Selena Mayfire

Yuri


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gehen?" - "Nirgendwohin", antwortete Yuri leise. "Nirgendwohin?", wiederholte ich. "Ja", antwortete Yuri matt, "die Schneekönigin hat gesagt, sie sind dort. Im Nirgendwo." - "Wer? Von wem sprichst du? Wer ist dort?", fragte Pauline. Yuri sackten die Knie weg. Pauline packte ihn an den Schultern und stützte ihn. "Yuri, wer ist dort?", fragte sie noch einmal. "Familie", krächzte Yuri, "nirgendwo… nirgendwo…" Ich ließ die Schultern hängen. Der Knabe war wohl doch verstörter, als ich gedacht hatte. "Komm", sagte Pauline sanft zu Yuri und nahm ihn an der Hand, "komm zurück in die Hütte mit uns. Du bekommst eine Tasse heiße Ziegenmilch, um dich aufzuwärmen. Und dann sehen wir weiter, ja?" Yuri sagte nichts, aber er ließ sich von Pauline mitnehmen. Dorfhund Chitto zog den Schwanz ein und legte die Ohren an, als Yuri an ihm vorbeiging.

      Zunächst sagte keiner ein Wort, als wir gemeinsam am Tische saßen und Yuri beim Trinken seiner Ziegenmilch zusahen. Er trank ganz vorsichtig; so, als ob er Angst hätte, jeder Schluck könnte ihm irgendetwas antun. "Die ist gut", sagte er plötzlich erleichtert, "die ist gut, die Milch. Die schmeckt." Kimama rang die Hände. "Ach, du armer Junge…! Sie haben dir nichts Ordentliches zu essen und trinken gegeben, nicht wahr? Du bist ja so mager…" Yuri blinzelte. "Ich musste eigenartige Flüssigkeiten trinken. Was die bezwecken sollten, weiß ich nicht genau. Jedenfalls ist mir danach oft etwas Schlimmes passiert. Wenn ich nicht getrunken habe, haben sie es mir gewaltsam eingeflößt." Er ließ die Tasse Ziegenmilch sinken und starrte vor sich hin. Mir wurde mulmig zumute. "Was meinst du mit etwas Schlimmes?", fragte ich langsam. Yuris Körper begann zu beben. Er versuchte, es zurückzuhalten, woraufhin er zu schwitzen anfing. "Keine Luft", stöhnte er, "mein Atem… ich konnte plötzlich nicht mehr atmen... nicht mehr gehen… Schmerzen... und dann waren da Stimmen... seltsame Stimmen in meinem Kopf... Fratzen... Schmerzen..." - "Schon gut, mein Junge", sagte Kimama zärtlich und legte nach kurzem Zögern ihre runzlige Hand auf die seine, um ihn zu tätscheln, "du musst nicht darüber reden und brauchst auch nicht mehr daran zu denken. Jetzt bist du bei uns, jetzt ist alles gut, nicht wahr?" - "Mh", sagte Yuri. Er atmete tief durch, schlug betreten die Augen nieder und nippte wieder an seiner Ziegenmilch. Pauline hatte ihren Kopf in die Hände gestützt und betrachtete Yuri mit traurigen, ratlosen Blicken. "Bist du müde, Yuri?", fragte sie ihn dann. "Ich meine, du warst wohl bereits in der Nacht... unterwegs. Du musst müde sein." - "Ja", antwortete Yuri. "Möchtest du gerne schlafen?", fuhr sie fort. "Nein", sagte Yuri. "Nein?", wiederholte Pauline überrascht. "Nicht schlafen", flüsterte Yuri, "ich sehe grässliche Dinge, wenn ich schlafe." Kimama schüttelte seufzend den Kopf, erhob sich, öffnete den kleinen Wandschrank und holte ein Kästchen voller intensiv duftender Kräuter und Pflanzenextrakte heraus. "Das ist Arznei deines Großvaters", sagte sie zu Pauline und hielt ihr das Kästchen unter die Nase, "er hat dir sein Buch vermacht, du kennst dich besser mit Heilpflanzen aus als ich. Wir sollten Yuri etwas geben, das seine Alpträume ein wenig bändigen kann." - "Nichts zu trinken… bitte", entfuhr es Yuri. "Nein, du musst nichts trinken", beschwichtigte Pauline, "ich werde dir ein Kissen nähen und es mit Baldrian, Thymian, Kamillenblättern und reichlich Rosmarin füllen. Das vertreibt Alpträume und hilft gegen Panikzustände." Sie holte die erwähnten Kräuter aus dem Kästchen heraus. "Oh je", sagte sie dann, "Rosmarin fehlt." - "Ich besorge welchen", bot ich an, erhob mich, warf meinen Mantel aus Kuhfell über und ging zur Türe. "Danke, Mendrick", sagte Pauline. Ich nickte und öffnete die Tür. "Danke, Mendrick", wiederholte Yuris raue Stimme. Ich hielt kurz inne, schloss dann die Tür hinter mir und stapfte in den Schnee hinaus. Rosmarin

      "Wohin des Weges, Zaubererfreund?", fragte mich der neugierige Landogar, der Dorfälteste. Einige seiner Enkelkinder spielten fröhlich im Schnee – ein Bild, das einen zu Kriegszeiten zu Tränen rühren konnte. Seit die Schneekönigin an die Macht gekommen war, gab es keine Einheit und Brüderlichkeit mehr in Sternland. Jeder schien gegen jeden zu sein. Niemand vertraute mehr dem anderen. Es war zugegebenermaßen auch schwierig, jemandem zu vertrauen. Spione der Schneekönigin lauerten überall, und jeder, der sich öffentlich gegen sie bekannte, hatte damit den sicheren Tod in der Tasche. Vor allem nichtmagische Menschen waren der Schneekönigin ein Dorn im Auge; diese Debatte hatte auch den Krieg erst überhaupt ausgelöst. Sie wollte eine klassifizierte Welt, in der es die Mors, die Magischen, und die Elmors, die Nichtmagischen, gab; die Mors als "reinblütige", herrschende Partei in Reichtum und Erfolg, und die Elmors als deren Sklaven, deren Mittel zum Zweck, die "Unterschicht". Da magische Fähigkeiten unserem Glauben und den alten Schriften nach zufolge nur von den Göttern auferlegt werden können, war die Kalte Hexe der Meinung, dass eben auch nur magische Menschen es würdig waren, ein angemessen Leben zu führen. Für die meisten war das natürlich ein kompletter, menschenverachtender Unsinn; für viele andere aber leider auch Tatsache, was dazu geführt hatte, dass sich die Schneekönigin über die Jahre hinweg eine Masse an Befürwortern und Unterstützern zueigen machen konnte. "Na?", holte mich Landogar aus meinen Gedanken. "Willst du mir nun antworten, Zaubererfreund? Oder bist du bereits genauso schwerhörig wie meine Frau? Oh, die Götter haben sie selig...!" - "Ich besorge nur ein paar Kräuter, Landogar", erklärte ich und wollte weitergehen, aber Landogar hatte noch eine Frage. "Hat die gute Kimama etwa einen Gast? Sie hat seit gestern Abend ihre Hütte nicht mehr verlassen. Nur einmal, zum Ziegenmelken." Er zwirbelte seinen grauen Bart. "Kimama kümmert sich um einen jungen Knaben, den Pauline und ich verletzt im Wald aufgefunden haben", winkte ich ab. "Wart ihr nicht auf der Suche nach dem Auserwählten?", bohrte Landogar weiter, "dem legendären Wolfskrieger, der die Schneekönigin bezwingen soll?" Ich räusperte mich, nickte und erwiderte: "Ja, aber wir sind leider nicht fündig geworden." - "Wie schade", meinte Landogar. "Ich muss weiter", sagte ich, "wir sehen uns später, Landogar." - "Viel Glück beim Kräutersuchen", rief mir der Alte hinterher, "es ist schwer, unter dem vielen Schnee und Eis noch lebende Pflanzen zu finden."

      Der Wind hatte gedreht und blies mir beißend kalt ins Genick. Ich zog die Kapuze meines Mantels tiefer in die Stirn und stellte den Kragen auf. Als ich so durch den Schmetterlingswald ging, versuchte ich, mich daran zu erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, bevor die Kalte Hexe vor knapp achtzehn Jahren unseren guten König Gaidemar gestürzt und den Thron neu erobert hatte. Es war traurig und bitter: Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Alle Bilder, die kamen, waren bestimmt von Kälte und Finsternis. Ich entdeckte Hufspuren der Modorok-Rösser im Schnee und schnaubte entrüstet. Das Geschlecht der Modoroks war lange Zeit eine Generation ehrwürdiger Soldaten gewesen, die aber im Laufe der vergangenen Jahre zu Untergebenen der Schneekönigin geworden waren und sich ihr bis heute als treu ergeben erwiesen. Ich erreichte die Waldlichtung, zu der ich wollte: die Sonnenmeer-Waldlichtung, die laut Kimamas Erzählungen einst das schönste und an Pflanzen reichste Fleckchen des Schmetterlingswaldes gewesen war. Ich suchte nach Rosmarin, wurde aber meinen Erwartungen gerecht und fand nichts. Plötzlich überkam mich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden und zog augenblicklich meinen Zauberstab aus der Mantelinnentasche. "Wonach suchst du und findest nicht?", fragte eine glasklare Stimme und aus dem verschneiten Dickicht trat eine zarte Gestalt hervor. Ich ließ den Zauberstab sinken. "Eine Meliade!", entfuhr es mir überrascht. Waldnymphen wie diese wurden schon lange nicht mehr in der Gegend gesichtet. Sie trug ein knielanges, fahlbraunes Kleid und ihre Haut war dunkelgrün. Sie war bloßfüßig und versank nicht im Schnee, als sie langsam Fuß vor Fuß setzte. Die blassgrünen Lippen hatte sie aus Neugierde leicht geschürzt; ihre spitz zulaufenden Ohren blickten unter den kurzen, wirren, hellbraunen Haaren hervor und bewegten sich leicht, als sie mir lauschte, während ich sprach: "Verzeih, ich habe noch nie eine Meliade gesehen. Ich kenne sie nur aus Geschichten. Mein Name ist Mendrick und ich bin Zauberer aus Abeytu. Ich stehe aber, im Gegensatz zu den meisten anderen meinesgleichen, nicht auf der Seite der Schneekönigin und lebe seit meinem achtzehnten Lebensjahr, also seit knappen fünf Jahren, drüben bei den Leuten im friedlichen Fischerdorf." - "Im Fischerdorf", sagte die Meliade, "gibt es denn noch genügend Fische im nahe gelegenen Teich? Ich bildete mir ein, er sei zugefroren." - "Du hast dich nicht getäuscht", antwortete ich und steckte meinen Zauberstab zurück in die Mantelinnentasche, "der Teich ist schon lange tot und mit ihm all die Fische. Die Bewohner des Dorfes leben nur noch von dem, was ihnen ihre wenigen Nutztiere geben können – Milch von den Ziegen, Eier von den Hühnern, Wolle und, seltener, Fleisch von den Schafen." - "Das ist traurig", erwiderte die Meliade. "Ich heiße Gwendolin und bin aus dem westlichen Teil dieses Waldes hierher in den Norden geflohen, nachdem