Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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welches Recht dieser Bruder habe, herzukommen und seinen Geschwistern Widerwärtigkeiten zu bereiten. Er hielt sich hinter dem breiten Rücken der anderen verborgen und grinste im voraus beim Gedanken an das, was jetzt kommen werde.

      »Joel, Jung-Joel!« rief ihn seine Mutter an. »Was haben sie mit Sven im Sinn?«

      Und ohne Zaudern gab Jung-Joel Antwort, so gewöhnt war er nun einmal, die Fragen, die diese Stimme an ihn stellte, zu beantworten.

      »Sie wollen ihm eine Schlange zu essen geben.«

      Die Unfähigkeit, sich zu rühren, unter deren Bann Sven Elversson stand, wurde immer größer, deutlich sah er den kommenden Auftritt vor sich. Die Gesellen würden ihm befehlen zu essen, und er würde sich weigern. Sie würden ihn schlagen und mit Füßen treten, und er würde immer wieder nein sagen. Jetzt gab es keine Macht mehr, die ihn zwingen konnte, etwas Widriges zu essen, und dann würden sie ihn zu Tode quälen.

      Aber er hatte noch einige Augenblicke vor sich; der Augenblick, wo er mit ihnen hinausgehen sollte, war noch nicht gekommen.

      Der eine, der am Morgen die Schlange gefunden hatte, zog das lange glänzende Tier aus der Tasche. Er taumelte auf einem Bein und hielt zugleich Mutter Thala die Schlange unter die Nase.

      »Die wird ihm schmecken!« sagte er.

      »Seid ihr denn Unmenschen, alle miteinander!« rief die Mutter. »Und ihr meint, ich werde meinen Sohn Sven, der soviel besser ist als ihr alle, mit euch gehen lassen?«

      Nun brach die Schar in lautes Gelächter aus.

      »Er braucht nicht weiter mit uns zu gehen, als bis zum Boot hinunter,« sagte der mit der Schlange in der Hand. »Dort wollen wir sie ihm braten.«

      Die Ohnmacht, die Sven Elversson gefangen hielt, fing an zu weichen. »Jetzt ist es bald Zeit,« sagte er zu sich. »Heut abend geht alles zu Ende. Das ist nichts, um darüber zu trauern.«

      Die Mutter warf einen Blick auf ihn und sah ihn mit dem kummervollen, verzeihenden Lächeln auf den Lippen dasitzen. Von Zorn oder Lust zum Widerstand war nichts in seinen Zügen zu bemerken, nur Demut und stiller, unterwürfiger Kummer.

      »Aber du wirst doch wirklich nicht daran denken, mit ihnen zu gehen!« rief sie ihm zu. »Weißt du, wer der mit der Schlange dort ist? Es ist Olaus von der Fårö, er ist mitschuldig an einem Kindesmord. Er hat seine Braut verlassen, als sie ihn gerade am nötigsten gehabt hätte.«

      Die Gesellen krümmten sich vor Lachen.

      »Nur keine Angst für das Söhnchen, Mutter Thala!« sagte Olaus von der Fårö. »Er darf salzen und pfeffern, soviel er will. Und er wird nicht schlechter als vorher, wenn er eine Schlange ißt.«

      »Und der da!« rief die Mutter und deutete auf den längsten und häßlichsten von den Gesellen. »Der da ist Corfitzson von Fiskebäck. Er hat in seinem Leben viel Böses getan, und unter anderem hat er, nur um die Versicherungssumme einzustreichen, auch Feuer an einen mit Vieh gefüllten Stall gelegt.«

      »Eil dich, mein Junge! Setz' die Mütze auf und komm!« sagte Corfitzson und legte Sven Elversson die Hand auf die Schulter.

      Aber Mutter Thala fuhr in schwindelnder Eile fort:

      »Und der dort, das ist Bertil vom Strömsund. Wenn du wissen willst, was das schlimmste ist, was er getan hat, so war es wohl das, daß er seine Großmutter zu Tode gefüttert hat. Sie lebte keine zwei Monate mehr, nachdem sie ihm ihr Haus abgetreten hatte. Und der dort hinten in der Ecke ist Torsson von Iggenäs, der immer nur die Fische aus dem Garn der anderen gestohlen hat, und die beiden dort hinten, die am ärgsten betrunken sind, das sind Rasmussen und Hjelmfelt. Sie versaufen ihren ganzen Verdienst und lassen Frau und Kinder hungern.«

      Sie hatte die Stimme beinahe zum Schreien erhoben und bebte vor Angst und Zorn. Die Männer waren einige Augenblicke so unter dem Bann ihrer Worte, daß sie schwiegen und zu lachen aufhörten.

      »Und weißt du, wer das ist, der dort ganz hinter den anderen steht?« fuhr die Mutter mit noch gellenderer Stimme fort. »Das ist dein Bruder Jung-Joel Er hat weiter nichts getan, als daß er seine alten Eltern auf ihrer Schäreninsel hilflos verkommen lassen wollte. Was hab' ich ihn angefleht, zu uns herauszuziehen, aber er wollte nicht hören.

      Und nun Sven, jetzt, wo du weißt, was das für Leute sind, wirst du doch nicht mit ihnen gehen wollen?«

      Gerade als sie dies sagte, sah sie ihren Sven aufstehen, immer noch ebenso sanft und verzeihend wie vorher, nur vollkommen bereit, sich zu unterwerfen und zu leiden.

      Von neuem brach die Schar in lautes Gelächter aus.

      »So ist's recht, mein Junge, daß du gutwillig mitgehst!« rief Olaus, der augenscheinlich der Anführer war. »Du kannst dich doch auch sechs starken Männern allein nicht widersetzen.«

      Aber Mutter Thala war nicht die Frau, die die Absicht hatte, ihren Sohn gehen zu lassen, ohne vorher allen Widerstand zu leisten, den sie zu leisten vermochte. Mit einem raschen Griff riß sie Olaus die Schlange aus der Hand, warf sie in den Nebenraum und stellte sich vor die Tür.

      Im selben Augenblick ging die äußere Tür auf, und Joel stürzte herein.

      »Was geht denn hier vor?« rief er. »Was macht ihr hier für einen Lärm? Und wohin wollt ihr mit Sven?«

      Er sah, daß ein paar von den Gesellen auf Mutter Thala zugesprungen waren, um sie von der Tür wegzureißen, und daß ein paar andere Sven Elversson die Hände auf die Achsel gelegt hatten und ihn vor sich herstießen.

      Ohne einen Augenblick zu zaudern, warf sich der alte Mann unter die Kämpfenden.

      »Laßt los! Rührt Sven nicht an!« rief er.

      Da fühlte Sven Elversson plötzlich, wie die Starrheit von ihm wich. »Jetzt ist es Zeit, jetzt kämpfe für Vater und Mutter und für dich selbst,« sagte eine Stimme in ihm.

      »Jung-Joel!« rief er seinem Bruder zu, der sich hinter der Schar der berauschten Eindringlinge hielt. »Mach' die Tür zum Flur auf!«

      Und als der Bruder, der gewohnt war, allen Befehlen, die in diesem Haus gegeben wurden, zu gehorchen, die Tür weit aufgemacht hatte, faßte Sven den Olaus um den Leib, hob ihn vom Boden auf und warf ihn hinaus. Corfitzson von Fiskebäck stürzte herzu, um Sven mit sich fortzureißen, fühlte sich aber gleich darauf von starken Armen umfaßt, aufgehoben und seinem Kameraden nach in den Flur hinausgeworfen.

      Als dies geschehen war, sprang Jung-Joel vor und stellte sich neben seinen Bruder.

      Es folgte noch einige Augenblicke lang ein wilder Tumult; aber dann war auch die alte Küche von allen Feinden gesäubert.

      Jung-Joel schloß die Tür hinter ihnen zu. Dann trat er mit einer gewissen Feierlichkeit auf den Bruder zu und reichte ihm die Hand.

      »Wie in aller Welt hast du das gemacht?« fragte er mit der aufrichtigsten Bewunderung. »Den Griff mußt du mir zeigen.«

      Das Gesicht des älteren Bruders hatte von dem Kampf Farbe bekommen, und das duldende Lächeln war von seinen Lippen verschwunden.

      »Verlaß dich darauf, jetzt kommen die anderen auch zu der Erkenntnis, daß mit dir nicht zu spaßen ist,« sagte Jung-Joel. »Aber wenn Du so ein Ringkämpfer bist, warum hast du denn dann bisher alle die Schimpfworte ertragen, ohne zu mucksen?«

      Da verlor Sven Elversson ein einziges Mal die Selbstbeherrschung. Er warf sich auf einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen.

      »Warum sollte ich mich wehren!« brach er in Verzweiflung los. »Wenn ich mich selbst doch mehr verachte, als du oder einer der anderen mich verachten können? Wenn ich größeren Ekel vor mir selbst empfinde, als ich euch je einflößen kann? Mehr Ekel, mehr Abscheu. Niemand von euch weiß so gut wie ich, was ich getan und wogegen ich gesündigt habe. Ich hasse mich selbst. Mir ekelt vor mir selbst. Was hilft es mir da, wenn ich ein paar Betrunkenen den Mund stopfe?«

      Ein paar Tage nach Weihnachten kam