Selena Mayfire

Yuri


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kennen wir den Burschen sogar, was meinst du, Erwin?" Erwin zuckte mit den Schultern. "Ich lasse euch dann mal alleine", sagte Aurore und verließ das Zimmer. "Du solltest höflicher sein, Mendrick", sagte Pauline, nachdem sie ihren Mantel abgeworfen und sich auf eines der fünf silberblauen Betten niedergelassen hatte. "Höflicher, zu wem?", fragte ich beifällig. "Noah", antwortete sie. "Wieso, habe ich ihn etwa beleidigt?", gab ich zurück. "Nicht direkt", sagte sie, "aber wir alle sprechen in der einem Albenprinz angemessenen Höflichkeitsform mit ihm. Du aber redest mit ihm wie mit einem alten Bekannten." - "Ach, hör doch auf, Pauline, das bringt ihn schon nicht um", erwiderte ich. Damit war die Sache für mich erledigt. Für Pauline anscheinend nicht. "Du bist so stur!", schnappte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich bin stur?", sagte ich. "Du bist kleinlich, Pauline! Er wird mich schon nicht auffressen, bloß, weil ich ihn mit Du anspreche, wie jeden anderen normalen Menschen auch." - "Er ist eben nicht wie jeder andere normale Mensch! Er ist ein Albenprinz!" - "Und wenn schon, Prinz der Alben, der Affen oder der Erbsen, er bleibt ein Lebewesen wie du und ich. Ich verstehe nicht, warum du so ein Theater um ihn machst." Pauline lief puterrot an, sagte aber nichts mehr. "Ich bin hundemüde", meldete sich Yuri und ließ sich ebenfalls auf ein Bett fallen. "Wolfsmüde", verbesserte Erwin. Zum ersten Mal seit längerer Zeit musste Yuri lachen. Sein Lachen steckte sogar Pauline an. "Die Sache mit dem Wolf liegt mir aber ehrlich gesagt schon sehr im Magen", sagte Yuri, nachdem er sich beruhigt hatte, "ich warte die ganze Zeit darauf, dass ich wieder einmal transformiere und vielleicht herausfinde, wie es wirklich funktioniert. Aber ich schätze, das werde ich erst verstehen, wenn es mir jemand so richtig erklärt hat." - "Deswegen sind wir auf dem Weg in die Lequoiawälder", sagte ich, "dort werden wir Leute finden, die die Sagen und Legenden über Transformationskünstler wie dich besser kennen als wir. Wenn wir Glück haben, können wir sogar Nagi Tanka treffen, den berühmt-berüchtigten Schamanen und Seher, der deine Geburt vorausgesagt hat." - "Außer, er ist bereits tot", sagte Erwin. "Das wollen wir nicht hoffen", sagte Pauline. "Schamanen und Geistergurus wie der werden doch sowieso immer hundert Jahre alt, oder?", fügte ich hinzu und meinte es ernst. "Über so etwas macht man keine Späße, Mendrick", fuhr mich Pauline an. "Ich mache keine Späße", antwortete ich bemüht ruhig, "du kannst aufhören, dich aufzuregen, Pauline. Ich werde deinen Albenprinz ab jetzt brav in Höflichkeitsform ansprechen, wenn es dir dann besser geht." - "Er ist nicht mein Albenprinz!" Sie drehte uns den Rücken zu. Es klopfte an der Tür. Ich öffnete und blickte in das Gesicht eines schlanken, aber muskulösen, jungen Mannes in meinem Alter. Er trug ein langärmeliges, braunfarbenes Leinenhemd und Hosen aus Büffelfell; um seinen Hals baumelte eine Goldkette, deren Anhänger ich nicht sehen konnte, weil ihn das Hemd überdeckte. Der Bursche hatte nackenlanges, dunkelblondes Haar, das leicht gelockt war, und dunkle Augen, die mir auf eine absurde Art und Weise bekannt vorkamen. "Kennen wir uns?", fragte ich sogleich. Er zuckte mit den Achseln. "Ich bin nicht sicher. Gestatten, Vincent. Aurore sagte mir, ich solle mich den Gästen vorstellen, einer von ihnen sei auch Zauberer." - "Ja, das wäre dann ich", sagte ich. Er schüttelte mir die Hand. Sein Händedruck war kräftig. "Mein Name ist Mendrick", stellte ich mich vor, "und das sind meine Freunde Erwin, Pauline und Yuri." - "Ich bin erfreut", sagte Vincent und grüßte in die Runde. "Ich komme gerade von der Jagd zurück. Man sagte mir, ihr habt Hunger?" - "Dafür, dass du vom Jagen zurückkommst, hast du aber erstaunlich saubere Hände", bemerkte Erwin. Vincent lachte. "Ja, weil ich mich bereits gewaschen habe." - "Ihr habt fließend Wasser?", meldete sich Pauline. "Wir könnten alle einmal eine Dusche vertragen." - "Ich bin mir sicher, Noah gewährt es euch, wenn ihr ihn darum bittet", sagte Vincent, "und danach können wir gemeinsam essen. Ich habe drei Wildschweine erlegt." - "Nicht schlecht", staunte Erwin. "Oh, ich bin kein besonders guter Jäger", erwiderte Vincent, "aber ein Zauberer weiß sich zu helfen." - "Zeldarianer?", hakte ich nach. Zu meiner Überraschung verneinte er. "Was?", entfuhr es mir. "Du bist ein Gandulf'scher Zauberer?" Abermals schüttelte Vincent den Kopf. "Nein, weder noch. Ich verfolge eine ganz eigene Art der Zauberkunst. Meine Eltern haben sie mir beigebracht." Er senkte den Blick. "Sie sind beide tot." - "Das tut mir Leid", sagte ich. Ich wollte noch mehr über diese unbekannte Zauberkunst erfahren, aber Pauline stieß mich an, als ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, und raunte mir zu: "Lass den armen Kerl doch lieber zufrieden. Siehst du nicht, dass es ihm schwer fällt, über seine Vergangenheit zu sprechen? Du kannst ja mal unter vier Augen mit ihm darüber reden." Schritte ertönten und Noah erschien auf der Türschwelle. Paulines Gesicht erhellte sich. "Wie ich sehe, habt ihr bereits Bekanntschaft mit Vincent gemacht", sagte er. "Uns ist zu Ohren gekommen, dass man bei Euch ein Bad oder eine Dusche nehmen kann?", fragte Erwin. Noah tauschte mit Vincent die Blicke aus. "Oh, sie wissen nichts vom Garten?", stieß Vincent hervor. "Entschuldigt bitte, Noah, ich dachte…" - "Schon gut, Vincent." - "Garten? Was für ein Garten? Habt ihr einen Schlosspark?", fragte ich verwirrt. Noah senkte die Stimme. "Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?"

      Kapitel 16 - WEITERGEHEN

      PAULINE. Noah hatte uns, gemeinsam mit Vincent, in den hintersten Winkel des Schlosses gebracht, in die Bibliothek und durch eine Geheimtür hindurch; der Anblick, der sich uns da bot, war so unglaublich, dass mir einen Moment lang der Atem wegblieb. Die Geheimtür führte in einen prächtigen, unter einer gigantisch breiten wie hohen Kuppel liegenden, paradiesischen Garten, in dem es von vielerlei Pflanzen, Insekten und Tieren wimmelte, die schon als ausgestorben galten; an die zwanzig Alben befanden sich in diesem Garten, tranken Wasser aus der wie ein Teich angelegten Quelle, meditierten oder unterhielten sich miteinander und einige von ihnen spähten interessiert zu uns herüber, als sie uns bemerkten. Was mit Abstand das Unfassbarste an der Szenerie war: Die Sonne schien. Der gesamte Garten war mit Sonnenlicht geflutet. Woher es kam, wusste ich nicht. Ich konnte nicht einmal danach fragen, weil ich so ergriffen war, dass ich keinen Ton herausbrachte. Es war wunderschön. Und so warm. So lange ich mich zurück erinnern konnte, war es Tag für Tag nur grau und düster und kalt draußen gewesen. Mendrick schien ebenso überrascht und berührt zu sein wie ich. Yuris Augen waren weit aufgerissen und gerötet, weil er wie hypnotisiert ins Licht starrte. Erwin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, konnte aber nicht. Schließlich meldete sich Mendrick zu Wort. "Wie ist das möglich?", stieß er hervor. Ich sog gierig den Geruch von Rosen und frischem Quellwasser in die Nase und betete, diesen Duft niemals vergessen zu werden. "Wir haben etwas Huyana Wasser hierher gebracht und einen Teich angelegt", antwortete Noah. "Nein", sagte Mendrick, "ich meine nicht das Wasser. Ich meine..." - "Das Sonnenlicht? Oh, ja. Wir haben eine Möglichkeit gefunden, Sonnenstrahlen einzufangen und sie zu unserer eigenen Lichtquelle zu machen", sagte Noah dankbar, "ein kompliziertes Unterfangen. Es war unsere einzige Möglichkeit für die Hinterbliebenen unserer Art, zu überleben." Mendrick holte tief Luft. "Sonnenstrahlen einfangen", stutzte er, "wie soll das gehen?" - "Vincents Vater hat uns geholfen. Er war Magier. Wir hatten Glück, dass er sich unser so annahm, als er hörte, wie gnadenlos die Alben am verkümmernden Sonnenlicht zugrunde gingen. Er hat unsere Spezies vor dem Aussterben bewahrt. Ihm gebührt dafür ewig unser Dank." Vincent nickte stolz. "Als Vincent nach tragischem Tod beider Eltern im Albenreich Schutz suchte, haben wir ihn natürlich aufgenommen", fuhr Noah fort, "das ist das Mindeste, was wir unserem guten Freund und Retter Thorwald schuldig sind." - "Ich gehe hier nie wieder weg", hörte ich Yuri flüstern. Er kniete sich hin und vergrub seine Finger im saftig grünen Gras. "Ist ihr nicht wohl?", fragte mich Noah. "Sie ist ganz blass um die Nase." Meine Stimme zitterte, als ich antwortete: "Ich bin bloß so fasziniert. Das hier ist wie ein Stückchen Paradies." Noah lächelte. "Ja. Das ist es." - "Es ist doch nicht möglich, Sonnenstrahlen einzufangen", murmelte Mendrick, "wie soll das denn gehen...?" - "Vincents Vater kannte einen Weg", erwiderte Noah. "Wäre er nicht gewesen, hätte unsere Art nicht überlebt." Aurore kam zu uns herüber. "Ihr solltet dies Geheimnis lieber für euch behalten", sagte sie, "wenn andere herausfinden, dass wir Sonnenstrahlen eingefangen haben, werden sich alle möglichen Leute hier bei uns einquartieren wollen..." - "Wir sind bereit, alles was wir haben mit anderen zu teilen, Aurore", mahnte Noah. Aurore schnitt eine Grimasse und sah trotzdem immer noch unheimlich hübsch dabei aus, viel hübscher als ich, wenn ich eine Grimasse schnitt. "Das Problem ist", fuhr Noah fort, "wenn die Schneekönigin herausfindet, dass wir eine eigene Lebensquelle besitzen, wird sie uns das Licht wegnehmen und uns somit dem sicheren Tod aushändigen. Damit hätte sie erreicht, was sie wollte - die Eroberung eines weiteren Gebietes, ohne dabei den heiligen Grund und Boden