Klaus Melcher

Wolfskinder


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      Er stand auf und ging ans Fenster. Als gäbe es da draußen etwas Interessantes zu sehen, starrte er ins Dunkel.

      Fast schwarz schien ihm die Nacht.

      Natürlich war sie es nicht. Die Lichtreklamen waren hell wie immer, die Straßenlampen leuchteten nicht weniger hell, die Scheinwerfer der Autos, die über die Benno-Ohnesorg-Brücke fuhren, waren auch nicht auf einmal matter.

      Es war wie immer.

      Und doch war es anders.

      Carmen war ihm leise gefolgt. Ganz klein und verschüchtert stand sie hinter ihm, lehnte ihren Kopf an seine Schulter - und schwieg.

      Er spürte, sie wollte etwas sagen, aber er konnte ihr nicht helfen.

       Er könnte sich zu ihr umdrehen, sie in den Arm nehmen und ihr über das Haar streichen. Vielleicht wäre das richtig, aber warum sollte er das tun? Und wie würde sie es aufnehmen? Als Zeichen dafür, dass sie gescheitert waren?

       Vielleicht war das auch das Beste, sich einzugestehen, dass ihre Beziehung beendet war, dass sie einfach keinen Bestand haben konnte, dass sie, wenn nicht heute, so doch morgen oder in einem halben Jahr auseinander brechen würde.

       Ein Endzwanziger verliebt sich in eine Sechzehnjährige, lebt mit ihr zusammen, schläft mit ihr! Wenn er Glück hatte, kam er um eine Strafe herum. Aber wie vertrug sich das mit seinem Beruf? Seine Aufgabe war es, die Kinder und Jugendlichen zu reintegrieren, nicht ein Verhältnis mit ihnen anzufangen. Wenn auch das Gericht von einer Strafe absähe, sein Arbeitgeber würde nicht Milde walten lassen. Er sah schon die Schlagzeilen in den Boulevardzeitungen, und nicht nur dort. Bei der ‚Treppe‘ war er dann untragbar.

       Heiraten, dieser verrückte Traum wäre ausgeträumt, bevor er wirklich Gestalt angenommen hätte.

       Er hatte gelächelt, als er gesehen hatte, dass sie sich heimlich Brautmoden im Internet angesehen hatte. Hatte gelächelt über ihre kindliche Fantasie und Ungeduld. Und über ihre ungestüme Liebe, die keinen Aufschub duldete. ‚Wir müssen zwei Jahre warten, oder deine Eltern stimmen zu’, hatte er gesagt, und sie hatte nur gelacht.

       Wie tief müsste sie ihren Fall empfunden haben, gestern noch Braut, heute nur der Fall eines Streetworkers?

      Immer noch starrte Heiko nach draußen.

      Carmen hatte sich von ihm gelöst, er hatte es kaum wahrgenommen.

       Wenn sie jetzt das Sofa fertig macht, ist es vorbei!

      Ein Auto fuhr mit hoher Geschwindigleit über die Benno-Ohnesorg-Brücke, überholte mal links, mal rechts, verfolgt von einem Streifenwagen mit Blaulicht.

      Es interessierte ihn nicht, und doch starrte er auf das Bild, sah, wie der Streifenwagen auf die Gegenfahrbahn fuhr und plötzlich quer vor dem Verfolgten stand. Er meinte zu hören, wie sich das Auto in die Seite des Streifenwagens bohrte.

      Auch das interessierte ihn nicht.

      Und doch starrte er unentwegt auf diesen Film, der vor ihm ablief.

      Er fühlte sich leer. Daran hatte auch diese Verfolgungsjagd nichts geändert.

       Er könnte die ganze Nacht hier stehen, könnte beobachten, wie Häuser, ganze Stadtteile abbrannten, auch das würde nichts ändern.

      Als hätte er keinen Willen, ging er ins Schlafzimmer. Carmen lag in ihrer Hälfte des Bettes, auf dem Bauch, hatte ihr Gesicht im Kopfkissen vergraben.

      Leise zog er sich aus und legte sich neben sie.

      Lange hielt er es nicht aus. Er drehte sich zu Carmen, hob ein klein wenig die Decke, die sie bis zum Kopf hochgezogen hatte, umfasste ganz sanft ihre Schultern und gab ihr einen Kuss, genau zwischen die Schulterblätter.

      Er wusste, sie liebte es, wenn er sie an dieser Stelle küsste, sie zog dann immer die Schulterblätter zusammen, so dass ein kleiner Graben entstand, in den seine Zungenspitze genau passte. Sie ruschelte sich dann immer wohlig, als wollte sie ihn auffordern fortzufahren.

      Und nur zu gerne tat er es.

       Wenn sie jetzt den kleinen Graben machte, würde alles wieder gut werden!

      Mit einem Schrei drehte sich Carmen um, stieß Heiko so heftig an, dass er auf den Rücken rollte, warf sich auf ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Es war wie eine Naturgewalt, als wäre ein Damm gebrochen, als ergössen sich ungeheure Wassermassen über das Land.

      Heiko spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen, auf ihrem Gesicht.

      „Carmencita“, flüsterte er, „Carmencita!“

      „Schläfst du schon?“, fragte sie Stunden später ganz leise, um ihn nicht aufzuwecken.

      Sie lag neben ihm, hatte ihr Gesicht ihm zugewandt, ihr rechtes Bein ruhte auf seinen Beinen, ihre Hand auf seinen Schamhaaren. Seine Hand hatte er auf ihre rechte Hüfte gelegt, hatte sie eine ganze Weile zärtlich gestreichelt, dann hatte er, als wäre er eingeschlafen, aufgehört.

      Lange und intensiv hatte sie nachgedacht, während sie so schweigsam nebeneinander lagen, sich leicht liebkosten, als geschähe es unbeabsichtigt.

       Ja, sie würde bei ihm bleiben, allen Widerständen zum Trotz. Sie würde auch wieder zur Schule gehen, wenn er es wünschte.

       Aber sie würde nicht zu ihren Eltern zurückkehren. Sie würde bei ihm bleiben! Sie könnte sich sogar damit abfinden, wenn er ab und zu einen Jungen oder ein Mädchen mit nach Hause brächte. Aber im Wohnzimmer müssten die schlafen. Und passieren dürfte auch nichts, das würde sie zur Bedingung machen.

       Bedingung?

      Sie konnte sich nicht vorstellen, Jose jemals eine Bedingung zu stellen.

      Jose merkte, wie es in diesem kleinen Kopf arbeitete.

      „Komm“, sagte er, „ich habe eine Idee.“

      Und damit hob er ein wenig ihren Kopf, gerade so viel, dass er sich von ihr lösen konnte, und stand auf.

      „Komm“, sagte er noch einmal, zog sie an der Hand aus dem Bett und führte sie ins Wohnzimmer. Er stellte das Notebook auf den Couchtisch und startete es.

      Carmen sah ihn fassungslos an.

       Eben hatten sie die schwerste Krise erlebt, hatten sie gerade einigermaßen überwunden, und er wollte sich irgendetwas im Internet ansehen! Sie fasste es nicht.

      „Komm!“, bat er noch einmal und zog sie auf den Sitz an seiner Seite.

      Er tippte etwas ein, und während er wartete, dass die Seite aufgebaut wurde, sagte er: „Wir haben uns ein paar Tage Urlaub verdient, meinst du nicht? Ein paar Tage nur wir, irgendwo, wo uns keiner kennt.“

      Kapitel 9

      Wie jeden Morgen zu Dienstantritt stand Ingeborg Mehwald vor dem Spiegel, der oberhalb des Handwaschbeckens in ihrem Büro angebracht war, etwas zu tief, so dass sie immer ein klein wenig in die Knie gehen musste, wollte sie ihren ganzen Kopf betrachten. Lippen schminken, den Lidstrich nachziehen, das wäre auch so gegangen, aber es kam ihr auf die Frisur an, und die konnte sie nur sehen und gegebenenfalls richten, wenn sie in die Knie ging.

      Und zu richten gab es jeden Morgen etwas, sei es, dass sie zu Hause nicht gesehen hatte, dass sich eine Locke oder Strähne selbständig gemacht hatte oder dass ein Windhauch die schön geordnete Pracht in Aufruhr versetzt hatte.

      Und gab es wirklich mal nichts auszusetzen, dann wurde trotzdem mit einem Nebel von Haarspray nachbetoniert.

      Es gab kaum jemanden im Amt, der nicht seine Witzchen machte, der nicht vorsichtig mit den Fingerspitzen seine Haare berührte, als wollte