Klaus Melcher

Wolfskinder


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      Erleichtert fädelte er sich in den fließenden Verkehr ein, da sah er den anderen Wagen wieder.

       Zufall! Hier fuhren viele Autos. Das war eine der am meisten befahrenen Straßen der Innenstadt. Warum sollte der nicht auch hier fahren?

      Nur um ganz sicher zu gehen, dass sein Verdacht unbegründet war, bog er nach rechts ab.

      Das Auto folgte.

      An der Markthalle hielt er, fand tatsächlich einen freien Parkplatz, zahlte und verschwand in dem Getümmel.

      Der Mann, der ihm gefolgt war, hielt in der zweiten Reihe, kurz hinter dem R 4. Erst das sehr energische, wütende Hupen der anderen Fahrzeuge zwang ihn, weiterzufahren, erst langsam, als müsste er überlegen, welchen Weg er nehmen sollte, dann schien er seine Entscheidung gefällt zu haben, denn er gab Gas und floss in dem Verkehr mit.

      Müller verließ die Markthalle, bestieg seinen Wagen und fuhr auf Umwegen zurück zum Ihme-Zentrum. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass er nicht verfolgt wurde, parkte er auf seinem Stammplatz und ging auf Umwegen zu seinem Hauseingang.

       Er würde das Namensschild ändern und ein Postfach beantragen. Der Buchholz würde ihm nicht seine Arbeit kaputt machen.

      Das Treppenhaus war leer. Ungesehen kam er in seinem Flur an, schloss die Wohnungstür auf und wurde schon von Carmen sehnsüchtig erwartet.

      „Was hast du?“, fragte sie, als er gar nicht auf ihre Umarmung reagierte, „magst du mich nicht mehr?“

      „Doch, doch, lass mir nur eine viertel Stunde“, antwortete er, setzte sich an seinen PC und druckte drei neue Namensschilder.

      „J+C Müller? Das verstehe ich nicht.“

      Er antwortete nicht, schnitt die Schildchen aus, suchte einen Schraubenzieher und wechselte das Türschild aus.

      „Was soll das?“

      Ohne zu antworten, fasste er Carmens Hand, ging mit ihr zum Aufzug und schob sie hinein. Unten angekommen, tauschte er das Klingel- und Briefkastenschildchen aus,

      nahm wieder Carmens Hand und betrat gemeinsam mit ihr die Wohnung.

      Er spürte ihren fragenden Blick.

      „Das ist notwendig. Man will herausbekommen, wo ich wohne.“

      „Ist das so schlimm?“

      „Man würde dich hier entdecken. Willst du zurück zu deinen Eltern?“

      Carmen sah ihn skeptisch an.

       Wer würde sie entdecken? Schön, vielleicht suchte sie das Jugendamt und auch die Polizei. Aber bisher hatten sie sie nicht gefunden, obgleich sie auf der Straße gelebt hatte und sicher stärker aufgefallen war als jetzt. Sie hatte sogar schon gewagt, sich nicht mehr vor Polizisten zu verstecken. Und Jose hatte sie mitten durch die belebte Stadt geführt, hatte mit ihr eingekauft.

       Woher kam diese plötzliche Sorge?

      Sie kuschelte sich an ihn.

      „Sag, was bedrückt dich?“

      Und als er nicht antwortete, fragte sie: „Wo warst du heute Mittag? Hat es damit zu tun?“

      Jose hatte sein Kinn auf Carmens Haare gelegt und sah über ihren Kopf nach draußen. Ganz fest hielt sie ihn umklammert, als spüre sie die Gefahr, von ihm fortgerissen zu werden.

      „Sag“, bat sie noch einmal, fast flüsternd.

      Ihr Mund wurde trocken, das Schlucken fiel ihr schwer, sie wich einen Schritt zurück und sah ihn an.

      Ein Bild des Jammers stand sie da. Ganz schmal, ganz klein war sie auf einmal.

       Und sie wusste noch nichts.

      „Erinnerst du dich noch an einen Buchholz?“

      Carmen sah ihn verständnislos an.

       Nein, einen Buchholz kannte sie nicht. Wie kam Jose auf diesen Namen?

      „Du hast ihm vor drei Jahren in die Hand gebissen, weißt du das nicht mehr?“

      Jetzt, wo er es sagte, erinnerte sie sich.

       Natürlich, damals hatte er sie aufgegriffen, wie er sagte. War unter dem Ernst-August-Denkmal. Da hatte sie mit einigen anderen Jugendlichen gesessen. Sie hatten nichts gemacht, niemanden gestört, niemanden angeschnorrt, nur etwas geraucht und getrunken, keine harten Sachen, meistens nur Wasser. Und da war der gekommen. Schon von weitem sahen sie ihn und wussten, es würde Ärger geben. Und auf einmal waren sie von Polizisten umringt. Von wo die alle her kamen, wusste keiner, so schnell war das gegangen.

       Dann folgte die übliche Zeremonie: Ausweiskontrolle! Murren und Schimpfen! Die Ausweise bitte! Die ersten wurden zu einem Mannschaftswagen geführt. Dann kam sie an die Reihe. Ein eklig grinsendes geiles Gesicht verlangte ihren Ausweis zu sehen. Als der Typ sie anpackte, hatte sie ihm in die Hand gebissen, nicht nur so ein bisschen, sondern tüchtig, hat sogar geblutet. Und geschrien hat der Typ. Wie am Spieß. Hat sie dann mit aufs Amt genommen und sie schließlich zu ihren Eltern bringen lassen.

       Ihr Vater hatte sie dann halbtot geschlagen, besoffen wie der war.

       Und was war jetzt mit ihm?

      „Ich war heute bei ihm. Er hatte mich gerufen, weil er etwas für einen Bericht brauchte, den er am Wochenende abgeben muss.“

      Carmen verstand nicht.

       Ihr Jose arbeitete mit dem grässlichen Buchholz zusammen?

      „Setz dich“, bat er und schob sie behutsam in das Sofa und setzte sich zu ihr.

      „Du hast mich nie gefragt, was ich mache, beruflich meine ich. Und ich war dankbar dafür, denn ich hätte dich vielleicht verloren, wenn du es erfahren hättest.“

      Er machte eine Pause.

       Was würde sie erfahren?

      Es rauschte in ihren Ohren, das Blut hämmerte, der Atem flog. Carmen fühlte sich, als würde sie gleich zusammenbrechen.

      „Ich bin – bei der ‚Treppe’.“

       Jetzt war es raus, endlich. Aber wie gerne hätte er ohne dieses Geständnis gelebt!

      Carmen blickte zu ihm auf, ungläubig, fassungslos.

       Der Mann, den sie liebte, der ihr Tage geschenkt hatte, wie sie sie noch nie erlebt hatte, der nichts von ihr gefordert hatte und doch alles bekommen hätte, freiwillig, weil sie es geben wollte, weil sie ihn begehrte, der war auf einmal ihr Feind!

      Heiko wollte ihre Hand fassen, sie zog sie ruckartig zurück. Ganz steif saß sie da, sah irgendwohin, sagte keinen Ton. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

      Heiko griff noch einmal nach ihrer Hand. Sie überließ sie ihm, als wäre sie zu schwach, sie ihm wieder zu entziehen.

      Und dann rannen ihr Tränen über die Wangen, mehr und mehr, unaufhaltsam, ein Sturzbach von Tränen.

      Wie gelähmt saß sie da, unfähig, die Tränen aufzuhalten oder zu trocknen, wurde immer wieder geschüttelt.

      Es war schlimmer, als Heiko befürchtet hatte. Hätte sie ihn geschlagen oder gebissen, hätte sie ihn beschimpft, auch wenn sie die Wohnung verlassen hätte, er hätte es verkraftet. Es wäre eine natürliche, verständliche Reaktion gewesen, und er hätte ihr begegnen können.

      Aber das hier?

       Er hatte sie nicht angelogen, hatte sie nicht betrogen, hatte nicht ihren Stolz verletzt. All das hatte er nicht getan.

       Aber was viel schlimmer war, er hatte sie vernichtet.

      Carmen