Klaus Melcher

Wolfskinder


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nahm ihre Zuflucht zu einem fürchterlichen Hustenanfall, konnte sich gar nicht wieder beruhigen, musste sich die Tränen wischen.

      Als sie den Anfall überwunden hatte, dankte sie. Sie würde es ihrem Mann ausrichten. Ach, da käme er ja, sie könnte selbst mit ihm sprechen, er wüsste am besten, was er brauchte, er wäre nämlich der Koch bei ihnen.

      Ganz selbstverständlich ging das Carmen über die Lippen. Wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, verheiratet zu sein.

       Ob das wirklich so schnell ging, wenn es Wirklichkeit wäre?

      „Ihre Frau hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Wir haben nämlich vorgestern Lamm geschlachtet. Und wenn Sie etwas mögen, können Sie es bekommen, bevor wir es einfrieren. – Frisch ist ja doch besser als eingefroren, finden Sie nicht auch?“

      Wieder durchströmte es Carmen warm, als Frau Andersen ‚ihre Frau’ zu ihm sagte.

      Sie hörte gar nicht zu, was Jose antwortete, was die beiden verabredeten, ob sie heute nun Lamm essen würden. Das alles war überhaupt nicht wichtig!

       Sie würde alles tun, was Jose von ihr verlangte!

       War das normal?

       Sie hatte den täglichen Streit ihrer Eltern miterlebt, war vor ihm zu ihren Freundinnen geflohen, sie hatte von ihren Freundinnen gehört, dass sie sich manchmal, manche sogar häufig mit ihrem Freund stritten, und immer weil einer von beiden seinen Kopf durchsetzen wollte.

       Das würde ihr nicht passieren!

      Jose kam zurück. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er Frau Andersen ins Haus gefolgt war und eine Lammschulter erstanden und in den Kühlschrank gelegt hatte.

      Sie sah ihn an, immer noch selig und wie ganz weit weg, sie sah, wie sein Gesicht größer und immer größer wurde, bis sie nur noch die Augen sah, da spürte sie seinen Kuss und schloss die Augen.

      „Hast du geträumt, Carmencita?“

      Sie lächelte.

       Ja, sie hatte geträumt, und sie würde immer häufiger träumen – seit heute.

      „Hast du wieder geträumt?“, fragte Jose noch einmal, und sein Gesicht kam näher, verdunkelte die Sonne, verdeckte die weißen Wolken, die langsam über den blauen Spätsommerhimmel zogen.

      Carmen zog die Schultern hoch, streckte die Arme aus und zog Joses Kopf zu sich herunter.

      Sie war glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Nichts glich diesem Augenblick, und er währte schon so lange.

      „Lass uns ins Wasser gehen, sonst ist Ebbe, und wir waren erst einmal baden.“

      Er hatte Recht.

      Zum Baden waren sie schließlich hierher gefahren.

      Sie waren Frau Andersens Empfehlung gefolgt und hatten sich, ungeübt wie sie waren, das ganze Stück auf der Deichkrone gegen den Wind gekämpft, bis sie den Strand von Lüttsiel erreicht hatten.

      Die Fahrräder hatten sie zusammen gekettet auf dem Vorland gelassen und waren die wenigen Schritte gegangen, bis sie in dem weißen Sand eine besonders schöne Stelle fanden. Hier musste eine Familie, wohl mit Kindern, gelagert haben. Noch waren die Überrest einer Sandburg zu sehen, bald würde der Wind sie eingeebnet haben.

      Kurzerhand hatten sie die Burg annektiert, in die Kuhle ihre Badetücher gelegt, auf den Rand die spärliche Kleidung, die sie getragen hatten.

      Ein Handtuch hatte Jose im Meer angefeuchtet und über den Picknickkorb gebreitet.

      Carmen richtete sich auf und sah den Strand entlang.

      „Meinst du, hier kann man?“

      Jose nickte, beide zogen ihre Badekleidung aus, fassten sich bei der Hand und liefen zum Wasser.

      Sie traten auf das feste Watt, das Wasser spritzte unter ihren Füßen, liefen weiter, es fiel schon schwerer, das Tempo zu halten, schließlich stakten sie wie Störche, bückten sich und bespritzten sich, schreiend vor Vergnügen.

      Mit einem angedeuteten Kopfsprung stürzten sie sich ins Wasser, schwammen einige kräftige Züge, als wollten sie Abstand vom Land gewinnen, immer weiter und weiter. Sie schwammen aufeinander zu, umarmten sich, traten das Wasser, als sie merkten, dass ihre Füße nicht mehr den Grund berührten, spürten, wie die Strömung sie nach draußen aufs offene Meer zog.

      Sie kehrten um, schwammen mit kräftigen Zügen zum Strand.

      ‚Zwei Schritt vor, einen zurück’, wer hatte das doch gesagt?

      Carmens Kraft ließ nach. Erst schmerzten nur die Oberarme, doch dann wurden ihre Beine lahm.

       Jetzt bloß nicht aufgeben!

      Ihr Atem keuchte.

      Verzweifelt sah sie nach Jose. Der schien nichts zu spüren. Ruhig bewegte er seine Arme und Beine. Ohne Mühe schien er einen Meter um den anderen zu gewinnen. Da begegneten sich ihre Blicke.

      Jose sah ihre Angst, war mit zwei Zügen bei ihr.

      „Halt dich an meinen Füßen fest! Und wenn du kannst, hilf mit den Füßen mit!“

      Sie hatten nicht weit zu schwimmen, bis sie festen Boden unter den Füßen hatten, doch es erschien Carmen unendlich weit.

      Die letzten Meter durch das hüfthohe Wasser nahm Jose sie auf den Arm und trug die Erschöpfte auf den Strand, legte sie auf eins der Badetücher, rubbelte sie ab und deckte sie mit seinem Badetuch zu.

      Als sie protestieren wollte, drückte er sie sanft auf das Badetuch zurück.

      „Bleib bitte!“, sagte er und legte sich neben sie, um sie zu wärmen.

      Er wollte nichts von ihr, obgleich er nackt neben ihr lag und sie seine Erregung zu spüren meinte, als er sich ganz eng an sie presste.

      Er umfasste ihren Körper, und wohlige Wärme durchströmte alle ihre Glieder.

      „Deine Hände sind noch kalt, steck sie unter meine Achseln.“

      Sie folgte.

      Seine Arme lösten ihren Druck, gaben sie aber noch nicht frei, doch sie hätte sich befreien können, wenn sie gewollt hätte. Er hätte sie nicht gehalten.

      Ungeheuer liebevoll sah er sie an.

      „Nächstes Mal sind wir vorsichtiger“, sagte er und gab ihr einen Kuss.

      Schneller als er dachte, hatte sich Carmen erholt. Davon dass sie noch kurz zuvor fast Todesangst gehabt hatte, war nichts mehr zu merken. Wie ein Kind lief sie kreuz und quer über den weißen Sand, forderte Jose auf: „Fang mich doch!“, schaffte es immer wieder im letzten Moment, ihm zu entwischen.

      Sie war jung, geschmeidig, flink, ihm überlegen.

      Sie spielte mit ihm, sie genoss seine Atemlosigkeit, seine vergeblichen Versuche, sie zu fangen. Bis sie ein Einsehen mit ihm hatte. Schließlich hatte er seine ganze Kraft im Meer gelassen.

      Auf dem festen Watt blieb sie stehen und fing ihn mit ihren Armen auf.

      „Nimm mich!“, flüsterte sie, ließ sich auf das Watt fallen und zog ihn zu sich herab.

      Kapitel 13

      Bis nach dem Abendessen hatten sie es geschafft. Sie hatten geduscht und das Salzwasser von ihren Körpern gewaschen, hatten sich sorgfältig eingecremt, hatten nebeneinander in der Kochecke gestanden, die Lammschulter in den Backofen geschoben, Paprika geschnitten und Kartoffeln geschält, hatten sich mit einem Glas Wein auf die Terrasse gesetzt, warteten gemeinsam, bis das Essen fertig war, hatten es genossen – und hatten nicht über das eine Thema gesprochen.

      Es war, als wartete