Selena Mayfire

Yuri


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und sofort weitererzählt. Sie wurde von den Lequoiawäldern über jede Grenze hinaus nach ganz Sternland getragen." Mendrick nickte Yuri zu. "Deine Geschichte hat hohe Wellen geschlagen, mein Lieber." Yuri blickte verzweifelt drein. "Aber ich..." - "Mir erzählte mein Vater von der Prophezeiung", erklärte Mendrick, "und Pauline wiederum erfuhr es von ihrer Familie. Es gibt niemanden in Sternland - keinen Mann, keine Frau, kein Kind - die nicht davon gehört haben. Zumindest Bruchteile der Geschichte sind jedem bekannt." - "Natürlich konnte damals nicht verhindert werden, dass auch die Schneekönigin über Nagi Tankas Vision in Kenntnis gesetzt wurde", sagte ich. "Das ist der springende Punkt", erwiderte Mendrick, "sie geriet in Panik, hatte Angst um ihre Existenz und ihre Herrschaft. Sie ließ, kurz nachdem sie davon erfuhr, alle Wolfskrieger, die ihr in die Finger kamen, töten, auch die Neugeborenen." Yuri riss die türkisen Augen auf. "Aber..." - "Man erzählt sich, dass dich deine Eltern sechs Jahre lang verstecken konnten. Irgendwann wurdest du dann leider von einem Pack feiger Wanderzauberer entdeckt, die deine Transformationskräfte entlarvten. Aus Furcht vor dem Zorn der Königin verrieten sie dich und du wurdest gefangen genommen." Yuri sagte nichts mehr. Sein Blick war nun starr und leer. "Das ist wohl die traurige Wahrheit", fügte Mendrick hinzu, "du wurdest von deiner Familie getrennt, als du sechs Jahre alt warst und warst dann fast zehn Jahre lang in Gefangenschaft. Das muss ganz schön schlimm für dich gewesen sein." - "Mendrick!", mahnte ich und deutete ihm, jetzt nichts mehr dazu zu sagen. Er schwieg, senkte peinlich berührt das spitze Kinn zum Brustbein. Ich beugte mich zu Yuri und sagte leise: "Alles in Ordnung?" Er sah mich verworren an. "Nirgendwo", flüsterte er dann. "Wie bitte?", fragte ich nach. "Nirgendwo", zischte Yuri und wandte seinen Blick wieder von mir ab, "sie sind im Nirgendwo." Mendrick hob die Augenbrauen. "Ich habe keine Ahnung, wovon er redet." - "Er hat wohl auch keine Ahnung, wovon wir reden", sagte ich, "er ist verwirrt und steht immer noch unter Schock. Außerdem ist er unterkühlt. Seine Lippen sind schon ganz blau." - "Hier, Yuri. Nimm meinen Mantel", bot Mendrick an, schlüpfte aus seinem dunkelbraunen Mantel aus Kuhfell und warf ihn Yuri um die bloßen Schultern. Dabei entgingen ihm nicht die vielen Narben auf seinem Rücken, Rückstände von Peitschenhieben, wie ich vermutete. Mendrick blickte mich ratlos an und ich sah ebenso ratlos zu ihm zurück. "Ich verstehe nicht ganz", sagte Yuri plötzlich, "denkt ihr etwa, dass ich dieser Krieger, dieser Auserwählte bin?" Mendrick musterte die Kette mit der Wolfskralle, die Yuri um den Hals trug. "Wir waren uns nicht sicher", gestand er, "aber als Pauline erzählte, dass du vorher aus dem Königsschloss ausgebrochen bist..." Yuri legte die Stirn in Falten. "Ich erinnere mich aber nicht daran, dass ich..." - "Yuri, du bist nicht irgendein Wolfskrieger, verstehst du?", warf ich ein. "Den Erzählungen nach bist du der einzige des Landes, der Fähigkeiten zur Transformation besitzt! Genau deshalb hat dich die Kalte Hexe ja auch gefangen gehalten. Somit bist du der einzige, der überhaupt noch als Auserwählter in Frage kommt." Ich senkte traurig die Stimme. "Alle anderen sind bereits tot." Meine aufkommenden Tränen bewegten Yuri, dass er auch einige wenige fallen ließ. Die meisten hatte er aber sicherlich schon verweint. "Bei einer Transformation werden spezielle magische Energien freigesetzt, die den Morph dazu befähigen, außergewöhnliche Dinge zu tun", lenkte Mendrick vom Thema ab, "so wie auch du offensichtlich außergewöhnliche Dinge tun kannst, Yuri." Yuri sah ihn verwundert an. "Außergewöhnliche Dinge?" - "Wie sonst konntest du ohne Hilfe aus dem Schlosskerker entkommen?", gab Mendrick zu bedenken. Ich räusperte mich. "Vielleicht hatte Yuri einfach nur Glück." - "Einfach nur Glück? Nein, Pauline, das hatte er nicht. Er ist der legendäre Wolfskrieger, den Nagi Tanka in seiner Vision gesehen hat. Umsonst wird ihn die Schneekönigin ja nicht gefangen gehalten haben." Yuri schlug die Augen nieder. "Aber ich kann's nicht." Mendrick starrte ihn entgeistert an. "Was sagst du da?" - "Das Transformieren. Ich kann es nicht." - "Du redest Unsinn! Hast du Fieber?" - "Wenn ich es sage", beharrte Yuri. "Ich kann nicht transformieren." - "Yuri...!" - "Ich meine es ernst." - "Warum hat dich die Kalte Hexe dann jahrelang eingesperrt?" - "Um meine Transformationskräfte zu bestätigen und sich endlich in Sicherheit zu wissen, den Richtigen gefunden zu haben. So wie ihr. Aber ich sage euch: Ich kann es nicht. Ihr habt den falschen." Mendrick hielt verdutzt inne. "Und die Wanderzauberer, die dich damals als Kind gefunden und bezeugt haben, dich transformieren gesehen zu haben?" Yuri zog die Knie ans Brustbein und umschlang sie mit beiden Armen. "Das ist zu lange her. Ich erinnere mich nicht." Mendrick kickte einen Stein gegen die Höhlenwand. "Das darf doch wohl nicht wahr sein", bellte er, "woran erinnerst du dich eigentlich?" - "Beruhige dich, Mendrick", beschwichtigte ich, als ich mich ebenfalls erhob, "ich glaube, Yuri ist einfach noch zu schwach und zu verwirrt! Vergiss nicht, er war bewusstlos, als ich ihn gefunden habe! Es ist alles einfach zu viel für ihn, nicht wahr, Yuri?" Yuri sagte nichts. "Und was machen wir jetzt mit ihm?", brummte Mendrick. "Na, ihn mitnehmen", sagte ich, "oder willst du ihn hier alleine zurücklassen, ausgehungert, durchfroren und verletzt? Also ich nicht." Jetzt öffnete Yuri den Mund. "Danke", sagte er leise. Ich nickte ihm zu. Wir dämpften das Feuer aus und verließen die Höhle.

      Draußen tobte immer noch der Wind, aber es hatte zu regnen aufgehört. Mendrick trug Yuri, den nach einigen Schritten die Kräfte verlassen hatten, in seinen Armen. Wir stapften durch den mit Eiskristallen übersäten Wald. Aus den mit Eisreif bedeckten Baumkronen rief eine Schneeeule, deren Anblick in gleichem Maße schön wie schaurig war, erinnerte er doch an das Zeitalter des Frostes und der Dunkelheit, das die Schneekönigin über uns gebracht hatte. Mir war kalt, aber ich fror nicht. Die Kälte hatte mir als Kind schon nicht viel ausgemacht. Mendrick hingegen bibberte am ganzen Körper und von seiner spitzen Nase rollten unaufhörlich kleine Tropfen hinab in den Schnee. "Hörst du das?", schniefte er plötzlich und blieb stehen. Ich hielt inne. "Was?" Es war schwer, durch die kälteresistenten, riesigen Blätter der Schmetterlingsbäume hindurchzusehen. Dann vernahm ich sie auch: Ihre Stimmen. Ihr Schwertklappern. Der unverwechselbare Klang der Stollen an den Hufen ihrer Pferde, die dem teils eisigen, teils schneebedeckten Waldboden trotzten. "Modorok-Soldaten", stieß ich hervor. "Großartig", knurrte Mendrick. Sie kamen zu fünft. Die Modoroks, Soldaten der Schneekönigin, trugen wie üblich ihre wärmenden Rüstungen aus den Stoßzähnen und Häuten der Ebenholz-Elefanten, Rot und Schwarz schimmernd, ebenso das Geschirr ihrer rabenschwarzen Pferde, deren Geruch an Schwefel erinnerte. "Wer bist du und wen trägst du da?", fragte einer der Modoroks, als sie uns bemerkten und vor uns Halt machten. Sein schwarzes Ross blähte drohend die Nüstern, als Mendrick einen Schritt nach vorne tat. "Ich bin Zauberer aus Abeytu", sagte Mendrick. Gegen das Zaubervolk hatten die Kalte Hexe und ihre Verbündeten nichts einzuwenden, zählte es ja offiziell zu ihren Befürwortern. Inoffiziell sah die Sache wohl etwas anders aus, zumindest, wenn man von Zauberern wie meinem guten Freund Mendrick sprach. "Wir haben den Knaben am Waldboden kauernd gefunden", fuhr Mendrick fort, "er war durchnässt und halb erfroren. Wir wollten ihn nicht zurücklassen." - "Zeig mir sein Gesicht." Aus irgendeinem Grund wollte ich vermeiden, dass sie Yuris Kratzer sahen. Also strich ich ihm rasch die langen Haare in die Stirn und über die Wange, als ich seinen Kopf anhob. Dem Modorok genügte der kurze Blick in Yuris halb verdecktes Gesicht. Jetzt hatte er nämlich mich im Visier. "Was ist mit der hübschen Kleinen?", fragte er spitz und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. "Sie gehört zu mir", sagte Mendrick streng und stellte sich dicht neben mich. "Schon gut", entgegnete der Modorok amüsiert, "für Liebesspielchen haben wir ohnehin keine Zeit. Außerdem ist die da erst mehr Mädchen als Frau." Er gab den anderen ein Zeichen und sie setzten ihren Weg fort. Zurück ließen sie uns und den widerlichen Gestank ihrer Rösser.

      Wir erreichten das Fischerdorf des Abends.

      Die vertraute Umgebung gab mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, als wir durch das mit Holzpfählen markierte Eingangstor traten. Links und rechts zogen sich zwei Reihen Rundhütten auf, aus Stein, Lehm und Reisig gebaut, die zu einem Kreis zusammenliefen. In der Mitte dieses Kreises befand sich unsere gemeinschaftliche Feuerstelle, die aber nur sehr selten benutzt wurde, um keine ungebeteten Besucher wie Modoroks anzulocken. Ganz am Ende des Dorfes, hinter der großen, turmartigen Herrenhütte, die einst meinem Großvater Nathaniel als Medizinmann-Haus diente und nun als Gemeinschaftsraum genutzt wurde, befanden sich unsere kleine Schmiede und die Stallungen, die sich im Laufe der letzten Jahre über verkleinert hatten. Viele unserer Tiere konnten auf Grund des Mangels an Nahrung nicht mehr angemessen gefüttert werden. Außer ein paar wenige Ziegen, Schafe und Hühner war traurigerweise nichts übrig geblieben.

      Es war ruhig im Dorf. Nur Chitto, unser Dorfhund, hob witternd den gescheckten Kopf und