Selena Mayfire

Yuri


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und... nun, etwas grob." Ich zuckte mit den Schultern. Pauline fragte weiter: "Was, wenn er weder als Gefangener noch als Flüchtling fort ging? Was, wenn er der Liebe wegen seinen Wohnsitz wechselte?" Ich lachte auf. "Der Liebe wegen? Nein. Mein Vater hatte stets genug Ärger dank meiner Mutter gehabt. Nie mehr würde er sein Leben für eine Frau umkrempeln." - "Mhm", sagte Pauline, "das hast du also auch von ihm geerbt." Ich ignorierte diesen Kommentar und erwiderte knapp: "Vertrau mir einfach." Sie seufzte. "Das tu ich ja, Mendrick. Das tu ich." Ich küsste sie auf die Stirn. "Geh jetzt ins Bett, Pauline. Du hast ganz müde Augen vor Erschöpfung." Sie nickte und kehrte in das gegenüberliegende Zimmer zurück.

      Yuri schlief. Er sah immer noch recht schwach und zerbrechlich aus, obgleich er sich in den vergangenen Monaten, nach seinem Ausbruch aus dem Königsschloss, einigermaßen erholt und etwas an Gewicht zugelegt hatte. Ich legte meinen Mantel ab und das Jackett, das ich darunter trug, zog meinen Zauberstab aus der Tasche, kletterte ins obere Stockbett hinauf, ließ mich dort nieder, legte den Zauberstab beiseite, zog mir die alte Wolldecke aus dem Dorf bis zum Brustbein hinauf und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ich überlegte und fragte mich, wie es wohl sein würde, meinem Vater nach fünf Jahren wieder gegenüber zu stehen.

      Vor meinem inneren Auge malte ich mir sein Bild aus, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Aber die Erinnerung an ihn war klar und deutlich.

      Balthaszar war ein strenger, schweigsamer Mann, die Düsterkeit in Person; er war sehr blass, hatte schulterlanges Haar so schwarz war wie Kohlen, das er meistens zu einem Pferdeschwanz gefasst hatte; stechende, ockerfarbene Augen, die einen drastischen Kontrast zu seinen Haaren bildeten; eine große, hagere Statur – die er ohne Zweifel an mich weitergegeben hatte – und er sah ernst und reserviert aus. Nichts desto Trotz war er mir stets ein guter, fürsorglicher und herzlicher Vater gewesen. Als meine Mutter uns damals wegen einer Liebschaft mit einem erfolgreichen Historiker für Magiekunde verlassen hatte, war Vater inmitten seiner Ausbildung der Gandulf'schen Zauberkunst gewesen und fühlte sich überfordert von der Vorstellung, seinen damals vierjährigen Sohn alleine großzuziehen. Aber er bemühte sich, gab sein Bestes und, nun, es ist doch etwas einigermaßen Vernünftiges aus mir geworden. Als ich achtzehn war und fortgeschritten in den Lehren der Gandulf'schen Zauberkunst, beschloss ich, in den Schmetterlingswald zu ziehen, um den Leuten, die dort besonders mit dem Umstand des Krieges zu kämpfen hatten, zu helfen.

      Ich traf auf ein Mädchen, das beim Kräutersuchen im Wald in einen zugefrorenen Fischteich eingebrochen war, sich mit aller Kraft herausgezogen hatte und dann völlig durchnässt und vor Kälte zitternd zu meinen Füßen lag und um Hilfe bat. Dieses Mädchen war niemand anders als die damals dreizehnjährige Pauline gewesen. Ich erklärte der vor Kälte und Furcht Gelähmten, dass ich zwar ein Zauberer war, aber im Gegensatz zu anderen nicht auf der Seite der mächtigen, skrupellosen Schneekönigin stand, die vor zwei Monaten unseren eigentlichen König, Gaidemar, vom Throne gestürzt und das gesamte Reich in Eis und Frost verwandelt hatte. Mithilfe eines Wärmezaubers bewahrte ich Pauline vor dem Erfrieren und brachte sie in ihr Dorf zurück. Weil ich Paulines Leben gerettet hatte, gewährten mir die Dorfleute, allen voran Kimama, Unterschlupf. Letztlich blieb ich bei diesem Klan.

      Bis heute.

      Kontakt zu meinem Vater hatte ich all die Jahre nicht.

      Ein einziges Mal sandte er mir eine Botschaft, in der er mir sagte, ich solle es meiden, mich bei ihm zu melden, denn weil er sich öffentlich gegen die Schneekönigin bekannt hatte, stand er nicht mehr unter dem Schutz, den die Königin dem Zaubervolk gewährt hatte; Vater stand nun also auf der schwarzen Liste der Königin und musste dem zufolge untertauchen. Um mich nicht unnötig in Gefahr zu bringen, riet er mir, keinen Briefwechsel und keine persönlichen Treffen mit ihm zu haben, außer, es sei ein äußerst dringender Notfall.

      Nun, dass wir den Auserwählten gefunden hatten, erschien mir durchaus ein guter Grund zu sein, dem Kontaktstillstand ein Ende zu bereiten.

      Yuri wälzte sich unruhig im Schlaf hin und her. Ich konnte es hören, denn die Betten knarrten ganz furchtbar. Als ich dann auch noch ein leises, verzweifeltes Wimmern vernahm, kletterte ich von meinem Stockbett hinunter und beugte mich über Yuri. "Yuri?", sagte ich leise und berührte seinen Arm. "Yuri, alles in Ordnung?" Er schlug mit einem Male die Augen auf. Sein Blick war entsetzt und voller Schrecken. Er atmete schwer. Ich fasste ihn behutsam an den Schultern. "Yuri, was ist los mit dir?" Für einen kurzen Moment dachte ich, er würde vielleicht transformieren, aber dann öffnete er den Mund und sagte, nein, hauchte vielmehr: "All diese Fratzen…" Mir schauderte, aber ich versuchte, ruhig zu bleiben. "Welche Fratzen, Yuri? Wovon sprichst du?" Tränen liefen ihm nun übers Gesicht und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. "Ich… ich weiß nicht… mir ist so… seltsam… kann kaum atmen... ich… sie sind überall... einfach überall!" Sein Schluchzen ging in ein panisches Schreien über. "Ich kann nicht! Ich kann nicht!" Mir wurde schlecht vor Unschlüssigkeit. Ich hatte Mühe, den Knaben festzuhalten. "Es ist niemand da, Yuri, ich bin’s, Mendrick…" - "Lasst mich! Verschwindet!" Er schrie. Er weinte. Er flehte. Ich konnte ihn nicht beruhigen. Die Zimmertür schwang auf und Pauline und Kimama stürzten herein. Beide trugen ihre langärmeligen Nachthemden. "Was ist passiert?", rief Kimama besorgt. "Wir haben Yuri schreien gehört!" Da hatte sie ihn auch schon erblickt und hielt erschrocken inne. "Der arme Junge...", murmelte sie. Pauline warf sich vor Yuris Bett auf die Knie und griff nach seiner Hand, deren Finger ganz verkrampft waren. "Yuri, alles ist gut! Du bist in Sicherheit! Alles ist gut!" Ihre Stimme schien ihn zu besänftigen. Er hörte auf zu schreien und sich hin und her zu winden. Sein Atem wurde ruhiger. Ich lockerte meinen Griff und wich beiseite. Yuri sank ins Kissen zurück und blickte Pauline, die seine Hand immer noch in der ihren hielt, mit glasigen Augen an. Kimama stand nach wie vor an der Tür und tauschte mit mir sorgenvolle Blicke aus. "Na, du?", sagte Pauline zu Yuri, "Geht es dir besser?" Er rührte sich nicht, blinzelte aber. "Was ist geschehen, Yuri?", fragte ich bemüht sanft. Yuri atmete tief durch. Dann antwortete er leise: "All die Zeit im Schloss… man gab mir diese Säfte zu trinken… und irgendwann begann ich, Fratzen zu sehen. Fratzen, die immer grauenhafter und realer wurden, je öfter ich trank… manchmal erscheinen sie mir wieder, im Traum…" Kimama seufzte betroffen. "Ach, Yuri", sagte Pauline, "leider haben wir hier keine Möglichkeit, passende Heilpflanzen zu besorgen, die deine Alpträume vertreiben könnten." Ich erinnerte mich an die Rosmarinzweige, ging zu meinem Mantel und kontrollierte die Taschen. "Nein", stellte ich wenig überrascht fest, "nicht mal mehr ein bisschen Rosmarin." - "Ich... bin... so müde...", wisperte Yuri. Langsam fielen ihm die Augen zu. Paulines Hand ließ er nicht los, im Gegenteil, er hielt sie noch fester. "Der Arme hat wohl ein richtiges Trauma", flüsterte mir Kimama zu. Ich nickte und antwortete ebenso leise: "Das ist wohl nicht erstaunlich, nach so vielen Jahren in Gefangenschaft. Aber er wird schon wieder… hoffe ich." Pauline streichelte Yuris Hand und musterte den Schlafenden nachdenklich. "Gibt es denn gar keine Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen?" - "Schwerlich", sagte Kimama, "ich glaube, wir können nicht mehr tun, als einfach für ihn da zu sein, wenn wir das Gefühl haben, dass er uns braucht." Ich stimmte ihr zu. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück; Pauline holte von ebenda ihre Decke, breitete diese dann vor Yuris Bett am Boden aus und wich die ganze Nacht lang nicht mehr von seiner Seite.

      Kapitel 8 - ABEYTU UND AKANDO

       PAULINE.

      

      Yuri ließen wir bis um die Mittagszeit schlafen, kurz bevor wir aufbrechen sollten. Ich ging ins Zimmer um ihn zu holen. Er war wach, als ich eintrat. "Yuri", sagte ich, "ich wollte dich gerade wecken. Wir müssen uns weiter auf den Weg nach Abeytu machen. Hast du Hunger? Die Wirtsfrau hat uns Frühstück gemacht: weich gekochte Zwergdracheneier, Brot, ein wenig Ziegenkäse und etwas Tee…" - "Ich möchte nichts", antwortete er, während er sich aufrichtete. Ich legte die Stirn in Falten. "Bist du sicher? Du hast so gut wie nichts mehr gegessen, seit wir das Dorf verlassen haben. Ich denke, es wäre besser, wenn…" - "Ich will nichts." Er stand auf. Seine türkisen Augen suchten meinen Blick. "Du warst da, in der Nacht, nicht wahr? Als es mir so schlecht ging, meine ich… da warst du da, oder?", fragte er leise. "Ja", erwiderte ich, "ich war da." Er sah nun etwas bedrückt aus. "Was ist