Lust zu haben, den Gegenstand fallen zu lassen.
»Ist vielleicht die Prinzessin von Stenbroträsk zu gut dazu, mir meine Zeitungen zu holen?« fragte er. Das sollte natürlich ein Scherz sein, aber es war doch zu merken, daß er ärgerlich war, weil sie sich nicht hatte nach seinem Wunsch richten wollen.
»Nein, Eduard, das ist nicht der Fall.«
»Oder ist es vielleicht zu häßlich und zu langweilig hier in Applum? Die gnädige Frau kann wohl nicht ausgehen, wenn keine Herrenhöfe und Eisenwerke da sind, die man beschauen kann? Soll ich vielleicht Pferd und Wagen kommen lassen, damit – –«
»Eduard!« rief sie.
»Ja, ich weiß wohl, mit Stenbroträsk kann nichts verglichen werden,« sagte der Mann mit einem etwas zornigen Lachen. »Aber ich hätte gedacht, es wäre nicht unter deiner Würde, auf dem Boden von Applum zu wandeln.«
»Das ist es nicht, Eduard. Ich kann nicht ausgehen.«
»Du kannst nicht?« fragte der Mann scheinbar außerordentlich erstaunt.
Die eine Äußerung war so rasch auf die andere gefolgt, daß Sven Elversson ganz verdutzt stehen geblieben war. – »Das sollte ich eigentlich nicht mit anhören,« dachte er. Er faßte die Türklinke, öffnete die Tür und machte sie wieder zu, trat hart auf und hustete, damit die beiden seine Anwesenheit merken sollten; allein sie ließen sich nicht stören, und das Zwiegespräch ging weiter.
»Nein, ich kann nicht,« wiederholte die junge Frau. »Es ist etwas hier, was mich erstickt und mir den Atem raubt. Und das ist nicht etwa Heimweh, nein, es ist etwas anderes. Ich bin frisch und glücklich, solange ich im Zimmer bin, aber sobald ich hinauskomme, fällt es über mich her.«
Sie redete heftig und abgebrochen, stieß die Worte eigentlich nur hervor.
»Aber Sigrun!« rief der Pfarrer. »Was ist das nur mit dir? Ich hab' es ja gar nicht so schlimm gemeint!«
»Nein, ich bin nicht hochmütig!« rief sie. »Frage doch zu Hause an, so wirst du hören, daß ich niemals hochmütig gewesen bin. Und ich kann auch nicht deshalb nicht ausgehen, weil es hier häßlich ist. Ach, es ist etwas anderes! Wenn ich nur selbst wüßte, was es ist.«
»Höre, Sigrun, du mußt mir erklären, was du meinst,« sagte der Pfarrer. »Das scheint mir etwas zu sein, dem wir gleich mit rechtem Ernst zu Leibe gehen müssen.«
Sven Elversson wußte gar nicht, was er anfangen sollte. Hatte er nicht schon zuviel gehört, um jetzt noch seine Anwesenheit zu erkennen zu geben? Er ging bis zur Flurtür, blieb aber dort stehen und kehrte dann wieder um. Immer war er unsicher, wie er sich benehmen sollte. Niemand konnte so ratlos und so ohne alles Selbstvertrauen sein, wie er.
»Ich wollte nicht gerne mit dir darüber reden,« sagte die junge Frau, und wieder sprach sie stoßweise und ungeduldig. »Eigentlich ist es ja auch gar nichts. Es ist nur etwas, das mich überfällt, sobald ich das Pfarrhaus verlasse. Aber es ist nichts, was ich sehe und höre, sondern etwas, das mir ein Gefühl des Mitleids mit mir selber einflößt. Ich bedauere mich selbst, weil ich nie wieder von hier fortkommen werde. So muß es den Verbannten zumute sein, wie mir hier. Und doch ist es nichts anderes als das Gefühl, gerade an dem einen Platz bleiben zu müssen, an demselben engen, eingeschlossenen, einförmigen, trostlosen Ort.«
»Ganz gewiß sagt sie das nur, um wieder etwas ebenso Schönes zu hören wie neulich,« dachte Sven Elversson. »Und der Pfarrer hat Verstand und Gemüt, er wird sie schon wieder froh machen. Das geht bei ihm wie im Spiel.«
»Wenn hier nur irgendwo eine freie Aussicht wäre! Wenn ich nur nicht in einer Grube wohnen müßte, wenn ich nur nicht diese Bergwand um mich her hätte! Aber ich bin wohl zur Strafe für irgend etwas Böses, das ich getan habe, hierhergekommen. Kannst du mir denn gar nichts sagen, was mir helfen kann?«
»Ganz gewiß werde ich jetzt etwas Schönes vernehmen,« dachte Sven Elversson. »Ich freue mich darauf, zu hören, wie er ihr diesmal helfen wird.«
In der Tat war ihm jetzt auf seinem Lauscherposten an der Tür gar nicht mehr so unbehaglich zumute. Die Stimme der jungen Frau klang köstlich in seinen Ohren, und von dem Pfarrer erwartete er jetzt etwas Stimmungsvolles und Ergreifendes.
»Ich hab' es immer wieder versucht, auszugehen,« sagte sie, »aber es geht nicht. Du kannst dieses Gefühl nicht verstehen. Es ist mir, als müßte ich ersticken. Es schnürt mir die Kehle zu. Und dann stürzen mir die Tränen aus den Augen.«
»Nun sieh einmal, Sigrun! Das ist doch eigentlich gar nichts,« sagte der Pfarrer. »In der Luft hier ist sicher nichts, das wir nicht sehen. Du bildest dir das also nur ein.«
»Nein, nein!« erklärte sie. »Es ist hier etwas Böses, das mich haßt und mir mein Glück rauben will. Weißt du, was ich immer wieder tue? Ich stelle mich vor das ärmliche Bildchen von Stenbroträsk, das mir eine meiner Basen gemalt hat und über das ich nur lachte, als ich es bekam. Und wenn ich dann eine Weile lang den Fluß und die Propstei mit den großen Linden am Tor betrachtet habe, dann steigt wieder etwas mehr Lebensmut in mir auf.«
»Ich fürchte, dies ist der Anfang zu einer fixen Idee, Sigrun,« sagte der Pfarrer, und dann hörte Sven, daß er in einen ermahnenden, überlegenen Predigerton verfiel. »Und dies muß meiner Ansicht nach gleich zu Anfang bekämpft werden. Ich fürchte, ich muß von dir verlangen, daß du sofort hingehst und mir die Zeitungen holst.«
»Aber ich kann nicht!« rief sie. »Ich kann nicht!«
Sven Elversson begriff recht wohl, wie ernstlich der Pfarrer bemüht war, seiner Frau zu helfen. Aber er hatte erwartet, der Pfarrer werde es auf eine andere Art tun, obgleich diese vielleicht die ganz richtige sein mochte. Er seinerseits hätte gewiß nicht gewußt, wie er es hätte angreifen sollen.
»Nun hör' mich einmal an, Sigrun,« fuhr der Pfarrer fort. »Du siehst wohl selbst ein, daß mit so etwas nicht zu spaßen ist. Gegen so etwas muß man ankämpfen. Du bist frisch und gesund. Du kannst mir nicht im Ernst weismachen wollen, du seiest nicht imstande, diesen kleinen Gang zu machen. Ich bin auf jeden Fall gezwungen, es von dir zu verlangen, um unseres gemeinsamen Glückes willen, damit es ausreiche, nicht nur für einige kurze Flitterwochen, sondern für unser ganzes Leben, verstehst du?«
»Ich werde später gehen,« sagte sie mit flehendem und verzweifeltem Tonfall. »Aber willst du es mir nicht heute erlassen? In einigen Tagen will ich es versuchen. Morgen will ich es versuchen.«
Sven Elversson blieb noch einen Augenblick stehen, um zu hören, ob der Aufschub bewilligt werde. Aber als der Pfarrer fest auf seinem Verlangen des Zeitungholens verblieb, tat Sven etwas, woran er schon längst hätte denken können, was ihm aber in seiner Unsicherheit bis jetzt nicht eingefallen war: er machte ganz vorsichtig die Tür auf und schlich sich davon. Bis er an der Kirche vorbei war, ging er langsam; sobald er aber vom Pfarrhaus aus nicht mehr gesehen werden konnte, fing er an zu laufen.
Und als nun die junge Pfarrfrau so langsam, ach so langsam auf den Pfad herauskam, noch mit Tränen in den Wimpern nach der ernsten Unterredung, und nicht recht wußte, was sie tat, und schwankte, als ob sie eben erst von einem schweren Krankenlager aufgestanden wäre, da brauchte sie nur wenige Schritte zu gehen, als ihr auch schon ein junger Mann entgegentrat.
Er grüßte sie und redete sie an, indem er sagte, er sei vor einigen Tagen mit ihr und dem Herrn Pfarrer vom Bahnhof nach Hause gefahren.
Sie gab keine Antwort. Sie starrte ihn nur an, ohne zu verstehen, was er sagte. Dann versuchte er, ihr zu erklären, daß er eben vom Kaufladen gekommen sei, und später meinte sie, er habe ihr sagen wollen, der Krämer habe ihn gebeten, die Zeitungen fürs Pfarrhaus mitzunehmen. Er habe so schüchtern und mit übermäßiger Unsicherheit gesprochen, sie hätte ihn kaum recht verstehen können, wenn sie auch vollständig gemütsruhig gewesen wäre.
Er reichte ihr auch eine Zeitung hin, und sie nahm sie entgegen, ging aber dennoch weiter, denn sie konnte nicht gleich fassen, daß sie nun das habe, was sie hatte holen sollen, und nun sofort wieder heimgehen könnte.
Da kam ihr der fremde junge Mann nach und sagte,