Klaus Melcher

Wolfskinder


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sich das leise Getuschel gelegt hatte, fuhr sie fort:

      „Carmen hat mir gestattet, davon zu sprechen. Sie hat über drei Monate gefehlt. Sie ist von Zuhause ausgerissen und hat auf der Straße gelebt.“

      „Auf dem Straßenstrich?“

      Marc lachte anzüglich, machte eine entsprechende Geste und sah sich Beifall heischend in dem Raum um. Einige Jungen reagierten, die meisten Mitschüler fanden seine Bemerkung gar nicht so witzig.

      Ob sie Carmen mochten, nachdem sie sich drei Monate etwas getraut hatte, wovon sie nur träumen konnten, das wussten sie nicht. Aber sie mochten auch nicht Marcs Zoten. Wahrscheinlich war er ein ganz kleines, armes Arschloch, das nur so tat, als ob.

      Frau Rowisch überging die Bemerkung.

      „Jetzt ist sie zurückgekehrt und will das Abi machen.“

      „Und weshalb ist sie weggegangen?“

      Jeder in der Klasse spürte die Aggressivität in der Stimme. Nein, Carmen war nicht mehr eine von ihnen.

      Eigentlich war es Carmen peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen, aber sie riss sich zusammen und sah ganz offen ihre Mitschüler an. Sie sah Petras kalten Blick und wusste, sie müsste sich vor ihr in Acht nehmen, sie sah die anderen, die an ihrem Schicksal interessiert waren, und sie sah die wenigen, die sie beneideten.

      „Willst du uns etwas von dir erzählen?“, fragte die Rowisch.

      Einen Augenblick war Carmen verlegen.

      Was sollte sie erzählen? Was erwartete man von ihr? Konnte sie ihr Elternhaus erwähnen? Konnte sie sagen, dass alles da angefangen hatte. Dass sie es nicht mehr hatte aushalten können mit dem ständig besoffenen Vater, mit der Mutter, die nie da war? Konnte sie erzählen von all den Enttäuschungen und den vielen Wunden, die ihre kleine Seele davongetragen hatte? Konnte sie erzählen, wie sie ganz unten gewesen war? Und wie sie ihn getroffen hatte und was er für sie bedeutete?

      Ohne dass sie sich dessen bewusst wurde, hatte sich Carmen auf die Ecke des Lehrertisches gesetzt.

      „Wisst ihr“, begann sie, noch zögernd, „zu Anfang wollte ich nur weg. Zu Hause hielt ich es nicht mehr aus. Und dann traf ich Ruka, einen ganz coolen Typ. An den kam keiner ran. Er brauchte nur eine Handbewegung zu machen, und alle kuschten. Jedes Mädchen wollte ihn haben. Er hatte die Auswahl.“

      „Du auch?“, fragte eine Mitschülerin.

      „Mich hat er überhaupt nicht beachtet.“

      Auf einmal herrschte gespannte Aufmerksamkeit in der Klasse.

      Wie war das Leben auf der Straße? War es gefährlich? Wurde man beklaut? Wo schlief man? Woher bekam man Essen? Wo konnte man sich waschen? Wo seine Wäsche wechseln?

      „Wo hast du gelebt? Was heißt, auf der Straße leben?“

      „Nicht, was Marc meint. Ich habe im Bahnhof gelebt, auf dem Raschplatz, hinter der Auffahrt zum Parkhaus, da haben wir uns eingerichtet, zwei Jungen und drei Mädchen, alle ungefähr so alt wie ich. Und wir waren in der Passerelle, aber nur bis sie den Sicherheitsdienst hatten. Und manchmal war ich im Güterbahnhof. Da konnte man auch mal ein Feuer machen. Einer hatte einen kleinen Kocher dabei, dann haben wir zusammengelegt und uns eine Büchse Erbsensuppe warm gemacht.

      Und wenn es einige Tage geregnet hatte, konnte man seine Kleidung trocknen. Das war auf dem Bahnhof nicht möglich.

      Wenn das Wetter gut war, habe ich unter Brücken gelebt. Am liebsten unter den Ihme-Brücken. Aber dann gab es diese zerstückelte Fraueneiche, die man in Säcken gefunden hatte. Da sind wir ganz schnell weggegangen. Nicht weil wir Angst hatten, aber die Polizei hätte uns aufgegabelt und mitgenommen.“

      Es war ruhig geworden in der Klasse. Auch Marc sagte nichts mehr und sah etwas beschämt aus dem Fenster.

      „Wovon hast du denn gelebt? Ich meine, du musstest doch irgendwann essen?“, fragte Lena.

      „Ich habe das gegessen, was die Kunden in den Imbissbuden übrig gelassen hatten, ein halbes Brötchen mit Ketchup oder einen Löffel Suppe. Weißt du“, sagte sie, als sich Lena vor Ekel schüttelte, „wenn du Hunger hast, isst du alles.“

      „Und warum gehst du auf einmal wieder zur Schule?“, wollte Petra wissen und funkelte Carmen herausfordernd an, „was ist jetzt so anders als vorher?“

      Carmen sah sie lange an, sagte nichts, hatte ihre Hände in ihren Schoß gelegt und schien sie zu betrachten.

      „Kannst du dir vorstellen, ich sitze im Unterricht neben dir, seit Tagen ungewaschen, mit strähnigen Haaren, schmutziger Kleidung, stinkend.

      Würdest du mich willkommen heißen?

      Du würdest die Nase rümpfen, dich abwenden, würdest dich auf einen anderen Platz setzen. Ich könnte es dir nicht verübeln.

      Wenn du es dir einmal in der Woche leisten kannst, dir auf dem Hauptbahnhof die Hände zu waschen und vielleicht das Gesicht, wenn du höchstens einmal im Monat auf dem Autohof duschen kannst, wer kann dich dann ertragen?“

      „Du könntest doch in der Schule duschen, vor dem Sportunterricht.“

      Petra war noch nicht bereit aufzugeben.

      „Irgendwann, und das geht sehr schnell, fühlst du dich nur noch wie Dreck. Und du kannst nur noch leben, wo Dreck ist.“

      Es war still geworden im Klassenraum.

      „Und wie hast du es geschafft, da wieder raus zu kommen?“

      Die Frage war ganz leise gestellt worden, irgendwo aus der hinteren Ecke. Keiner drehte sich um, um zu erfahren, wer sie gestellt hatte. Sie alle hätten sie stellen können, hätten sie stellen mögen.

       Wie konnte jemand, der so tief unten gelandet war, auf einmal wieder aufstehen?

      Carmen hielt immer noch ihren Blick gesenkt, betrachtete lange ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten, schwieg.

      Es schien, als wagte niemand zu atmen, aus Angst, diese Stille zu stören. Man hätte eine Feder hören können, die zu Boden schwebte.

      Ganz langsam hob Carmen ihren Blick.

      Lächelte.

      Glücklich.

      Ganz weit weg verlor sich ihr Blick.

      Sie trocknete die Tränen nicht, die ihre Wangen hinab rannen.

      „Ich habe meinen Liebsten gefunden“, hauchte sie, kaum vernehmbar.

      Kapitel 20

      Wieder stand sie vor dem Spiegel, richtete wie jeden Morgen ihre Haare, die Ausreißer, die sich immer selbständig machten.

      Heute war es besonders schlimm. Sie hatte es nicht geschafft, ihre Haare zu waschen, obgleich sie heute eigentlich dran gewesen wären.

      Und nun hatte sie die Mühe! Erst zu Hause im Bad, hatte endlich Ordnung in ihre Frisur gebracht, hatte sie mit viel Haarspray doch noch zügeln können, und dann kam ein Windstoß, als sie den Wagen verließ. Und die ganze Pracht war vorbei.

      Nicht, dass der Turm umgestürzt wäre, so schlimm war es nicht, aber er war in der Diagonale verschoben. Schief thronte er auf ihrem Kopf, für den ganzen Tag ruiniert, denn ihr ganzer Vorrat an Spray würde nicht reichen, um ihm die beabsichtigte Form zu geben. War hier eine widerborstige Strähne gebändigt, riss dort wieder eine aus.

      Sichtlich genervt rief Frau Mehwald: „Herein!“ und steckten den Toupierkamm quer zwischen die Lippen.

      Erst als sie ihren Besucher erkannte, hellte sich ihr Blick auf, straffte sich der Rücken.

      Kerzengerade stand sie da, mit vorgestreckter Brust, sagte: „Ich will mal sehen, ob der Chef schon Zeit hat“, und tackerte zur Verbindungstür.