Klaus Melcher

Wolfskinder


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Meier war aufgestanden, drückte Müller freundlich, fast herzlich die Hand und geleitete ihn in die Sitzecke.

      „Sie sind früher zurückgekommen. Hat es Ärger gegeben?“

      „Im Gegenteil“, verneinte Müller, „es waren wunderbare Tage. Und wir wären auch länger geblieben, wenn Carmen nicht plötzlich wieder hätte zur Schule gehen wollen.“

      Es war wie in einem Film, den man plötzlich anhielt, mitten in der Bewegung.

      Dr. Meier konnte es nicht fassen, meinte, sich verhört zu haben, fragte noch einmal.

       Es musste sich um einen Irrtum handeln. Vielleicht wusste auch Müller nicht, was er sagte.

      „Sie haben richtig gehört. Ab heute geht Carmen wieder zur Schule.“

      Dr. Meier konnte es immer noch nicht glauben.

       Wie machte dieser Müller das bloß?

      „Und Sie meinen, sie bleibt dabei?“

      Heiko Müller nickte.

      „Aber warum? – Verstehen Sie mich richtig, ich freue mich natürlich, sehr sogar. Ich hatte bei ihr kaum Hoffnung. Umso schöner ist der Erfolg. – Aber warum geht sie auf einmal wieder zur Schule, nachdem sie“, er überlegte, „zwei, nein mehr als drei Monate fortgeblieben war?“

      Er lachte: „Haben Sie ihr Drogen gegeben?“

      „Ja“, sagte Müller ganz ernst, „so könnte man es nennen. Ja, wir haben Drogen genommen.“

      Völlig fassungslos sah Dr. Meier seinen Gegenüber an. Natürlich glaubte er ihm kein Wort. Er war zwar manchmal verrückt, hatte merkwürdige Methoden. Aber das ging zu weit. Das machte er nicht.

      „Wir haben uns ineinander verliebt“, sagte Heiko Müller einfach, als wäre es die selbstverständlichste Sache von der Welt, dass sich ein Jugendpsychologe in eine Sechzehnjährige verliebte.

      Dr. Meier musste sehr entgeistert ausgesehen haben, denn Heiko Müller schob nach:

      „Daran ist auch nichts mehr zu ändern. Wir haben uns in Lüttsiel verlobt.“

      „Aber warum?“, fragte er wieder, „warum in aller Welt haben Sie sich mit ihr verlobt?“

      „Weil wir uns lieben, das sagte ich schon. Und weil Carmen ein ungeheures Vertrauen in mich hat. Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie Vertrauen. Nicht weggestoßen zu werden, zu spüren, nein, zu wissen, dass sie für einen anderen Menschen der wichtigste Mensch überhaupt ist, ihre Liebe schenken zu können, rückhaltlos, sich völlig aufgeben zu können und zu wissen, man wird gehalten, das hat sie in diesen wenigen Wochen erlebt, die wir jetzt zusammen sind. Sagen Sie selbst: Kann sich ein Mann mehr wünschen?“

      Heiko Müller machte eine Pause.

      Dr. Meier sah ihm gerade in die Augen.

      „Sie wollen sie heiraten?“, stellte er fast fest.

      Heiko Müller nickte.

      „Ja, sobald es geht.“

      Dr. Meier dachte nach.

      „Sie wissen, es wird nicht ganz leicht sein, die Erlaubnis zu bekommen. Haben Sie schon mit den Eltern gesprochen?“

      Heiko schüttelte den Kopf. Sie wären ja gestern erst zurückgekommen. Aber wenn die Eltern drei Monate brauchten, das Verschwinden ihrer Tochter zu melden, dann nähmen sie wohl ihr Sorgerecht nicht so fürchterlich ernst.

       Das war überzeugend.

      „Wenn Sie wollen, werde ich versuchen, Ihnen etwas unter die Arme zu greifen. Vielleicht kann ich Ihnen den Hechtfisch vom Halse halten. Der ist ein ganz harter Hund und absolut nicht berechenbar. Wenn sich der Deuerlich mit ihrem Fall beschäftigt, dann sehe ich größere Chancen. Ich werde mich mal beim Familiengericht umhören.“

      Er erhob sich, und auch Heiko Müller stand auf.

      Die Männer gaben sich die Hand, und Dr. Meier hielt sie noch einen Augenblick länger als notwendig.

      „Wann, schwebt Ihnen vor, soll die Hochzeit sein?“

      „So früh wie möglich. Nach Möglichkeit noch vor Weihnachten.“

      „Und wo wohnt Ihre Braut bis dahin?“

      Der Chef hatte tatsächlich ‚Ihre Braut’ gesagt. Zum ersten Mal hatte Müller diese Anrede gehört. Wenn er Carmen das berichtete, würden sich wieder ihre Augen füllen, und er würde ihre Tränen trocknen müssen.

      „Bei Ihnen?“, beantwortete Dr. Meier selbst seine Frage.

      „Ja“, sagte er jetzt, als die Frage langsam zu ihm durchgedrungen war, „bei mir.“

      Erstaunt sah Frau Mehwald ihm nach, als er an ihr vorüberging, ohne zu grüßen, ohne eine nette Bemerkung.

      Wie in Trance öffnete er die Tür und schloss sie wieder.

      Sie wollte ihm noch etwas nachrufen, aber da war er schon weg.

      „Komisch“, murmelte sie, „so kenne ich ihn doch gar nicht.“

      Am liebsten wäre sie zu ihrem Chef gegangen und hätte ihn ausgehorcht, aber sie war lange genug seine Sekretärin, um zu wissen, dass sie keinen Erfolg damit haben würde. Nur er würde entscheiden, wann und ob und wie viel er etwas offenbaren würde.

       Sie würde sich auf den Kopf stellen können!

      Kapitel 21

      Der Schreibtisch war fertig: ein Rollcontainer links und rechts, darüber eine breite Holzplatte, die sicher viele Jahre überstehen würde, zwei PCs und zwei Bildschirme mit Tastatur, zwei Mousepads, Bücherstützen, ein Telefon.

      Jose war zufrieden.

      Gleich nach dem Besuch bei seinem Chef war er in einen kleinen Computerladen gegangen und hatte einen gebrauchten PC mit allem nötigen Zubehör gekauft. Es sollte keinen Streit geben, wer nun gerade am PC arbeiten durfte, und er nahm an, dass Carmen, wenn sie sich erst einmal daran gewöhnt hätte, ihn häufig nutzen würde.

      Die Rollcontainer und die Tischplatte hatte er preiswert im Baumarkt gekauft, der Aufbau war einfach und ging schnell.

      Das Bücherregal hatte er zur Hälfte frei geräumt und umgestellt. Jetzt stand es an der Wand neben Carmens Arbeitsplatz, direkt angrenzend an ihren Nachttisch. Sie sollte nicht immer aufstehen müssen, wenn sie sich ein Buch herausnehmen wollte. Die Rollen ihres Schreibtischsessels erlaubten ihr, sich sitzend in die richtige Position zu bewegen. Heiko hatte es ein paar Mal ausprobiert. Es war schon sehr komfortabel.

      Er sah nach der Uhr. Zwei Stunden, rechnete er, dann würde sie kommen.

      Eigentlich hätte er sie früher erwartet, nur um sich anzumelden, einige Formalitäten zu erledigen und vielleicht eine oder zwei Stunden in den Unterricht hineinzuschnuppern, dafür brauchte man nicht mehr als den halben Tag, aber was wusste er, wie sie diesen ersten Tag gestalten würde.

      Er wusch sich gründlich die Hände und band sich die Schürze um. Dann nahm er sein Arbeitsgerät aus dem Schrank, Brett, Messer, Pfanne, eine Schüssel, und begann mit den Vorbereitungen. Er hatte zwei herrliche Doraden bekommen, deren Augen so klar waren wie – einen Augenblick zögerte er, es zu denken – ja, wie Carmens.

      Er sortierte das Gemüse, betrachtete die sanft schimmernde Haut der Aubergine.

       Reiß dich zusammen!

      Obgleich seine Gedanken immer wieder abschweiften, gelang es ihm, seine Vorbereitungen abzuschließen, gerade noch rechtzeitig, bevor die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und Carmen herein stürmte.

      Sie warf die Tüte mit den Büchern auf das Sofa und flog Jose um den Hals.