Klaus Melcher

Wolfskinder


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mehr ganz sicher nicht.

      Heiko Müller hatte ein Auge dafür. Ihm machte niemand etwas vor, wenn es darum ging, das Alter Jugendlicher, gleich ob Mädchen oder Junge, zu schätzen. Er hatte es in den vergangenen Jahren gelernt, und seine Trefferquote war nahezu hundertprozentig. Sie konnten sich verkleiden und schminken, wie sie wollten, er sah ihr tatsächliches Alter.

      Und deshalb saß er hier, in dem kleinen Bistro am Ende der Halle, kurz bevor man den Ausgang zum Raschplatz erreichte.

      Hier hatte er den Überblick, hier kamen die vorbei, die ihn interessierten, Mädchen wie das dort, Gestrandete ohne Bleibe, die wussten, dass sie gesucht wurden, und deshalb einen Ort bevorzugten, den sie schnell verlassen konnten und dessen Labyrinth von Gängen, dunklen Ecken und ungenutzten Räumen ihnen Schutz bot.

      Hier hinten fiel das Mädchen nicht auf.

      Die Reisenden, die zur U-Bahn wechselten, hatten es eilig, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, das Mädchen genauer zu betrachten.

      Es störte ja auch nicht, viel weniger jedenfalls als andere, die durch den Gang wankten und Passanten um einen Euro oder eine Zigarette anbettelten.

      Müller gab der Serviererin ein Zeichen. Sie nickte, kam hinter dem Tresen hervor und stellte ein Schild auf den Tisch.

      Unmissverständlich verkündete es: Dieser Tisch war reserviert.

      Ohne Eile verließ Müller das Bistro und schlenderte auf das Mädchen zu, das ihn noch nicht bemerkt hatte.

      „Hast du Hunger?“, fragte er, als er neben ihm stand.

      Erschrocken sah sie ihn an, wollte sich wegdrehen, weglaufen, aber er hielt ihren Arm. Nicht fest umklammert, sie hätte sich befreien können, mit Leichtigkeit. Sie hätte auch schreien können. Irgendwer hätte ihr sicher geholfen, und in dem Durcheinander, das entstanden wäre, hätte sie sich verdrücken können.

      Sie tat nichts.

      Sie stand da, seine Hand an ihrem Oberarm, sah ihn an und war wie gelähmt.

      „Hast du Hunger?“, fragte er noch einmal.

      Sie nickte.

      Und schon führte er sie sanft zum Bistro, öffnete die Tür und schob sie hinein.

      „Setz dich!“, forderte er sie auf, stellte das Schild zur Seite und setzte sich auch.

      „Such dir was aus“, sagte er, als er bemerkte, wie gierig sie die kleine Speisekarte betrachtete.

      Während sie auf das Essen warteten, betrachtete Müller seinen Gast.

      Er hatte sich nicht geirrt. Auch jetzt aus der Nähe blieb er bei seinem Urteil. Sie war sechzehn Jahre alt, auch wenn sie älter aussah.

      Aber sie war unglaublich verwahrlost.

      Ihr langes dunkles Haar hing in verklebten Strähnen hinunter. Das schön geschnittene Gesicht mit seiner niedlichen Nase und seinem sinnlichen Mund, der sicher alles erreichen konnte, die traurigen dunklen, fast schwarzen Augen, all das konnte sicher jeden Mann zum Schmelzen bringen. Es musste nur gewaschen werden.

      Das galt auch für ihre Kleidung, die vor Dreck fast stand. Seit Wochen war sie mit Sicherheit nicht gewechselt worden und unterschied sich nicht von der der Stadtstreicher, die man hier und an den anderen einschlägigen Orten der Stadt antraf.

      Aber trotz dieses fast abstoßenden Eindrucks hatte Müller sofort bemerkt, man musste dieses Mädchen nur waschen und ihm saubere Kleidung geben, und man hätte eine Schönheit vor sich.

      „Komm“, sagte er, als sie aufgegessen hatte, „jetzt wollen wir dich erst einmal ein wenig wiederherstellen.“

      Sie sah ihn fragend an.

      Sie hätte sich ja denken können, dass da irgendein Haken dran war. Kein Mann spendierte einem fremden, heruntergekommenen Mädchen ein Essen, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie hatte gegessen, jetzt hatte sie die Zeche zu bezahlen. Sie kannte einige Mädchen vom Raschplatz, die hatten es ihr erzählt.

      Nein, hämmerte es in ihrem Kopf. Sei nicht blöd!, sagte eine andere Stimme, du kannst jederzeit aussteigen! Nimm mit, was er dir bietet!

      Viel Zeit zum Überlegen hatte sie nicht. Wieder hatte er ihren Oberarm gefasst, als wollte er ihr beim Aufstehen und Gehen behilflich sein, wieder fühlte sie den sanften Druck, wieder ließ sie sich führen.

      Sie hatte keinen eigenen Willen.

      Sie verließen die Bahnhofhalle, wandten sich nach rechts, und Müller bezahlte seine Parkgebühren.

       Jetzt könnte sie weglaufen. Er brauchte beide Hände und musste sie loslassen. Warum blieb sie an seiner Seite stehen? Er könnte sie nicht verfolgen, ohne sich zu verraten. Die im Schalter würden sicher die Polizei rufen. Sie hätte ein anständiges Essen gehabt. Das wäre alles gewesen.

       Warum tat sie das nicht? Wartete, bis er bezahlt hatte, würde zu ihm ins Auto steigen, mit in seine Wohnung fahren?

      Das Auto, vor dem sie Halt machten, entsprach in keiner Weise ihren Vorstellungen von einem Mann, der Minderjährige verführte, denn verführen wollte er sie ganz offensichtlich. Der alte R 4, der auf einem der Frauenparkplätze stand, war verrostet und verbeult. Der Lack hatte nur noch eine matte Farbe, die an verschiedenen Stellen mit Dekoblumen überklebt war.

      Müller sah das Erstaunen in den Augen des Mädchens.

      Als wollte er um Entschuldigung bitten, hob er die Hände, zeigte auf das Gefährt und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, mit was Besserem kann ich nicht dienen.“

      Dann schloss er auf, setzte sich auf den Fahrersitz und öffnete die Beifahrertür.

      Die Fahrt verlief still. Niemand sagte auch nur ein Wort.

      Ab und zu warf Müller einen kurzen Blick zu seiner Nachbarin, und sie musterte ihn erst heimlich, dann immer offener.

      Sie fuhren Richtung Linden, über die Benno-Ohnesorg-Brücke, rechts ragte der gigantische Klotz des Ihme-Zentrums auf.

      Die Gegend war dem Mädchen vertraut.

      Früher hatte sie hier häufig ihre Nachmittage verbracht, auch schon mal ganze Tage oder Nächte. Hier gab es Ecken, in die niemand kam, in denen man sich einrichten konnte.

      Aber man konnte nur in der Clique überleben. Alleine oder nur mit ein, zwei Freunden war das zu gefährlich. Wenn sie alleine durch die dunklen Gänge ging, vorbei an eingetretenen Türen, an all dem Müll, der herumlag, wenn die vielen Bauzäune jeden Fluchtweg versperrten, dann hatte sie Angst.

      Als dann auch noch der Sicherheitsdienst kam, da war es aus.

      Und jetzt steuerte der Fremde einen Garagenplatz in der Tiefgarage an, stoppte den Wagen und forderte sie auf, auszusteigen.

      Wieder fasste er ihren Oberarm und führte sie durch eine eiserne Tür, eine verdreckte, nach Urin stinkende Treppe hoch, bis sie auf dem Ihmeplatz standen. Weiter ging es innerhalb einer Absperrung um die nächste größere Ecke, die früher mal zu einer Buchhandlung gehört hatte, und sie standen vor einer ehemals rot lackierten Tür mit großem Glasausschnitt.

      Unendlich viele Klingelknöpfe verrieten die gleiche Zahl von Bewohnern, aber sicher konnte man sich da nicht sein.

      Müller bemerkte die zunehmende Beklemmung, die seine Begleiterin befiel.

      „Es sieht schlimmer aus, als es ist“, versuchte er sie zu beruhigen und schob sie in einen der noch funktionierenden Aufzüge.

      Der Aufzug hatte schon bessere Zeiten gesehen.

      In den Ecken lagen zerfetzte Plastiktüten, zerknüllte Zettel, Essensreste. Und auch hier stank es nach Urin.

      Müller schien das nicht zu stören, doch als er den elften Knopf drückte, wusste das Mädchen, er hatte kaum eine andere Wahl, es sei denn, er wollte die Treppen bis zum elften Stockwerk zu