdings bin ich mir sicher, dass dein Vater wohlauf ist. Er ist ein mutiger, starker Krieger und wird nichts unversucht lassen, bald zu seiner geliebten Tochter zurückzukehren." Das Wasser schoss mir in die Augen und ich fuhr mir rasch mit dem Handrücken darüber, um die Tränen wegzuwischen. "Na dann", sagte Mendrick, um die Unterhaltung zu unterbrechen. Er trank seinen letzten Schluck Ingwertee aus und erhob sich. "Vielen Dank für die Gastfreundschaft, Kimama", sagte er zu meiner Großmutter, "ich werde nun zu Bett gehen." Er umarmte mich flüchtig. "Gute Nacht, Pauline." - "Gute Nacht, Mendrick." Er verließ unsere Hütte und kehrte stattdessen in die seinige ein. Kimama musterte mich prüfend und zog dann die Augenbrauen hoch. "Du hast ja noch gar nicht von deinem Tee getrunken", sagte sie. "Nein", erwiderte ich knapp, "er ist noch zu heiß. Und ich fühl mich nicht so gut." Kimamas Augen weiteten sich besorgt, also fügte ich schnell hinzu: "Aber ich hab mir die Hände an der Tasse gewärmt. Das hilft." - "Trink doch ein bisschen. Dann wird dir wenigstens warm." Ich nippte an dem Tee. Die scharfe Ingwernote kletterte meinen Hals und Rachen bis in den Magen hinab. "Du solltest dann auch schlafen", riet Kimama, "es waren sehr anstrengende Tage für dich."

      Kapitel 2 - ROSMARIN

       MENDRICK.

      Ich hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Ständig machte ich mir über den jungen Wolfskrieger Gedanken, der drüben in Kimamas Hütte lag, mit einem tiefen Kratzer über der linken Wange, lange, zerzauste, dunkle Haare, und dieser weißen Kette mit der Wolfskralle um den Hals. Es war schwer zu glauben, dass dieser schmächtige, kraftlose Junge ganz allein aus dem Schloss der Schneekönigin ausgebrochen war, ohne dabei bemerkt zu werden. Gerade das wies darauf hin, dass er ein Geheimnis verbergen musste. Aber wieso sollte er seine Kräfte verleugnen? Vor uns, die ihn gerettet hatten?

      Pauline und ihre Großmutter waren bereits wach, als ich des Morgens zu ihnen in die Hütte kam. "Möchtest du eine Tasse frische Ziegenmilch?", bot mir Kimama an. "Nein, danke", antwortete ich und sah mich um, "wo ist der Wolfsjunge?" Kimama und Pauline senkten beide betreten die Blicke. "Was? Was ist mit ihm? Wo ist er?", rief ich aus. "Er ist verschwunden", antwortete Pauline dumpf, "als wir aufwachten, war er weg." Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Wie? Das ist doch...! Nicht möglich!" - "Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat", sagte Pauline und strich sich mühevoll ihr buschiges, aschbraunes Haar aus dem Gesicht, "aber weder Kimama noch ich haben irgendetwas bemerkt. Nicht mal Chitto hat gebellt." - "So muss er wohl auch aus dem Schloss entkommen sein", vermutete Kimama. Ich ließ mich aufs Strohlager und die Schafswolldecke sinken, wo der Knabe gestern Abend noch gelegen hatte, und schüttelte ratlos den Kopf. "Das ist also der Dank", murmelte ich, "wir retten ihn vorm Kältetod und er dankt es uns indem er einfach verschwindet." - "Du wolltest ihn doch sowieso nicht da haben", entgegnete Pauline trocken, während sie sich mit verschränkten Armen an die Wand lehnte. Ich funkelte sie wütend an. "Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe!" - "Womöglich hat er dir zugehört und beschlossen, wir wären besser dran ohne ihn, ist er doch nur eine Last für uns und irgendjemand, den wir eigentlich nicht brauchen", fuhr Pauline fort, meine Stimme imitierend. Ich kullerte mit den Augen. "Klar, dass ich jetzt der Schuldige bin." - "Hört auf damit!", ging Kimama dazwischen. "Ich bin sicher, der Knabe hatte seine Gründe, warum er uns verlassen hat." - "Bestimmt", sagte Pauline schneidend, "und Mendrick ist einer dieser Gründe." - "Ja, ich hab's verstanden!" Ruckartig stand ich auf. Meine Wangen glühten rot, weil ich so verärgert war. "Aber ich latsche doch nicht Ewigkeiten durch den Schmetterlingswald, ständig gefolgt und beobachtet von Modoroks, für nichts und wieder nichts!" - "Hör endlich auf, dich aufzuregen", erwiderte Pauline, "die Kummerfalten auf deiner Stirn bleiben dir sonst noch." - "Ach", knurrte ich. Plötzlich schwang die Tür auf. Meine Augen weiteten sich. Da stand doch tatsächlich Yuri. Er zitterte vor Kälte. "Yuri?", platzte Pauline heraus und sank auf den Holzstuhl. "Wo warst du?" Yuri antwortete nicht. Er ging in die Hütte, schloss die Türe hinter sich und blieb mucksmäuschenstill mit dem Rücken an die Tür gelehnt stehen. "Hast du nicht gehört, was sie dich gefragt hat?", entfuhr es mir. "Wo warst du? Antworte!" - "Nirgendwo." - "Wie bitte?" - "Nirgendwo." Seine Unterlippe bebte. "Dir ist ganz kalt", bemerkte Kimama, "du brauchst warme Kleider. Hier, ich hab da noch einen Pullover aus brauner Schafswolle von Paulines Vater." Sie kramte in dem kleinen Holzschrank herum, der in der Ecke stand, holte den besagten Pullover hervor und stülpte ihn Yuri über. Er war ihm viel zu groß, aber er schien ihn zu wärmen. Yuri sagte nichts und bewegte sich auch nicht von der Stelle. "Sag mal, was ist eigentlich dein Problem?", bellte ich ihn schließlich an. "Du redest nicht, du verschwindest und tauchst plötzlich wieder auf... denkst du nicht, dass du uns eine Erklärung schuldig bist?" Jetzt sah er mir das erste Mal direkt in die Augen. Ich hielt den Atem an, denn sein Blick war tiefer, als ich erwartet hatte. "Ich bin niemandem etwas schuldig", sagte er kühl, drehte sich um, öffnete die Tür und verließ die Hütte. "Yuri, warte!", rief Pauline und stürzte hinter ihm nach. Ich hinterher. Kimama beobachtete uns von der Hütte aus. Pauline bekam Yuri am Pulloverärmel zu fassen und er blieb ohne langes Herumzerren stehen. "Bleib hier", sagte Pauline. Er sah sie nicht an. "Warum?", fragte er. Pauline suchte nach Worten. "Hör zu, ich… ich weiß nicht genau, wer du bist und du musst es uns auch nicht sagen, aber… ich… ich weiß, dass wir dich nicht umsonst da draußen... gefunden haben. Es gibt keine Zufälle." - "So?", erwiderte Yuri