Klaus Melcher

Wolfskinder


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zu gehen und zwischen all den Herrlichkeiten zu wühlen, Hosen auszusuchen und anzuprobieren, zwischen den vielen Shirts zu wühlen.

      Jose hatte eine ungeheure Geduld. Nichts schien ihm zu viel zu sein. Auch nachdem Carmen bereits die sechste Jeans anprobiert hatte, zeigte er ihr noch eine siebente, die seiner Meinung nach besonders chic war.

      Als sie endlich das Kaufhaus verlassen konnten, war er um mehr als hundert Euro ärmer und Carmen um Jeans, Shorts, Shirts und Unterwäsche reicher.

      In der einen Hand hielt sie die große Einkaufstüte, mit der anderen drückte sie Joses Hand. In der Straßenbahn nahm sie die Tüte auf den Schoß, sah immer wieder hinein und strahlte.

      „Nachher mache ich eine Modenschau!“

      Während er sich um das Abendessen kümmerte, begann die Modenschau. Fast hätte er das Fleisch anbrennen lassen, so fasziniert war er von dem Anblick, der sich ihm bot. Immer wieder forderte Carmen ihn auf, sie anzusehen, wenn sie sich drehte, ihr zu bestätigen, dass ihre Wahl richtig gewesen war, dass niemand diese Hose so tragen konnte wie sie, diese Shorts, dieses Shirt.

      „Was soll ich zum Abendessen tragen?“, fragte sie.

      Jose überlegte kurz.

      „Die Jeans“, antwortete er, denn er dachte, es würde am Abend vielleicht etwas kühler werden.

      „Dann magst du also die Shorts nicht! Das hättest du mir gleich sagen sollen, dann hätte ich sie nicht gekauft!“

      Carmen war enttäuscht. Gerade auf die hatte sie sich besonders gefreut.

      Jose beeilte sich, ihr zu versichern, dass die Shorts ihr fantastisch stünden, dass niemand das Recht hätte, sie zu tragen, wenn nicht Carmen, dass sie wie für sie gemacht wären.

      Und als sie noch immer nicht ganz überzeugt zu sein schien, lobte er ihre langen schlanken Beine, die in diesen knappen Höschen noch länger wirkten als sie ohnehin schon waren.

      „Meinst du wirklich?“, fragte sie unschuldig, doch Jose war überzeugt, sie wusste es selbst am besten.

      Und der Beweis ließ nicht lange auf sich warten.

      Carmen ging in die Küchenecke, zog die Besteckschublade auf, entnahm ihr eine Schere und setzte sich an den Balkontisch.

      Ohne ein Wort zu sagen, legte sie die Hose auf den Tisch und strich sie glatt. Dann begann ihre kurze Arbeit: Mit wenigen energischen Schnitten verkürzte sie die ohnehin nur angedeuteten Hosenbeine.

      Müller wollte etwas sagen: „Lass das!“ oder „Was soll das?“ oder irgendetwas in der Richtung. Er kam nicht dazu, so schnell waren die Beine abgeschnitten.

      Carmen schob die Schere und den abgeschnittenen Stoff zur Seite und zwängte die Shorts über ihre Hüften. Sie hielt die Luft an und zog den Bauch ein. Die Hose ließ sich nicht schließen.

      „Hilf mir bitte mal!“, bat sie.

      Ohne den Knopf abzureißen, hätte auch Heiko es nicht geschafft.

      Carmen war verzweifelt.

      „Vielleicht hättest du doch eine Nummer größer kaufen müssen. Hast du das nicht schon bei der Anprobe gemerkt? Außerdem hast du die Beine zu kurz abgeschnitten. Sieh hier, dein Slip guckt vor“, deutete Heiko an.

      Carmens Gesicht hellte sich auf.

      „Das ist es“, triumphierte sie, „ich darf keinen Slip tragen, der ist viel zu dick. Und dann passen die Shorts auch.“

      Wie von selbst fielen die Shorts und der Slip auf den Boden, griff Carmen erneut die Shorts und zog sie über ihre Hüften. Jetzt passten sie, und der Knopf ließ sich Tatsächlich schließen.

      „Siehst du? Ich wusste doch, dass sie passen!“

      Carmen eilte ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Sie drehte und wendete sich, zog erfolglos an dieser und jeder Stelle. Die Hose saß stramm wie eine Pelle.

      „Etwas fehlt noch.“

      Carmen überlegte.

       Es fehlte nichts. Noch etwas abzuschneiden, hätte bedeutet, man hätte aus dem Rest einer Hose einen Wimpel gemacht.

      Aber Heiko hütete sich, das zu sagen.

      „Vielleicht schneidest du noch ein paar Löcher in die Hose“, spottete er stattdessen.

      Wieder hatte Carmen die Hose ausgezogen und zwei Schnitte in das Gesäß gemacht, hatte sie wieder angezogen, bevor Heiko auch nur ein Wort sagen konnte.

      Schon war sie wieder im Bad, betrachtete sich im Spiegel, drehte sich, bückte sich und streckte sich.

      Jetzt war sie zufrieden, geradezu beglückt. Sie kehrte zurück ins Wohnzimmer, drehte sich vor Heiko, der jetzt wieder ganz ihr Jose war und sie voller Verlangen in die Arme nahm und durch den Raum schwenkte.

      Dass diese Shorts sehr gewagt waren, man könnte auch sagen: ordinär, das spielte jetzt gar keine Rolle mehr. Er sah nur dieses wunderschöne Mädchen, fühlte seinen herrlichen Körper, der sich an seinen drängte, und er wusste, er war ihm verfallen.

      „Und was ziehst du oben an?“

      Carmen steckte die Spitze des Zeigefingers der linken Hand in den Mund und überlegte. Einen Moment nur, dann griff sie nach einem T-Shirt, setzte sich wieder an den Balkontisch und schnitt die Vorderseite in der Mitte fast bis zum Bauchnabel auf.

      Wieder probierte sie es an.

      Es sah unmöglich aus.

      Sie schnitt weiter, bis das Shirt vorne offen war.

      Sie war immer noch nicht zufrieden.

      Schon wollte sie aufgeben, als Jose – halb im Scherz – vorschlug, von der Länge ein ganzes Stück abzuschneiden und die Ärmel fortzunehmen.

      Als Carmen endlich mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden war, war es dunkel geworden. Das T-Shirt war gerettet, wenn auch nichts an ihm an seinen ursprünglichen Zustand erinnerte. Es erinnerte eher an einen sehr knappen Bolero, der unterhalb des Busens mit einem abgeschnittenen Stoffrest zusammengehalten wurde.

      Abenteuerlich war Carmens Outfit schon, das musste Jose zugeben. Aber es war unverschämt sexy. Und wenn sie sich nicht in den Kopf setzte, so durch Hannover zu laufen, dann war er über diese Änderung nicht gerade unglücklich.

      Kapitel 7

      Heiko Müller hatte seinen R 4 auf dem großen Behördenparkplatz abgestellt, etwas abseits von den anderen Autos. Dass er fast regelmäßig wegen seines Autos belächelt und angefrotzelt wurde, störte ihn schon lange nicht mehr, doch heute hatte er keine Lust auf den Spott seiner Kollegen, auch wenn er nett gemeint war. Die nächsten ein, zwei Stunden würden anstrengend werden. Da mochte er vorher keine Späße.

      Um kurz vor acht Uhr hatte er Buchholz zurückgerufen, um ihn zu fragen, was gestern so wichtig gewesen wäre. Er hoffte, es wäre nicht zu eilig gewesen, doch gestern hätte er beim besten Willen nicht zurückrufen können, ohne den Erfolg seiner Arbeit zu gefährden. Er wäre gerade bei einem sehr schwierigen Fall.

      Es wäre schon in Ordnung, meinte Buchholz, aber er möchte doch bitte zu ihm kommen, der Chef hätte einen Bericht über die Wolfskinder verlangt, und er, Müller, wäre schließlich der Kompetenteste.

      „Wissen Sie, die nackten Zahlen habe ich hier in den Akten, aber das ist nur ein dürres Gerüst.“

      Müller hatte kurz überlegt und versprochen, gegen zwölf Uhr im Amt zu sein, sehr zur Erleichterung von Buchholz.

      Es war nicht viel Zeit, die bis dahin blieb.

      Carmen schlief noch, sie hatte gestern, begeistert von ihren Designerfähigkeiten,

      etwas mehr Rotwein getrunken, als es gut für sie war, und Jose hatte sie auch nicht gebremst.