Klaus Melcher

Wolfskinder


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sie nicht mehr auf der Straße war? Dass sie so wunderbar geschlafen hatte? Dass sie hier in dieser Wohnung war? Dass sie umsorgt war?

       Das alles war es.

       Und doch traf es nicht.

      Noch ahnte sie es nur, als sie die Tür zu Heikos Zimmer öffnete.

      Ganz leise hob sie die Decke, schlüpfte in sein Bett und schmiegte sich an Heiko. Ganz vorsichtig tat sie das, um ihn nicht zu wecken. Er hätte sie weggeschickt, und das wäre ihr schrecklich gewesen.

       Unvorstellbar die Enttäuschung!

      Als er am Morgen erwachte, später als gewöhnlich an einem freien Tag, brauchte er einen Augenblick, sich zurechtzufinden. Carmen lag neben ihm. Schlief noch.

       Wann war sie in sein Bett gekrochen?

      Wirklich überrascht war er nicht. Auch wenn er nichts gemerkt hatte.

      Sie hatte sich im Schlaf halb abgedeckt. Die Decke hatte sie um ihre Hüfte geschlungen, ihr rechtes Bein lag auf der Decke, ihr Oberkörper steckte in dem zu großen T-Shirt.

      Er drehte sich auf die Seite und ließ sich von dem Anblick Carmens bezaubern.

      Er betrachtete ihre Silhouette, die langen schlanken Beine, das fast schöne Gesicht und die langen schwarzen Haare, die ihr Gesicht umspielten.

      Und er spürte, wie er sich in diesem Mädchen verlor, musste sich zwingen, diesen Körper nicht zu berühren. Er wollte sehen, wie es aufwachte, wollte die ersten Worte hören.

      Gestern noch hatte er sich vorgenommen, schon aufzustehen, wenn sie schlief, zu duschen, sich anzuziehen, das Frühstück zu bereiten und sie dann zu wecken.

      Du spinnst, rief er sich zur Ordnung.

       Wie stellst du dir das eigentlich vor? Sie ist sechzehn, und du bist siebenundzwanzig. Schön, der Altersunterschied ist nicht so schlimm. Aber sie ist ein Kind, wenigstens an Jahren. Du kannst mit diesem Kind nicht zusammenleben. Das ist undenkbar, verstehst du?

      Und so machte er, was am einfachsten war und am erfreulichsten: Er blieb liegen und betrachtete Carmens Körper.

      Plötzlich streckte sie sich, tastete, noch immer mit geschlossenen Augen, das Kopfkissen ab, als suche sie etwas, berührte Heikos Kopf und Schulter, robbte näher an ihn heran. Als sie ganz nahe bei ihm war, öffnete sie die Augen, erst nur einen Spalt breit, um sie gleich wieder zu schließen. Ein stilles Strahlen ging über ihr Gesicht, und sie blinzelte, als würde sie von der Sonne geblendet.

      „Bist du mir böse?“, fragte sie leise.

      „Warum soll ich dir böse sein?“

      „Du weißt schon. Weil ich nicht drüben geblieben bin. Weil ich mich in dein Bett gestohlen habe. Aber ich konnte es drüben nicht aushalten, so ganz allein in dem großen Zimmer.“

      Heiko musste lächeln.

       So groß war das Wohnzimmer nun wirklich nicht.

      „Und ich habe dich doch nicht gestört. Oder? Ich war auch ganz leise.“

      Sie richtete sich etwas auf und ließ ihren Kopf auf seine Brust fallen, berührte sie mit ihren Lippen.

      „Heute Abend muss ich nicht wieder auf der Couch schlafen? Bitte versprich mir, dass ich das nicht muss. Bitte!“

      Als er noch einen Augenblick zögerte, als überlegte er die Antwort, schmiegte sie sich noch dichter an ihn.

      „Ich liebe dich“, flüsterte sie, „ich vergehe vor Sehnsucht nach dir. Schick mich nicht weg! Schick mich niemals weg!“

      Bis eben hatte er sich gewehrt, jetzt nahm er sie doch in den Arm. Eng umschlungen kugelten sie über das Bett. Sie lag auf ihm, küsste ihn, und ihre Haare bedeckten wie ein Schleier ihre Gesichter.

      „Jose“, flüsterte sie, „ich werde dich immer Jose nennen. Egal, wie die Geschichte endet.“

      „Carmen“, flüsterte auch er, „meine Carmencita.“

      Langsam wand er sich aus ihren Armen.

      „Jetzt aber auf!“

      Er sprang aus dem Bett, zog Carmen hinter sich heraus.

      „Willst du erst, oder soll ich erst?“

      Carmen verstand nicht.

      „Na, duschen.“

      Sie verstand immer noch nicht. Sah ihn ungläubig an.

       Die Dusche war doch groß. Für zwei Personen allemal groß genug.

       Warum dann die Frage?

      Sie nahm ihn bei der Hand, zog ihn ins Badezimmer.

      Vor dem Spiegel blieb sie stehen, streifte ihr T-Shirt über den Kopf, schob Joses Schlafanzughose hinab.

      Da standen sie einander gegenüber, nackt, bebend vor Erregung.

      Mit geschlossenen Augen ertasteten sie ihre Körper, zogen jede Linie mit den Fingern nach, entdeckten jede Rundung mit den Händen, schmeckten die nachtwarme Haut mit Lippe und Zunge.

      Wie Schlangen wanden sich ihre Leiber unter den Liebkosungen des anderen, pressten sich aneinander, gruben sie sich ihre Nägel in das Fleisch.

      „Komm!“, flehte Carmen und zog Jose in die Dusche.

      Kapitel 5

      Buchholz hatte sich noch einen Tee gemacht.

      Diese Akte war wirklich nicht dazu angetan, ihm die Laune zu verbessern.

      Manchmal hasste er seine Arbeit: Schule besuchen, mit den Lehrern sprechen, die nichts wussten, Mitschüler befragen, die nichts preisgaben, auch wenn sie viel wussten, die Eltern aufsuchen, die nur sehr selten zur Kooperation bereit waren. Und dann die Gespräche mit den Streetworkern, die er im Tiefsten seines Herzens verachtete.

       Trieben sich den ganzen Tag auf der Straße rum auf der Suche nach Problemkindern, die sie angeblich wieder auf den rechten Weg bringen wollten. Kuschelpädagogen! Und was brachte dieser Kuschelkurs? Vielleicht gingen die Kinder für ein paar Tage wieder in die Schule und kehrten zu ihren Eltern zurück. Aber nach ganz kurzer Zeit waren sie wieder auf der Straße. Bei aller positiven Prognose des Streetworkers.

       Er war ganz sicher kein Nazi, das konnte niemand von ihm behaupten. Aber wenn er diese Typen sah, die sich nur durch ihr Alter von den Kindern unterschieden, dann packte ihn der Zorn.

       Die Kinder sollten in die Gesellschaft zurückgeführt werden, und die Gesellschaft war hart, da mussten die Maßnahmen auch hart sein! Wenn man sie gefunden hatte, Polizei rufen, sie auf die Wache mitnehmen, im Streifenwagen nach Hause bringen, das volle Programm! Die würden nie wieder abhauen!

       Früher, ja früher, da hätte man dieses ganze nutzlose Theater nicht gemacht. Nein, er wollte die alten Zeiten wirklich nicht wieder haben, aber musste man deshalb alles über Bord werfen, was damals gut war? Sport zum Beispiel, fünfmal um den Platz laufen, oder Arbeit, am besten in einem Erziehungslager, da verging den Gören die Lust am Ausreißen.

       Aber das sollte man heute mal sagen!

       Sofort hätte man alle Kollegen gegen sich, auch wenn die meisten seine Meinung teilten. Und wenn das gar an die Presse durchsickerte, dann konnte man froh sein, wenn man seinen Posten behielt.

      Einmal hatte er seine Meinung klar und deutlich geäußert. Und hatte einen Rüffel bekommen, der sich gewaschen hatte.

      Sonst war nichts passiert im Umgang mit diesen Jugendlichen, alles war geblieben wie zuvor. Nur, dass sich die Bezeichnung Wolfskinder eingebürgert hatte nach dem Interview.