Klaus Melcher

Wolfskinder


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er, als sich der Aufzug ratternd in Bewegung gesetzt hatte.

      Die Frage kam so überraschend, dass das Mädchen seine Vorsicht völlig vergaß.

      „Carmen“, antwortete sie prompt und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen.

      Bisher war sie anonym gewesen, auch wenn sie das Gefühl hatte, wie ein offenes Buch für ihren Begleiter zu sein, der ganz nach Willkür die Seiten umblättern konnte.

      Nachdem er auch ihren Namen kannte, hatte sie kein Geheimnis mehr.

      „Und du?“, fragte sie unsicher.

      Der Aufzug hielt in der elften Etage.

      „Hier müssen wir lang“, sagte er und führte sie wieder am Oberarm den langen Gang entlang.

      „Jose“, sagte er, und als Carmen ihn ungläubig ansah, „nein, nein, Heiko.“

      „Warum nennst du dich Jose, wenn du Heiko heißt?“

      „Und warum heißt du Carmen? Sind deine Eltern Opernfreunde?“

      Sie nickte.

      „Sie waren es mal, bevor mein Vater arbeitslos wurde und zu trinken begann. Da wurde alles anders.“

      Sie waren vor Müllers Wohnung angelangt. Er zog sein Schlüsselbund hervor und öffnete.

      Sie traten in einen kleinen fast quadratischen Flur, von dem eine Tür zum Badezimmer und eine zum Schlafzimmer führte und der sich zum Wohnzimmer mit amerikanischer Küche öffnete.

      Carmen war überrascht. Sie hatte sich die Wohnungen hier im Hochhaus ganz anders vorgestellt, dunkel, kleine Fenster. Wenn sie von außen die Anlage sah, hatte sie immer gedacht, sie würde erdrückt. Jetzt war sie in einen lichtdurchfluteten Raum eingetreten, durch dessen große Fenster die Sonne schien.

      „Geh ruhig weiter“, forderte Heiko sie auf und öffnete die Balkontür.

      Unter ihnen lag die Ihme, ein einsamer Paddler zog unterhalb des Hauses vorbei.

      Das wäre schön, dachte sie, da unten auf dem Fluss entlang zu paddeln, völlig frei zu sein!

      „Zieh dich aus!“, unterbrach Müller ihre Gedanken.

       Also doch! Jetzt kommt die Rechnung!

      „Du willst doch nicht so – entschuldige – schmutzig bleiben. Nimm erst einmal ein warmes Bad. Und spare nicht mit Wasser und Seife. Ich lege dir Handtücher hin. Und wenn du fertig bist, suchst du dir einen Pullover oder ein Hemd von mir aus. Ich stecke erst einmal deine Klamotten in die Waschmaschine.“

      Und damit schob er sie in das Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne einlaufen, gab einen großen Schuss flüssige Seife hinzu und stellte eine Flasche Haarshampoo auf den Wannenrand.

      „Nun mach schon, ich beiße nicht!“, forderte er sie auf, als sie noch zögerte.

      Er schien sich nur für ihre verdreckte Kleidung zu interessieren, die er einsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Ob die verschiedenen Teile zusammen gewaschen werden durften, ob sie alle neunzig Grad vertrugen, interessierte ihn nicht. Hier einen Unterschied zu machen, wäre Unsinn gewesen.

      „Ich muss noch mal kurz weg!“ rief er durch die Badezimmertür, dann hörte Carmen, wie die Wohnungstür geöffnet und abgeschlossen wurde.

       Nun bin ich gefangen!

      Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch, die sie hatte.

      Auf normalem Weg konnte sie die Wohnung nicht verlassen. Über den Balkon konnte sie ebenfalls nicht flüchten. Der Abstand zu dem Balkon der Nachbarwohnung war zu groß. Abseilen konnte sie sich auch nicht. Schon der Gedanke daran bereitete ihr Schwindel.

       Also sich fügen und alles über sich ergehen lassen?

      Sie ließ sich am hinteren Rand der Badewanne hinab gleiten, schloss die Augen und tauchte den Kopf in das warme Wasser.

       Wenn er schon kassierte, dann wollte sie das Bad wenigstens genießen.

      Immer wieder ließ sie warmes Wasser nachlaufen, bis sie schließlich den Stöpsel zog und die Seifenreste von ihrem Körper abduschte.

      In dem kleinen Badezimmerregal entdeckte sie eine Flasche Bodylotion, cremte sich sorgfältig ein und betrachtete sich im Spiegel. Sie war zufrieden. So hatte sie sich noch nie gesehen.

      Zu Hause in dem winzigen Badezimmer, das noch den Terrazzoboden und den Ölfarbanstrich aus den fünfziger Jahren hatte, war der Spiegel so winzig, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von sich sah.

      Und das Licht war einfach grauenhaft. Da konnte man sich nicht schön machen.

      Dann ging sie auf die Suche nach einem passenden Kleidungsstück.

      Das Schlafzimmer war ein langer und recht schmaler Schlauch. Vorne, hinter der Tür stand der Kleiderschrank, der sich über die ganze Zimmerbreite erstreckte. An der langen Wand stand das Bett, größer als es für eine Person nötig war, aber auch kein Doppelbett. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch mit Computer und einigen Büchern.

      Carmen öffnete alle Schranktüren, fuhr mit der Hand über die Pullover und Wäsche, setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und ließ ihren Blick über die Schrankfächer gleiten. Endlich hatte sie ihre Wahl getroffen.

      Auf eine Hose verzichtete sie. Heikos Hosen waren ihr viel zu groß. Sie wäre darin ertrunken.

      Vorsichtig zog sie einen kuscheligen baumwollenen Pullover heraus. Auch in dem würde sie ertrinken, aber es war der einzige, der zu ihr passte. Er war so weit und lang, dass er bis unter ihre Pobacken reichte, fast wie ein Kleid. Die Ärmel krempelte sie zweimal um und schob sie hoch, so dass sie nicht rutschen konnten.

      So setzte sie sich auf das Sofa, die langen angezogenen Beinen mit den Armen umschlungen, den Kopf auf die Knie gebettet. Jetzt konnte Heiko Müller kommen.

      Oder Jose?

       Sie würde ihn fragen.

      Kapitel 3

      Der Schlüssel knirschte im Schloss, die Tür öffnete sich, und Heiko trat ein, hängte seine Jacke an den Garderobenhaken und betrat, mit zwei Einkaufstüten beladen, das Wohnzimmer. Noch hatte er Carmen nicht wahrgenommen, war nur damit beschäftigt, seine Einkaufstüten sicher auf der Arbeitsplatte abzulegen, da sah er sie.

      Was er sah, übertraf alle seine Erwartungen.

      Er hatte ein hübsches Mädchen erwartet, nachdem sie von all dem Schmutz befreit war.

      Was er sah, war eine Schönheit.

      Wie gebannt starrte er auf ihre Beine, die der Pullover nicht bedecken konnte, so sehr Carmen an ihm auch ziehen mochte.

      Er sah das sanfte Gekräusel ihrer Schamhaare, ahnte ihre jungen straffen Brüste unter dem voluminösen Pullover.

      Er sah ihren schlanken Hals, der sich aus dem Ausschnitt reckte, den etwas zur Seite geneigten Kopf, der auf ihren Knien ruhte, und die langen schwarzen Haare, die wie ein leichter Vorhang ihren Kopf umschmiegten.

      „Ich habe uns etwas zu essen besorgt“, riss er sich von dem Anblick los.

      Leicht wie eine Feder stand sie auf, zog den Pullover etwas in die Länge und kam auf ihn zu, reckte sich ein klein wenig, bis sie sein Gesicht erreichte, und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

      Das geschah so selbstverständlich, so unvorbereitet, dass beide einen Augenblick innehielten.

      Müller bückte sich und holte aus der untersten Schublade eines Schrankens zwei Holzbretter hervor, entnahm einer anderen Schublade, direkt neben dem Herd, vier Messer, zwei Küchen- und zwei Kochmesser und verteilte sie auf die beiden Bretter.

      Er