Klaus Melcher

Wolfskinder


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hatte er in der Schule gefehlt, dann hatten sie, er und ein junger Kollege, der ganz seiner Meinung war, ihn aufgespürt und gefangen. Sie hatten ihn nicht gleich zurückgebracht, sondern erst einmal in eine Schrebergartenlaube gesperrt. Sie hatten ihm Fußfesseln angelegt.

      Um Nahrung zu bekommen, musste er arbeiten, Feuerholz spalten. Zwei Tage hatte er sich geweigert. Dann war sein Hunger so groß, dass er alles getan hätte für ein bisschen Essen.

      Das hatten sie zwei Wochen durchgezogen. Dann war er geläutert. Handzahm war er geworden, hatte gelobt, wieder zur Schule zu gehen und nach Hause zurückzukehren.

      Er selbst hatte ihn hingebracht.

      Voller Stolz hatte er die Akte geschlossen.

       Geht doch auch so!

       Und beschwert hat er sich auch nicht. Hatte viel zu viel Angst.

       Angst, ja die fehlte heute den Kindern und Jugendlichen. Früher wusste man, hatte man etwas gemacht, was nicht in Ordnung war, dann folgte die Strafe. Heute? Da konnten die tun, was sie wollten, immer gab es jemanden, der es verstand.

       Wenn er das schon hörte: verstand!

      Buchholz blätterte weiter.

       Wieder so einer, der von so einem Oberkuschler heimgeholt worden war. Natürlich war wieder die Umwelt Schuld! Mutter Schlampe, Vater Säufer! Wenn er das schon hörte!

      Aber er hatte es immerhin geschafft, jedenfalls bis jetzt.

      Und die hier, eine Julia, die auch.

       Wenn er ganz ehrlich war, Erfolge hatte der Müller schon, aber er brauchte unendlich viel Zeit. Das würde er auf jeden Fall erwähnen, wenn er nach der Effizienz dieser Methode gefragt würde. Und er würde die Frage aufwerfen, ob es sich lohne, einen Mann, einen hoch qualifizierten noch dazu, an diese verkrachten Typen zu binden. Er würde sie nicht beantworten, aber er würde sie so stellen, dass die Presseleute sie selbst beantworten würden, wenn sie das Material bekamen.

      Buchholz beschloss, den Ordner jetzt genau, Fall für Fall durchzuarbeiten. Er legte einen Stapel Zettel vor sich auf den Tisch, die er mit den Namen und Stichworten beschriftete: Wohnort, Schule, Alter, Geschlecht, Fehlzeit, durchgehend oder sporadisch? Wann und wo und von wem aufgegriffen? Wo war er/sie in der Zwischenzeit untergekommen? Wovon hatte er/sie in der Zwischenzeit gelebt?

      War er/sie wieder rückfällig geworden?

      Er schlug die nächste Akte auf, sah sich noch einmal das erste Foto an.

       Er kannte das Gesicht. Ein aufsässiges Mädchen, wenn er sich richtig erinnerte. War von zu Hause weggelaufen, hatte die Schule geschwänzt. Er hatte sie aufgetrieben. Hauste mit ein paar verwahrlosten Typen in einer heruntergekommenen Laube am Kanal. Er hatte den Tipp von einem Junkie bekommen, hatte ihn ein paar Gramm Marihuana gekostet. Stand natürlich nichts davon in der Akte. Auch nicht, wie sie die Laube gesäubert hatten, er und die beiden Polizisten, die ihn begleiteten. Es reichte das Ergebnis.

       Nur dass das Aas ihn gebissen hatte, das war nicht akzeptabel. Hat er auch nicht so einfach hingenommen. Hatte ausgeholt und ihr eine geklebt. Die Hand tat ihm richtig weh danach.

       Sie hat nichts davon gesagt. War auch besser so. Schließlich wollte sie in kein Heim. Und er hat es in seinem Bericht auch nicht erwähnt. War für alle das Beste.

      Es war nicht so, dass Buchholz sich Sorgen wegen damals machte, aber etwas mulmig war ihm doch.

       Etwas ruppig war er schon mit dem kleinen Teufel umgegangen.

       Und nun war sie schon wieder überfällig. Hatte also alles nichts genützt.

       Und Müller war dran.

      Buchholz wählte Müllers Handynummer.

      Müller hatte sich erfolgreich geweigert, einen Festnetzanschluss zu bekommen. Er wäre so viel unterwegs, da wäre er auf das Handy angewiesen, und er wollte vermeiden, dass man über seine Telefonnummer seine Adresse herausbekäme.

      Da war er ganz eigen.

      Auch seine Kollegen kannten sie nicht. Wenn er sich mal mit einem Kollegen traf, dann geschah das in einem kleinen Bistro, oder er suchte das Amt auf.

      Jetzt also versuchte Buchholz, ihn über das Handy zu erreichen. Vergeblich. Es meldete sich nur seine Mailbox und forderte ihn auf, eine kurze Nachricht zu hinterlassen, er würde zurückrufen, sobald es ihm möglich wäre.

      Kapitel 6

      Carmen genoss ihre Situation.

      Ihre Kleidung war inzwischen trocken und hätte gebügelt werden können, doch sie machte keine Anstalten. Und auch so, ungebügelt, behagte ihr ihre Kleidung nicht.

      „Kann ich nicht in diesem Pullover bleiben?“, fragte sie, als Jose sie vorsichtig aufforderte, sich umzuziehen.

      Als sie dann immer wieder durch das Zimmer ging, sich nach irgendetwas bückte oder reckte, der Pullover wie von selbst verrutschte und unglaublich schöne Einblicke gewährte, da war Jose nicht böse, dass sie nicht in der Stimmung war, sich zu verhüllen.

      Das Telefon klingelte.

      Müller hatte es nicht eilig, dranzugehen. Als er aufs Display sah und den Anrufer erkannte, drückte er die Aus-Taste und legte das Handy weg.

      „Willst du nicht rangehen?“, fragte Carmen. „Vielleicht ist es wichtig.“

      Er schüttelte den Kopf.

      „Nichts ist jetzt wichtig - außer dir.“

      Carmen stand hinter ihm, hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und umfing ihn mit beiden Armen.

      „Sag das noch einmal“, bat sie.

      „Nur du bist wichtig, Carmencita“, sagte er leise, drehte sich zu ihr um und nahm sie in den Arm.

      Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte sich zu seinem Gesicht auf und schlang ihre Arme um seinen Hals.

      Es fiel ihm schwer, den Augenblick nicht zu genießen, er hätte ihn ausdehnen können, bis zum Abend hätte er mit ihr so verweilen können.

      Aber ganz sanft löste sich Heiko aus der Umarmung, sah Carmen an und gab ihr einen leichten Klaps auf den Po.

      „Zieh dich an, bitte“, sagte er, „wir kaufen dir noch etwas zum Anziehen.“

      Ob sie wirklich traurig war oder nur so tat, wusste Heiko nicht. Aber schließlich musste er auch seinen Verpflichtungen nachgehen. Sich ein, zwei Tage nicht um seine Büroarbeit zu kümmern, das würde nicht auffallen, aber dann müsste er sich mal wieder im Amt sehen lassen.

       Und für Carmen war es Zeit, wieder die Freiheit zu spüren. Dann würde sich zeigen, ob sie schon gefestigt genug war.

      „Du willst mich bloß loswerden!“, jammerte sie.

      „Das ist doch Unsinn! Du ziehst dir was Hübsches an und gehst etwas bummeln. Und am Abend sehen wir uns sowieso wieder - wenn du dann noch willst.

      Ich gebe dir einen Schlüssel mit, dann kannst du jederzeit in die Wohnung. Einverstanden?“

      Widerstrebend gab sie nach, und gemeinsam verließen sie die Wohnung, gingen zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren bis zum Hauptbahnhof.

      Schon auf der Fahrt in die Stadt hatte Carmen ihren Ärger vergessen. Die Aussicht, sich etwas Schönes kaufen zu dürfen, hatte Wunder gewirkt. Sie war ausgelassen und verliebt, drückte immer wieder Joses Hand, beugte sich zu ihm und gab ihm schnell einen Kuss.

       So schön konnte das Leben sein!

      Eigentlich war ihr nach Schlendern zumute. Die warme Sonne lud dazu