wo wir in Frieden leben könnten! Alle die Jahre, die ich gelebt habe, bin ich gejagt und verfolgt gewesen. Es wäre herrlich, zu wissen, daß es auch für einen Vogel, wie ich es bin, eine Freistatt gäbe.«
»Ich würde wahrlich glücklich sein, wenn ich Euch dazu hätte verhelfen können,« sagte der Junge, »doch ich werde wohl niemals zu Macht unter den Menschen gelangen.« – »Aber wir stehen ja hier und sprechen, als wenn wir uns nie wiedersehen sollten,« sagte Akka, »und morgen früh treffen wir uns doch! Jetzt fliege ich zu meiner Schar zurück.« Sie hob die Flügel, kam aber wieder zurück, strich ein paarmal mit dem Schnabel an Däumling auf und nieder und flog dann schließlich davon.
Es war heller Tag, aber auf dem Hofe war kein Mensch zu sehen, so konnte der Junge gehen, wohin er wollte. Er eilte nach dem Kuhstall, denn er wußte, daß er bei den Kühen am besten Auskunft erhalten konnte. Es sah traurig aus dadrinnen. Im Frühling waren da drei prächtige Kühe gewesen, aber nun stand nur noch eine einzige da. Es war Mairose und man konnte ihr ansehen, daß sie sich nach ihren Kameraden sehnte. Sie ließ den Kopf hängen und hatte kaum ein Hälmchen von dem Futter angerührt, das vor ihr lag.
»Guten Tag, Mairose!« sagte der Junge und sprang ohne Angst zu ihr in den Stand hinein. »Wie geht es Vater und Mutter? Was machen die Katze und die Gänse und die Hühner, und wo hast du Stern und Goldlilie gelassen?«
Als Mairose die Stimme des Jungen hörte, fuhr sie zusammen, und es sah so aus, als habe sie Lust, mit den Hörnern nach ihm zu stoßen. Aber sie war nicht mehr so hitzig wie früher, sondern ließ sich Zeit, Niels Holgersen zu betrachten, ehe sie ihn auf die Hörner nahm. Er war noch ebenso klein wie bei seiner Abreise, und er hatte denselben Anzug an wie bei seiner Abreise, aber er sah trotzdem ganz anders aus. Der Niels Holgersen, der im Frühling von dannen gezogen war, hatte einen schweren und langsamen Gang, seine Stimme war träge und seine Augen waren schläfrig, der Niels Holgersen aber, der wiederkam, war leicht und geschmeidig, flink in seiner Rede, und hatte ein Paar Augen, die leuchteten und glänzten. Seine Haltung war so keck, daß man unwillkürlich Respekt vor ihm bekommen mußte, so klein er war. Und obwohl er selbst nicht gerade glücklich aussah, wurde man froh, wenn man ihn nur ansah.
»Muh!« brüllte Mairose. »Sie haben ja freilich gesagt, er wäre anders geworden, aber ich wollte es nicht glauben. Willkommen daheim, Niels Holgersen, willkommen daheim! Dies ist die erste frohe Stunde, die ich seit langen Zeiten gehabt habe!« – »Hab' Dank, Mairose!« sagte der Junge, froh überrascht durch den freundlichen Empfang. »Erzähle mir jetzt, wie es Vater und Mutter geht!«
»Die haben nur Sorgen und Unglück gehabt, seit du davongegangen bist,« sagte Mairose. »Das Allerschlimmste war das teure Pferd, das den ganzen Sommer hier gestanden und nichts weiter getan hat als fressen. Dein Vater kann sich nicht entschließen, es zu erschießen, und verkaufen kann er es nicht. Das Pferd ist schuld daran, daß Stern und Goldlilie verkauft werden mußten.«
Der Junge wollte eigentlich etwas ganz anderes wissen, aber er scheute sich, geradeheraus zu fragen. Deswegen sagte er: »Mutter war wohl nicht sehr ärgerlich, als sie sah, daß der Gänserich Martin davonflog?«
»Ich glaube, sie hätte sich die Sache mit dem Gänserich nicht so zu Herzen genommen, wenn sie gewußt hätte, wie es kam, daß er davonflog. Jetzt trauert sie Tag und Nacht darüber, daß ihr eigener Sohn sich von Hause fortgeschlichen und den Gänserich mitgenommen hat.«
»Sie glaubt also, daß ich den Gänserich gestohlen habe?« fragte der Junge. – »Was sollte sie sonst wohl glauben?« – »Vater und Mutter glauben wohl, daß ich mich diesen Sommer wie ein Landstreicher umhergetrieben habe?« – »Sie denken, daß es schlimm mit dir steht,« antwortete Mairose. »Und sie haben über dich getrauert, wie man trauert, wenn man das Liebste verliert, was man besitzt.«
Als der Junge dies hörte, ging er schnell aus dem Kuhstall und begab sich in den Pferdestall. Der war klein aber zierlich. Man konnte deutlich sehen, daß Holger Nielsen sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, um ihn so einzurichten, daß das neuangekommene Pferd sich wohl dort fühlen sollte. Und da stand ein wunderschönes Pferd, das förmlich von Wohlsein glänzte.
»Willkommen im Stall!« sagte der Junge. »Ich habe gehört, daß hier ein krankes Pferd sein soll, aber das kannst du doch nicht sein, so frisch und gesund, wie du aussiehst!« Das Pferd wandte den Kopf um und sah den Jungen aufmerksam an. »Bist du der Sohn des Hauses?« fragte es. »Von dem habe ich soviel Schlimmes gehört. Aber du siehst so gut aus, daß, wenn ich nicht wüßte, er sei in ein Heinzelmännchen verwandelt, ich nie geglaubt hätte, daß du es seiest.« – »Ich weiß sehr wohl, daß ich hier zu Hause einen schlechten Ruf hinterlassen habe,« sagte der Junge. »Meine eigene Mutter glaubt, daß ich mich als Dieb weggeschlichen habe, aber das ist jetzt einerlei, denn ich bleibe nicht lange zu Hause. Ehe ich gehe, möchte ich aber doch gern wissen, was dir eigentlich fehlt.«
»Schade, daß du nicht hier bleibst,« sagte das Pferd, »denn ich bin überzeugt, du und ich, wir wären gute Freunde geworden. Mir fehlt nichts weiter, als daß ich mir etwas in den Fuß hineingetreten habe, eine Messerspitze oder was es sonst sein mag. Das sitzt so gut verborgen, daß der Doktor es nicht hat finden können, aber es sticht und sticht, so daß ich fast nicht auftreten kann. Wenn du Holger Nielsen nur erzählen wolltest, was mir fehlt, so glaube ich, daß er mir leicht helfen könnte. Ich möchte so gern für mein Futter arbeiten. Ich schäme mich so, daß ich dastehe und fresse, ohne das Geringste zu leisten.«
»Gut, daß du keine eigentliche Krankheit hast,« sagte der Junge. »Ich will sehen, ob ich nicht dafür sorgen kann, daß du kuriert wirst. Es tut dir wohl nicht weh, wenn ich mit meinem Messer etwas in deinen Huf ritze?«
Niels Holgersen war gerade mit dem Pferd fertig geworden, als er draußen auf dem Hof Stimmen vernahm. Er öffnete die Stalltür ein klein wenig und sah hinaus. Es waren sein Vater und seine Mutter, die von der Landstraße her auf das Haus zukamen. Man konnte ihnen ansehen, daß sie von Sorgen niedergedrückt waren. Seine Mutter hatte viel mehr Runzeln bekommen, als sie früher gehabt hatte, und das Haar des Vaters war grau geworden. Die Mutter redete dem Vater zu, sich Geld von seinem Bruder zu leihen. »Nein, ich will nicht noch mehr Geld leihen,« sagte der Vater, gerade als sie am Stall vorübergingen. »Schulden sind das Schlimmste von allem. Dann müssen wir lieber das Haus verkaufen.« – »Ich hätte auch nichts dagegen, daß wir uns von dem Hause trennten, wenn es nicht des Jungen wegen wäre. Aber was soll er anfangen, wenn er eines Tages arm und elend, wie er natürlich ist, zurückkehrt, und wir dann nicht hier sind?« – »Ja, darin hast du recht,« sagte der Vater, »wir müßten dann die Leute, die hier nach uns wohnen, bitten, sich seiner anzunehmen und ihm zu sagen, daß wir ihn erwarten. Er soll kein böses Wort von uns hören, wie er auch sein mag. Nicht wahr, Mutter!« – »Ach nein, nein! Hätte ich ihn nur wieder daheim, so daß ich wüßte, er triebe sich nicht hungrig und frierend auf der Landstraße herum, dann könnte alles andere einerlei sein.«
Als sein Vater und seine Mutter das gesagt hatten, gingen sie ins Haus, und Niels konnte nichts mehr von ihrer Unterhaltung hören. Er war sehr glücklich und tief gerührt, als er hörte, daß sie ihn so lieb hatten, obwohl sie glaubten, er sei ganz vor die Hunde gegangen. Am liebsten wäre er gleich zu ihnen gelaufen. »Aber wenn sie mich so sehen, wie ich jetzt bin, würden sie vielleicht noch betrübter werden,« dachte er.
Während er noch dastand und überlegte, hielt ein Wagen am Zaun. Der Junge hätte beinahe laut aufgeschrien vor Überraschung; denn niemand anders als das Gänsemädchen Aase und ihr Vater stiegen aus und kamen auf den Hof gegangen. Hand in Hand schritten sie dem Hause zu; sie kamen so still und ernsthaft daher, aber ein schöner Schimmer von Glück strahlte aus ihren Augen. Als sie ungefähr mitten auf dem Hofe waren, hielt Aase ihren Vater zurück und sagte zu ihm: »Vergiß nun auch nicht, Vater, daß du kein Wort von dem Holzschuh oder den Gänsen oder dem kleinen Wicht sagst, der Niels Holgersen so ähnlich sah, daß, wenn er es nicht selbst gewesen ist, es einer sein muß, der etwas mit ihm zu schaffen hat.« – »Nein,« sagte Jon Assarson, »nein, ich sage natürlich nichts weiter, als daß ihr Sohn dir mehrmals große Hilfe geleistet hat, als du umherwandertest und nach mir suchtest, und daß wir gekommen sind, um zu fragen, ob wir ihnen dafür nicht auch einen Dienst erweisen können, jetzt, wo ich ein wohlhabender Mann geworden