Klaus Melcher

Wolfskinder


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und sich von dem anstrengenden Tag erholen zu können.

      Seine erste Arbeit war das Aktivieren eines zweiten Wohnungsschlüssels.

      Als er mit seiner Tätigkeit begonnen und sich entschlossen hatte, seine Klienten mit nach Hause zu nehmen, hatte er sich dieses Schließsystem besorgt, und es hatte sich bis heute bewährt. Man konnte zwar einen Nachschlüssel anfertigen, aber der nützte nichts. Er verfügte nicht über die nötige Elektronik, die erst das Öffnen und Schließen einer Tür ermöglichte.

      Müller schob den Schlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz, gab einen Code ein und drückte die Enter-Taste. Ein kurzes Summen ertönte, während ein grünes Lämpchen leuchtete, und der Vorgang war abgeschlossen. Zur Kontrolle zog er die Tür zu, steckte den Schlüssel in das Schloss und öffnete ohne Schwierigkeit die Tür.

      Als Nächstes öffnete er den Garderobenschrank und klappte ein Schuhregal zur Seite. Zum Vorschein kam ein kleiner Tresor, den er fest an der Wand verankert hatte. Nur mit sehr viel Aufwand würde man ihn entfernen oder öffnen können.

      Er öffnete die Tür, entnahm ihm ein schwarzes, etwas abgegriffenes Notizbuch und steckte es in die Gesäßtasche seiner Jeans.

      Dann machte er sich an das Frühstück.

      Als er auch das fertig hatte, ging er ins Schlafzimmer.

      Carmen schien noch immer zu schlafen. Ganz friedlich lag sie im Bett, hatte sich in ihr Kopfkissen gekuschelt. Schien etwas besonders Schönes zu träumen, denn sie lächelte im Schlaf.

      Vorsichtig beugte sich Jose über die Schlafende, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.

      Sie musste seine Anwesenheit gespürt haben, denn sie drehte sich auf den Rücken, räkelte sich, gähnte herzhaft, immer noch mit geschlossenen Augen, streckte ihre Arme, und hatte auf einmal seinen Nacken gefangen, zog Jose mit einem Ruck zu sich hinab.

      „Reingefallen!“, jubelte sie.

      „Musst du wirklich weg?“, fragte sie, als sie wenig später beim Frühstück saßen.

      „Ja“, antwortete er, „ich muss mich mal bei der Arbeit sehen lassen. Man erwartet mich in“, er sah auf seine Armbanduhr, „in zwanzig Minuten.“

      „Und was soll ich machen, hier, so ganz allein?“

      Sie könnte hier bleiben, Radio hören, fernsehen, ein Buch lesen. Auch aufräumen könnte sie. Der Staubsauger wäre im Besenschrank. Das Bad und die Küche könnte sie auch wischen. Zu tun gäbe es wirklich genug.

      Sie könnte aber auch rausgehen, ihre neuen Klamotten ausführen. Er legte ihr einen Zehn-Euro-Schein hin.

      „Für ein Eis oder einen Drink.“

      Nur aufpassen sollte sie. Sicher würde sie gesucht, und irgendwer würde sie vielleicht erkennen. Sie sollte sich unbedingt merken, wo die Wohnung wäre. In diesem Gewirr könnte man sich leicht verlaufen.

      Müller ging durch das breite Portal, vorbei an dem Pförtner, der ihn wie immer freundlich grüßte und auf ein kleines Schwätzchen hoffte, aber heute hatte Müller keine Zeit.

      „Tut mir Leid, heute habe ich es eilig“, sagte er, machte ein bedauerndes Gesicht und war schon die breite Treppe nach oben geeilt. Auch die nächste Treppe nahm er im Eilschritt, immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, wandte er sich nach rechts, durchschritt eine grau lackierte Schwingtür und gelangte am Ende des nahezu abweisenden Ganges zu Buchholz’ Zimmer.

      Auf sein Klopfen antwortete ein donnerndes „Herein“, und Müller betrat den kleinen Raum.

      Buchholz hatte schon eine Kanne Tee gekocht und den Besucherstuhl zurechtgerückt, obgleich ihm sein Besucher gar nicht lag und er viel dafür gegeben hätte, er hätte ihn nicht empfangen müssen. Aber er brauchte ihn, und da machte er gute Miene zum bösen Spiel.

      Nur eins konnte er sich nicht verkneifen.

      „Ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Es geht um einen Bericht über die Wolfskinder, und da Sie dafür der Experte sind, habe ich Sie hergebeten. Aber, wie gesagt, es wird nicht lange dauern. Ist eigentlich nur der Sicherheit halber. Nachher steht irgendwelches dumme Zeug in der Zeitung. Sie verstehen?“

      Müller verstand durchaus.

       Buchholz war unsicher, bei seiner Gesinnung sicher zu Recht, und scheute das Risiko. Wenn er Müller als Verantwortlichen gewinnen konnte, war er aus dem Schneider.

      Müller zog sein Notizbuch aus der Tasche, und die Arbeit begann.

      Jeden einzelnen Fall gingen sie durch, besprachen die Vorgeschichte, das Leben auf der Straße, die Wiedereingliederung.

      „Eins habe ich immer noch nicht begriffen“, sagte Buchholz wie beiläufig, „wo haben Sie die Kinder untergebracht, nachdem Sie sie gefunden hatten. Es liegen immer einige Tage dazwischen. Hier zum Beispiel, die Julia haben Sie am 26. 3. aufgegriffen, und erst am 30. haben Sie sie der Familie übergeben. Was mich interessiert, ist: Wo war sie in der Zwischenzeit?“

       Jetzt hatte Buchholz sich verraten! Daher also wehte der Wind.

      „Sie werden verstehen, dass ich das nicht sagen kann. Wenn ich das tue, kann ich meinen Job aufgeben. Nur so viel: Die Kinder sind von der Straße und ordentlich untergebracht. Oder haben Sie ein einziges Mal eine Beschwerde gehört?“

      Buchholz nickte: „Verstehe, war auch nur so eine Frage.“

      Müller wollte gerade aufstehen, als Buchholz noch eine Frage nachschob.

      „Der Fall Carmen. Arbeiten Sie gerade daran?“

      Müller sah seinem Gegenüber offen in Gesicht. Nichts deutete darauf hin, dass ihn diese Frage irritiert hätte.

      „Ja“, antwortete er einfach.

      „Und hatten Sie schon Erfolg?“

      „Ich arbeite daran. Ob ich Erfolg habe, wird sich in ein, zwei Wochen zeigen. Vorher nicht.“

      „Dann ist das Mädchen ein, zwei Wochen bei irgendwelchen Leuten anstatt bei ihren Eltern. Ist das so?“

      Buchholz’ Stimme klang auf einmal sehr scharf.

      Müller sah seinem Gegenüber gerade ins Gesicht.

      „Wenn sie es jetzt zu seinen Eltern bringen, ist alle Arbeit umsonst, und es gleitet wieder ab, dieses Mal endgültig. Wollen Sie das verantworten? Sie werden mich nicht dazu bringen, ihren Aufenthaltsort zu verraten.“

      Müller stand auf, verstaute sein Notizbuch in der Jeanstasche und verschwand mit einem knappen: „Wiedersehen!“

      Noch als er die Tür schloss, fiel ihm auf, dass Buchholz nach dem Telefon griff und eine Nummer wählte.

      Er war noch ganz aufgewühlt, als er bei dem Pförtner vorbeieilte und die Tür öffnete. Noch auf dem Parkplatz war er wütend.

       Was dachte sich dieser Mensch? Seine Erfolge seinerzeit waren gleich null. Die meisten Kinder, die er aufgespürt und zurückgebracht hatte, waren rückfällig geworden, ein Mädchen war sogar schon tot, hatte sich den Goldenen Schuss gesetzt. Aber niemand hat jemals danach gefragt, wer die Schuld daran trug.

      Als Müller seinen R 4 erreicht hatte, hatte er sich schon einigermaßen beruhigt. Er atmete noch einmal kräftig die Sommerluft ein, öffnete die Tür und setzte sich in sein Auto.

      Irgendjemand war wohl etwas zu dicht an seinem Wagen vorbeigegangen. Der Spiegel war verstellt.

      Müller kurbelte die Seitenscheibe hinunter und hantierte an dem Außenspiegel.

      Zwei Reihen schräg hinter ihm stand ein Mann an seinen Wagen gelehnt, einen Mittelklassewagen, und telefonierte. Unentwegt, so schien es Müller, sah er zu ihm und stieg jetzt auch ein.

      Langsam fuhr Müller an, bog auf die Fahrbahn, die zur Schranke führte, und schob seinen Parkausweis in den Automaten.