Klaus Melcher

Wolfskinder


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Formsache, stünde die Entscheidung von Anfang an fest, sicher war er sich ganz und gar nicht. Er kannte genügend Fälle, in denen das Gericht die Zustimmung verweigert hatte. Diese ein oder zwei Jahre bis zur Volljährigkeit könnte das Mädchen noch warten, dann könnte es selbst entscheiden, war fast immer die Begründung.

       Halt! Da müsste man ansetzen!

       Diese zwei Jahre hatte Carmen nicht! Sie würde diese Zeit nicht ohne Schaden überstehen, wenn sie dem Einfluss ihres Vaters weiterhin ausgesetzt wäre. Sie musste aus diesem Umfeld herausgeholt werden!

       Er hatte gesehen, wie sie unter dem Vater litt.

       Schon einmal war sie von Zuhause ausgerissen, da war sie gerade dreizehn Jahre alt. Hatte sich im alten Güterhauptbahnhof herumgetrieben. Buchholz hatte sie damals aufgestöbert, als er und ein Kollege einen anderen Ausreißer suchten. Er hatte ihr eine tüchtige Standpauke gehalten und sie nach Hause gebracht. Noch einmal, hatte er damals gedroht, und sie käme in ein Heim. Da würde sie bleiben, bis sie achtzehn wäre.

       War es ein Wunder, dass sie wieder ausgerissen war?

       Carmen brauchte Schutz, eine Person, der sie absolut vertrauen könnte. Sie brauchte Zuneigung, Liebe.

       Und diese Person wollte er sein.

       Er würde es dem Gericht schon vermitteln.

      Kapitel 16

      Mit energischen Schritten kämpften sich Buchholz und sein junger Kollege Harms durch die Menschenmassen, die von den Bahnsteigen nach unten quollen.

      Sie hatten es eilig und stießen rücksichtslos die Reisenden und Flanierenden zur Seite.

      Sie hatten den Tipp bekommen, ein Ausreißer, den sie schon lange suchten, hielte sich unterhalb des Parkhauses auf, zusammen mit zwei weiteren Jugendlichen, die wohl auch ausgerissen wären, aber aus dem Umland kämen.

       Drei auf einen Streich, das würde seine Bilanz tüchtig aufbessern. Und das alles ohne die Hilfe des Kuschlers! Jetzt könnte er unter Beweis stellen, dass seine Methode wirklich die bessere war.

      Die Menschenströme verteilten sich.

      Die Rolltreppe zu den Gleisen der Nahverkehrszüge sogen ihre Fahrgäste auf, andere drängten sich an den Rolltreppen zur U-Bahn oder hasteten die breite Treppe hinunter. Nur wenige nahmen den Ausgang zum Raschplatz.

      Sie gingen an den Taxis vorbei und sahen sich um.

      Von der anderen Seite des Platzes sahen sie in weitem Bogen zwei Männer auf das Parkhaus zugehen. Sie hatten es nicht besonders eilig, schienen aber zielstrebig zu sein, Geschäftsmänner, die ihr Auto abholen wollten.

      Als die Jugendlichen, ein Junge und zwei Mädchen von vierzehn bis sechzehn Jahren, merkten, dass die vier Männer nicht harmlose Autofahrer waren, sondern dass ihr Besuch ihnen galt, war es für eine Flucht zu spät. Sie saßen in der Falle.

      Dem jüngeren Mädchen, feuerrote Haare mit violetten Strähnen, sah man das Leben auf der Straße besonders an. Tiefe Ringe unter den glasigen Augen, verdreckte, abgerissene Kleidung, bot es den Anblick tiefster Verwahrlosung. Es reagierte kaum, als die Beamten ihre Personalien überprüften, zog endlich in aller Ruhe einen zerknitterten Fetzen Papier vor und wandte sich wieder ab.

      Die Polizisten sahen sich vielsagend an.

      „Hast du nicht noch andere Papiere? Einen Perso zum Beispiel?“

      Das Mädchen reagierte nicht.

      „Völlig zugekifft“, meinte Buchholz.

      Der ältere der beiden Polizisten nickte und wandte sich dem Jungen zu.

      „Wer seid ihr eigentlich, dass ihr uns kontrollieren könnt?“

       Immerhin, er war noch klar, einigermaßen wenigstens.

      Buchholz wollte ihn anschnauzen, er hätte gefälligst seinen Ausweis zu zeigen, sie kämen vom Jugendamt und die beiden Herren wären von der Polizei, aber der Beamte hielt ihn zurück.

      „Lassen Sie mal, wir kommen mit dem Jungen schon zurecht.“

      Nachdem sie einige Minuten mit ihm geredet hatten, sich sein Gepäck hatten zeigen lassen, baten sie ihn und die beiden Mädchen, in ihr Fahrzeug einzusteigen, und fuhren mit ihnen zur Wache.

      „Nur um eure Personalien zu überprüfen“, versicherten sie, „und euch dann nach Hause zu bringen. Da macht man sich bestimmt schon Sorgen.“

      Das ältere Mädchen, es hieß Sonja, lachte laut auf.

      „Sorgen? Die bestimmt nicht!“

      Schweigend fuhren Buchholz und sein junger Kollege zurück zum Büro.

      Sie hatten einen erfolgreichen Vormittag hinter sich, und Buchholz wollte die Sache schnell hinter sich bringen, seinen Bericht schreiben und ihn abheften. Es war eine fantastische Gelegenheit, Harms einzuarbeiten.

       Wenn die jungen Kollegen gerade von der Schule kamen, waren sie doch eine arge Belastung, störten den ganzen Ablauf. So etwas theoretisch zu üben, brachte gar nichts und kostete unnötig viel Zeit. Wann hatte so ein junger Referendar schon mal die Möglichkeit, einen Einsatz von Anfang an bis hin zum Abschluss mitzuerleben?

       Er würde Harms das ältere Mädchen übertragen. Das machte einen etwas einfacheren Eindruck. Aufmüpfig war auch sie, aufmüpfig waren sie alle, man konnte sich fast freuen, wenn sie einen nicht beschimpften, traten und bespuckten; aber es war wenigstens noch einigermaßen zugänglich.

      Sie verließen die Straßenbahn am Küchengarten, gingen über die Fußgängerbrücke, schlängelten sich vorbei an den Baustellenabsperrungen und kamen zu dem Trakt, in dem das Jugendamt residierte.

      Ohne sich irgendwo aufzuhalten, steuerten sie Buchholz’ Zimmer an, das durch den Zugang etwas eng geworden war. Man hatte einfach einen zweiten, kleineren Schreibtisch gegen den von Buchholz gestellt. Es wäre nur eine vorübergehende Notlösung, hatte man versichert. In zwei, drei Wochen würde Harms einem anderen Sachbearbeiter zugeteilt, der dann die Ausbildung fortsetzen würde.

      Nachdem Buchholz erst einmal fast bissig reagiert hatte, weil man ihm seine Ruhe störte, hatte er sich doch sehr schnell an den Neuen gewöhnt. Er war einfach zu nehmen und sehr gefällig. Wenn Buchholz eine Akte brauchte, reichte er sie ihm, ging notfalls auch ins Archiv, fragte ihn um Rat und nahm ihn auch gerne an. Nicht so wie viele andere, die nur fragten, um sich einzuschmeicheln, und dann doch taten, was sie für richtig hielten.

      Nein, Harms entwickelte sich immer mehr zum Glücksgriff.

      Harms hatte drei nagelneue Aktendeckel in der Hand, als er das Büro betrat.

      „Wo haben Sie denn die aufgegabelt?“

      Buchholz war erstaunt. In seiner ganzen Amtszeit hatte er noch keinen neuen Ordner gesehen. Alle waren beschrieben, gestempelt, hatten Eselsohren und Flecken.

      Harms grinste und machte eine unmissverständliche Handbewegung.

      „Und wo?“

      „Bei Frau Mehwald. Ich habe ihr ein paar Komplimente gemacht, da hat sie mir die Deckel freiwillig gegeben.“

      Harms reichte zwei Deckel über den Schreibtisch und behielt einen für sich.

      „Wollen Sie in der Herschelstraße anrufen, oder soll ich?“, fragte er.

      Buchholz war begeistert. Erst die Aktendeckel, dann wollte ihm Harms auch noch das langweilige Gespräch mit den Beamten abnehmen.

      Wenig später saßen die beiden Männer an ihren Schreibtischen, hatten eine Tasse dampfenden Tees rechts neben und einen Aktendeckel vor sich, den sie sorgfältig beschrifteten:

      Name,