Selena Mayfire

Yuri


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ihn aufzuwecken. Großmutter war nach draußen in den kleinen Stall gegangen, um die Ziegen zu melken. Ich wollte meine Hand auf Yuris Schulter legen, da sagte er: "Ich bin schon wach." Ich seufzte tief. "Konntest du nicht gut schlafen?" Er drehte sich zu mir um. Seine türkisgrünen Augen strahlten. "Doch", sagte er glücklich, "sehr gut sogar! Ich bin richtig ausgeschlafen! Das war ich schon lange nicht mehr… die Kräuter haben wirklich geholfen!" Dann tat er etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Er warf seine Arme um meinen Nacken und umarmte mich fest. "Danke", sagte er leise, "vielen, vielen Dank." Ich lächelte und strich ihm unsicher über den Rücken. "Gern geschehen." Er ließ mich los und stand auf. "Wo ist deine Großmutter?" - "Sie ist im Stall bei den Ziegen", sagte ich, verwundert über Yuris Energie. "Ich gehe zu ihr", beschloss Yuri, "ich will mich auch bei ihr bedanken." Er verließ die Hütte und kam mit Kimama fünfzehn Minuten später zurück. Ich sah von Großvater Nathaniels Buch der Naturheilkunde auf, als sie die Tür öffneten. "Er hat mir beim Ziegenmelken geholfen", verkündete Kimama froh, "sieh, sogar zwei Kannen voll frischer Milch." - "Jederzeit gerne wieder", sagte Yuri höflich. Meine Großmutter lächelte breit. "Ich mag den Knaben. Hoffentlich verfliegt seine gute Laune nicht wieder."

      Yuris gute Laune verflog nicht.

      Knapp drei Monate waren nun vergangen und Yuri war von Tag zu Tag gesünder, kräftiger und hübscher geworden. Die Wunde auf seiner linken Gesichtshälfte war verheilt und hatte eine blassrosa Narbe hinterlassen.

      Einmal half er Kimama beim Aushöhlen von Schneekürbissen (Kürbisse, die sich an die kalten Verhältnisse ihrer Umwelt angepasst, ihre Farbe zu einem zarten Blau verändert und den Geschmack intensiviert haben), und da griff er plötzlich das Messer und schnitt sich seine langen, schwarzen Haare ganz kurz. "Das gehört zu einem Neubeginn dazu", hatte er zufrieden einer überraschten Kimama erklärt, "eine äußerliche Veränderung."

      Wenig später setzte er sich zu mir, als ich im Naturheilkundebuch meines Großvaters las, während draußen, wie so oft, ein Schneesturm tobte. "Bitte erzähl mir was aus deinem Buch", hatte mich Yuri gebeten und interessierte Blicke in die vergilbten Seiten geworfen. Jeden darauf folgenden Abend hatte ich ihm von da an, bevor wir zu Bette gingen, ein neues Heilkraut und seine Wirkung vorgestellt, und Yuri freute sich über sein erweitertes Wissen.

      Mendrick bekam ich neuerdings deutlich weniger zu Gesicht als Yuri.

      Immer öfter verbrachte er seine Tage und Abende bei der Kräuterhexe Pau. Immer wieder kam er mit einer neuen speziellen Pflanze oder einem neuen speziellen Kräutergemisch zurück, ob dies nun brauchbar für uns war oder nicht; immer wieder versprach er Madame Pau, ihr erneut bei verschiedenen Tätigkeiten behilflich zu sein. Ich ahnte, dass Mendricks außergewöhnliche Hilfsbereitschaft mit der Gegenwart der Waldnymphe Gwendolin zu tun hatte, die er beim Rosmarinsuchen getroffen hatte. Also fragte ich ihn: "Wieso sagst du der Meliade nicht einfach, dass sie der wahre Grund ist, warum du so gerne bei Madame Pau arbeitest?" Daraufhin hatte er nur die Nase gerümpft und geantwortet: "Sei nicht albern, Pauline! Ich helfe Pau, weil sie eine nette, alte Dame ist und für diverse häusliche Tätigkeiten einfach schon zu schwach."

      Ich hatte genickt, glaubte ihm aber nicht.

      Eines grauen, verschneiten Abends hätten wir Mendrick gut im Dorf gebrauchen können, als uns etwa ein Dutzend Modorok-Reiter einen unerwarteten Besuch abstatteten. Kimama, Yuri und ich waren schon fast eingeschlafen, als von draußen lautes, panisches Geschrei ertönte. Irgendwo zwischen Hilferufen, wütendem Geschimpfe und hysterischem Gekreisch erklang auch das grausige Klirren der Pferdehufe auf dem eisigen Boden. Yuri war sofort hellwach und sprang auf. "Was ist das, dieses Geräusch? Sind das die Soldaten auf den schwarzen Rössern?" - "Modoroks", knurrte ich und stülpte mir einen dicken Pullover über mein Nachthemd, "wo ist verdammt noch mal Mendrick, wenn man ihn braucht?" Auch Kimama wurde nervös: "Ohne seine Zauberkräfte sind wir denen ausgeliefert!" - "Raus aus den Hütten!", hörten wir eine Männerstimme rufen. "Los, raus aus den Hütten! Alle!" - "Du bleibst hier, mein Junge", sagte Kimama zu Yuri und schob ihn von der Türe weg, "versteck dich und gib keinen einzigen Ton von dir." - "Wieso? Sind die etwa hinter mir her?" - "Sei still und versteck dich!" Yuri schwieg und rührte sich nicht. Ich konnte nicht sehen, ob oder wo er sich nun versteckt hatte, denn meine Großmutter hatte mich bereits an der Hand genommen und aus der Hütte gezogen. Ein eisig kalter Luftzug schlug uns in die besorgten Gesichter. "Pssst", sagte Kimama, "bleib dicht bei mir, Pauline!" Verzweifelt hielt ich nach Mendrick Ausschau, aber er war nirgends zu entdecken.

      Die Modoroks ritten auf ihren Rössern quer durch unser Dorf und drängten die wenigen, die vor Schreck in ihren Hütten geblieben waren, gewaltsam heraus. Ich klammerte mich fest an Kimamas Arm, wie ich es schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn mich das Gefühl der Angst überkommen hatte. Ich schickte Stoßgebete zu den Göttern, sie mochten doch endlich Mendrick zu uns kommen lassen, damit er einige Zauber tun und die Modoroks verschrecken konnte. Mendrick kam nicht. Stattdessen stellten sich Landogar und ein paar andere Jungen und Männer schützend vor die Frauen und Kinder. Viele Männer waren von unserem Dorf nicht übrig geblieben; die meisten waren, wie letztendlich auch mein Vater vor vier Jahren, in den Krieg gegen die Schneekönigin gezogen. "Was wollt ihr von uns, stinkendes Pack?", schleuderte Landogar den Modoroks entgegen. "Wir wissen, dass ihr einen Wolfskrieger versteckt haltet", gab ihr Anführer zurück, nicht weniger laut, aber mit einer selbstbewussten Ruhe in der Stimme, "also, wo ist er?" Alle Köpfe wandten sich automatisch Kimama zu. Ich drückte krampfhaft ihre Hand. "Ich… ich weiß nicht, wovon Ihr redet", sagte sie zu dem Anführer. "Nun, vielleicht kann uns ja die da ein wenig auf die Sprünge helfen", erwiderte er kühl und deutete auf mich. Jetzt erkannte ich ihn. Sein kantiges Gesicht mit dem markanten Grübchen im Kinn, die dicht zusammenstehenden Augen und die buschigen, dunklen Brauen waren unverwechselbar. Er war derselbe, dem wir an dem Tage begegnet waren, an dem wir Yuri gefunden hatten. Derjenige, der Yuris Gesicht hatte sehen wollen. "Na?", bellte er mich an und zog sein scharf geschliffenes Schwert mit einem mit schwarzen Steinen bestückten Metallgriff aus der Scheide. "Willst du wohl reden?" Mein Hals war staubtrocken. "Er… er ist nicht da", stammelte ich, "er ist… weggelaufen." - "Ach, weggelaufen? Dann frage ich mich, welcher Doppelgänger da gerade seinen Kopf aus der Hütte dort drüben heraus steckt?" Kimama und ich wandten uns um. Mein Magen hob sich. Da stand Yuri doch wirklich zwischen Tür und Angel, die Schultern beängstigt nach oben gezogen, die Augen weit aufgerissen. "Lasst die anderen in Ruhe", rief er heiser, "wenn ich es bin, den Ihr sucht." - "Reizend", sagte der Anführer amüsiert und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Mein Herz pochte wie wild, als der Modorok mit einem Satz vom Pferd stieg. "Geht mir aus dem Weg", sagte er zu mir und Kimama. Ich spürte, wie meine Hände plötzlich eiskalt wurden und sich wie automatisch zu Fäusten ballten. Kimama bemerkte meine Anspannung und griff nach meiner Hand. Dem Modorok war das nicht entgangen und er verzog die Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen. "Willst du dich etwa tatsächlich mit mir anlegen, du einfältige Göre?" Meine Knie wurden weich, aber folgende Worte verließen meinen Mund noch bevor ich darüber nachdenken konnte: "Wenn hier jemand einfältig ist, dann seid Ihr es! Einer tyrannischen, selbstverliebten Hexe blinden Gehorsam zu leisten, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was man damit alles anrichtet!" Der Modorok lachte nur. Dann stieß er uns zur Seite und stapfte auf Yuri zu. Kimama fiel in den Schnee. Ich half ihr auf die Beine und hielt sie fest. Der Modorok hatte unsere Hütte erreicht. Er fasste Yuri unsanft am Kragen und zerrte ihn hinter sich her, um ihn schließlich mit aufs Pferd zu packen. "Yuri!", stieß ich hervor. Meine Großmutter löste sich aus meiner Umklammerung und wandte sich noch einmal an den Modorok. "Was wollt Ihr von dem Knaben, Herr? Was hat er Euch getan?", fragte sie den Anführer mit bangem Zittern in ihrer sanften, tiefen Stimme. "Er ist ein Wolfskrieger", erwiderte er dumpf, "diese Antwort dürfte ausreichen, wenn du die Prophezeiung kennst, altes Weib." Ich hob die Stimme und war überrascht, wie fest und überzeugend sie klang, obwohl ich innerlich vor Aufregung wie ein Sturm tobte. "Aber die Prophezeiung besagt auch, dass jener Wolfskrieger ein Transformationskünstler sein muss! Yuri kann allerdings nicht transformieren!" Die kleine Menschenmasse aus anderen Dorfbewohnern, die uns in der Zwischenzeit umringt hatte, wich erschrocken zurück, als sich der Anführer mir mit seinem Ross näherte und abermals drohend sein Schwert zog. "Natürlich nicht", höhnte er, die Mundwinkel zu einem gemeinen Grinsen verzogen, "wieso sollte er auch transformieren wollen, wenn ihm eine