Klaus Melcher

Wolfskinder


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gegen seine Brust, immer wieder, bis sie müde war und mit ihrem Kopf an seine Brust sank.

      „Warum?“, flüsterte sie noch einmal, „warum hast du das gemacht?“

      Ganz behutsam streichelte Heiko ihren Kopf, hielt ihren bebenden Körper, bis sie ganz, ganz langsam zur Ruhe gekommen war.

      Erst als er ihren ruhigen Atem hörte, löste er ihren Kopf von seiner Brust, hielt ihn vorsichtig wie etwas sehr Zerbrechliches mit beiden Händen, betrachtete ihn lange und trocknete ihre Tränen mit seinen Lippen.

      „Ich liebe dich“, flüsterte er.

      „Aber warum dann?“

      „Weil ich dich liebe, nur darum!“

      „Weil du mich liebst, tötest du mich?“

      Das klang reichlich kitschig, vor allem aus dem Mund einer Sechzehnjährigen, aber es entsprach der Wahrheit, daran gab es für Heiko keinen Zweifel. Auch für ihn würde es Höllenqualen bedeuten, wenn er sich von Carmen trennen müsste. Freiwillig, das stand jetzt fest, würde er es nicht tun. Er würde sie beschützen, mit allen Konsequenzen, wenn es sein müsste, den ernstesten.

      Wieder schossen ihr Tränen in die Augen, die Carmen sich gar nicht bemühte zurückzuhalten. Sie suchte ihr Taschentuch, fand es nicht, wollte die Tränen mit dem Handrücken fortwischen und verteilte sie im ganzen Gesicht, zog die Nase hoch und sah Heiko bittend an.

      „Hast du mal ein Taschentuch?“

      Nachdem sie sich geschnäuzt hatte, stand sie auf, immer noch ein armes, gebeugtes Häuflein Elend, und ging ins Bad.

      Heiko überlegte.

       Was er jetzt und den nächsten Minuten, vielleicht der nächsten Stunde tat, würde alles entscheiden. Er konnte Carmens Vertrauen wieder gewinnen, er konnte sie behalten, aber er konnte sie auch verlieren und zerbrechen. Jetzt das Richtige machen! Wie würde sie reagieren auf all das, was er ihr sagen müsste?

       Und etwas viel Einfacheres: Er hatte Durst und ganz sicher auch sie; aber wie würde sie reagieren, wenn er eine Flasche Wein und zwei Gläser holte? Würde sie ihn für herzlos halten, oberflächlich, egoistisch? Und wenn er hier sitzen bliebe, während sie im Bad hantierte, würde sie ihm vielleicht Gleichgültig vorwerfen.

       Forderte die Situation nicht geradezu eine Flasche Versöhnungswein?

      Noch hatte sich Heiko nicht entschlossen, obgleich er bereits aufgestanden war und zum Küchenblock ging, wie von jemandem gesteuert seine beste Flasche Rotwein aus dem Schrank nahm, immer noch wie willenlos die Flasche öffnete und auf den Couchtisch stellte.

      Gerade als Carmen aus dem Bad zurückkam, hatte er zwei Gläser aus dem Schrank genommen und ebenfalls auf den Tisch gestellt.

      „Ich dachte, den können wir brauchen!“

      Sie sah ihn aus ihren verweinten Augen an, und wieder wollten sie sich füllen, doch sie kämpfte die Tränen nieder.

      Wenn sie jetzt auf ihn zuginge, sie ihren Kopf an seine Brust legte und er ihr über das Haar streichen würde, dann wäre alles wieder gut.

       Dann würde sie bei ihm bleiben!

      Einen Augenblick zögerte sie, noch unschlüssig, da war er schon zu ihr getreten, fasste sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran, drückte sie ganz vorsichtig an sich.

      „Es wird alles gut“, flüsterte er und strich ihr über das Haar.

      Kapitel 8

      „Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du vom Jugendamt bist und mich zurückbringen wolltest?“

      Carmen saß neben Heiko, hatte ihr Glas in der Hand und sah ihn offen an. Die Rötung ihrer Augen war zurückgegangen, und auch das Gesicht war nicht mehr so verschwollen.

      „Die ‚Treppe’ ist nicht das Jugendamt. Wir arbeiten nur mit dem Jugendamt zusammen. Wärst du geblieben, wenn du es gewusst hättest?“

      Sie schüttelte energisch den Kopf.

      „Siehst du? Meine Aufgabe war, dich zu finden und irgendwann zurückzubringen. Und dafür brauche ich viel Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Denn jeder, der fortläuft, hat seine Gründe. Und diese Gründe beseitigt man nicht, wenn man ihn packt und mit Gewalt nach Hause und in die Schule bringt.“

      „Wie Buchholz?“

      „Ja, wie Buchholz. Er ist immer noch der Meinung, dass seine Methode die richtige ist, und er lässt sich nicht umstimmen. Jedes Wolfskind sieht er als Beweis für seine Theorie, dass man den Ausreißern mit Härte begegnen muss. ‚Ratten’ nennt er sie heimlich, die sich nicht zähmen lassen, die einzeln oder in ihrer Gruppe wandern, die über alles herfallen, was ihnen als Nahrung dient, ohne das leiseste Gefühl für Recht und Ordnung. Nur ihre eigene Ordnung gilt, nicht die der anderen. Und deshalb bekämpft er sie mit seinen Mitteln, und die sind Polizei und Heim.

      Alles, was davon abweicht, ist für ihn Kuschelpädagogik und ihm höchst verdächtig.

      Und ich bin ihm besonders verdächtig.“

      „Hast du die anderen, ich denke mal, du hast auch andere Mädchen aufgelesen, bist du zu den anderen auch so gewesen wie zu mir?“

      Heiko tat, als hätte er die Frage nicht verstanden?

      „Na, hast du sie auch mit zu dir nach Hause genommen?“

      In aller Ruhe und sehr einfühlsam erzählte Heiko, dass das zu seiner Arbeit gehörte. Dass er wüsste, dass die Mädchen erst dächten, er wollte etwas von ihnen, vielleicht sie sogar auf den Strich schicken oder verkaufen. Sie hätte es doch sicher auch erst gedacht.

      Carmen nickte ernst.

      „Siehst du, das war meine Absicht. Die Mädchen sollten mit allem rechnen, nur nicht damit, dass sie unbehelligt blieben. Umso befreiter fühlten sie sich, als nichts dergleichen passierte, als sie nur ein Dach über dem Kopf bekamen, Essen und Trinken, eine Badewanne, gewaschene Kleidung.“

      Es war merkwürdig, auf einmal war er wieder Jose für sie, nicht mehr Heiko.

       Was hatte das bewirkt? War sie so naiv, alles zu glauben, was Jose ihr erzählt hatte und noch erzählen würde? Aber warum sollte er sie anlügen? Jetzt, ja, jetzt würde er sie anlügen, wenn er jetzt ein anderes Mädchen mit nach Hause nähme. Aber die Mädchen vor ihr brauchten sie nicht zu interessieren.

      „Hattest du auch Jüngere als mich?“

      „Ja“, antwortete er schlicht, „aber die haben immer auf dem Sofa geschlafen, sind nie in mein Bett gekrochen.“

      Er lächelte Carmen unschuldig an, verkniff sich aber eine weitere Bemerkung.

      Jose schenkte nach. Sie stießen an, lauschten dem Klang der Gläser, der lange nachschwang, bis nur noch ein ganz feines Sirren zu hören war, das verhallte, als sie die Gläser zum Mund führten.

      „Wie geht es mit uns weiter?“

      Carmen hatte diese Frage schon viel früher stellen wollen, aber sie hatte Angst vor der Antwort, und diese Angst wuchs immer mehr, je länger er mit der Antwort wartete.

      „Ich könnte mir die Sache einfach machen“, begann er, „ich könnte dir sagen, es hängt von dir ab, du kannst entscheiden, ob du bei mir bleiben willst und wie lange, aber das wäre unredlich und würde auch nicht stimmen.

      Ich liebe dich und möchte, dass du bei mir bleibst. Aber zwingen kann ich dich nicht, und das will ich auch nicht. Wenn du sagst, du kannst mit einem von der ‚Treppe’ nicht zusammenleben“, – er lachte kurz, aber es klang nicht überzeugend – „dann kannst du gehen. Nur dass du bei mir bleibst wie eine Fremde oder eine Freundin, das geht nicht. Das kann ich nicht.“

      Carmen wollte antworten,