weiß man also, wie die Sache steht. Rund herum im Lande fürchten sich die Menschen, der Mörder könnte nicht verurteilt werden. Man hat ja gesehen, was das heute im Gerichtsgebäude für ein Gedränge war. Man begreift, wie eifrig die Zeitungen sich bemühen werden. Man begreift, wie der Richter schwankt. Ja, man begreift sehr gut, was das heißen will. Man möchte gerne verurteilen, aber man hat nicht genügend Beweise. Man möchte ein Geständnis hervorlocken, um verurteilen zu können. Man weiß, daß man einen Angeklagten gegen sein entschiedenes Leugnen nicht verurteilen kann, wenn man keinen Beweis hat.«
Er fühlte sich vollkommen sicher und fing sogar an zu pfeifen.
Vielleicht würde es sich, genau betrachtet, herausstellen, daß diese schwere Prüfung nicht ohne Nutzen für ihn gewesen war. – »Von nun an,« dachte er, »wenn man in eine einsame Hütte kommt, wird es nicht mehr heißen, sich mit kalten Kartoffeln und ein wenig Breischarre vom Boden der Breipfanne zu begnügen. Von nun an wird man nur seinen Namen zu nennen brauchen, Julius Martin Lamprecht, damit die Leute wissen, wonach sie sich zu richten haben. Dann werden Pfannen und Kessel rasch auf den Herd kommen, und alles Gute, was sich im Hause findet, wird aufgetischt werden. Von nun an wird nicht mehr von einem Strohsack auf dem Fußboden die Rede sein. Jetzt wird es der Gast, der Wanderer sein, der sich im Bette streckt, und die Bewohner können auf dem Fußboden liegen, oder im Stall, wo sie Lust haben.«
Wieder wurde der Angeklagte in seinem Gedankengang gestört. Er hörte, wie eine sanfte und bescheidene Stimme neben ihm sagte:
»Jetzt sind fünf Minuten von der festgesetzten Zeit vorbei.«
Er schlug die Augen auf. Der Mann in dem Arbeiteranzug, der mit dem Richter in die Zelle gekommen war, stand neben ihm. Er hielt seine Uhr in der Hand und deutete mit dem Finger darauf, während er sprach.
»Was haben Sie hier verloren? Wer sind Sie?« rief der Angeklagte, höchst unangenehm überrascht, weil er nicht allein war. Er hatte doch wohl um alles in der Welt nicht mit sich selbst gesprochen?
»Ach, ich bin gar nichts,« sagte der in dem Arbeiteranzug. »Ich heiße Sven Elversson und bin der Sohn von Joel Elversson auf der Grimö. Aber es ist mir eingefallen, Sie konnten vielleicht in Gedanken versinken oder einschlafen und so die Zeit verstreichen lassen und das Geständnis versäumen, deshalb hab' ich den Richter gebeten, hierbleiben und mit Ihnen reden zu dürfen.«
Julius Martin Lamprecht fand den Mann nicht unangenehm. Es war so etwas äußerst Bescheidenes in seinem Lächeln, in seiner Stimme, in seiner Haltung. Selbst die Art, wie seine Haare gekämmt waren, deutete Bescheidenheit an. Auch die Bartlosigkeit des Gesichtes sprach von Bescheidenheit. Nichts von dem, was Eigenliebe, Selbstgefühl, Selbstgerechtigkeit genannt wird, war bei diesem Menschen zu bemerken. »Das ist einer von denen, die herumlaufen und es gut meinen,« dachte der Angeklagte. »Na, bei mir wird er nicht viel Seide spinnen.«
»Glauben Sie denn auch nur eine Minute, ich werde ein Wort auf dieses Papier schreiben?« rief er.
»Ach, weisen Sie es doch nicht gleich von Anfang an völlig von der Hand!« sagte Sven Elversson und schaute dem Angeklagten ganz lieb und freundlich und bescheiden ins Gesicht. »Sie sind ja früher schon vor Gericht gewesen und wissen, daß hier auf dem Kreisgericht, solange Sie leugnen, keine Verurteilung erfolgen kann, und daß Sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden müssen. Aber ehe Sie Ihren Entschluß fassen, will ich Ihnen etwas mitteilen. Es sind einige Personen hier, die Ihnen fünftausend Kronen zur Verfügung stellen wollen, wenn Sie sich herbeilassen, zu gestehen. Diese Leute glauben, annehmen zu dürfen, Sie würden Wert darauf legen, in den Besitz von fünftausend Kronen zu kommen, obgleich Sie sie natürlich nicht selbst verzehren würden.«
Der Angeklagte fühlte ein Zittern durch seinen ganzen Körper laufen, von der Ferse bis zum Hals hinauf. Dabei konnte er es nicht unterlassen, eine Grimasse zu schneiden. Aber bald überwand er diese Zeichen der Schwäche.
»Was der tausend sagen Sie da!« rief er aus.
»Jawohl,« erwiderte Sven Elversson, »es ist die volle Wahrheit; wenn Sie gestehen, wollen wir Ihnen diese Summe aushändigen. Alle Menschen hier in der Gegend, ja, ich kann sagen, alle Menschen in ganz Schweden sind von Furcht erfüllt. Und wir sind alle miteinander einig darüber, daß Sie nicht frei auf der Landstraße gehen und bei einsam lebenden Menschen Nachtherberge suchen dürfen. Nein, das wollen wir nicht haben. Das ist eine zu große Versuchung für Sie. Ein Mensch wie Sie muß auf Lebenszeit eingesperrt werden. Wir wünschen Ihnen sonst nichts Böses, wollen Ihnen gar nicht an Leib und Leben schaden, wir wollen Sie nur hinter Schloß und Riegel setzen. Ich und noch mehrere haben gehört, was Sie bei der Gerichtsverhandlung gesagt haben. Sie sind nicht gerade ein schlechter Mensch, aber Sie bilden sich Sachen ein, Sie werden leicht ängstlich und meinen, alle anderen Menschen könnten Ihnen gefährlich werden. Und wenn Sie recht darüber nachdenken, so haben Sie es im Gefängnis am besten. Da sind Sie im Frieden und brauchen nicht um Ihre Sicherheit besorgt zu sein. Darum glaube ich, es wäre zum Nutzen für Sie und alle anderen, wenn Sie die fünftausend Kronen nehmen und ein offenes Bekenntnis ablegen würden.«
»Nein, und wenn's hunderttausend wären!« sagte der Angeklagte.
Sven Elversson war, während er sprach, dem Angeklagten immer näher gekommen, und setzte sich jetzt neben ihn auf die Pritsche.
»Sagen Sie das nicht!« mahnte Sven Elversson, indem er dem Angeklagten die Hand auf seinen Rockärmel legte und ihm freundschaftlich darüber hinstrich. »Sagen Sie doch nicht, Sie hielten fünftausend Kronen etwa nicht für eine schöne Summe und sie wären nicht vollständig zureichend für das, wofür Sie das Geld haben sollen. Mehr wäre für den Menschen, der das Geld bekommen wird, nicht gut, weniger wäre auch nicht gut. Fünftausend sind gerade recht.«
»Ich begreife Sie gar nicht!« sagte der Angeklagte. »Wozu sollte ich denn das Geld haben? Wem sollte ich es denn nach Ihrer Meinung geben?«
»Ich danke Ihnen für diese Frage!« sagte Sven Elversson. »Gerade darüber hätte ich gerne mit Ihnen gesprochen. Es hat, wie Sie wohl begreifen werden, in der letzten Zeit so viel von Ihnen in der Zeitung gestanden, und unter anderem war auch davon die Rede, daß Sie überall, wohin Sie gekommen seien, nach Ihrer Tochter gefragt hätten. Sie seien verheiratet gewesen, ehe Sie vor zweiundzwanzig Jahren Ihren ersten Mord begingen, und als Sie freigelassen wurden, hätten Sie sofort versucht, Ihre Frau aufzufinden, die aber sei tot gewesen. Sie hätten auch eine Tochter, die jetzt einige zwanzig Jahre alt sein müsse, und man wisse nicht anders, als daß sie noch am Leben sei, aber niemand könne Auskunft geben, wohin sie sich gewendet habe. Darnach hätten Sie Land und Reich durchstreift, um sie aufzusuchen. Man sagt, sobald Sie in ein Haus kämen, frügen Sie zuerst, ob man nichts von einem Mädchen wisse, das Julia Lamprecht heiße. Und dies halte ich wirklich für einen sehr schönen Zug von Ihnen,« fügte Sven Elversson hinzu. »Ich habe gedacht, es müsse doch ein guter Kern in Ihnen sein, wenn Sie sich so eifrig nach Ihrer Tochter erkundigen.«
»Aber was in aller Welt Namen hab' ich mit Ihnen zu tun?« fragte der Angeklagte. »Warum sitzen Sie hier und warum reden Sie mit mir? Warum sagen Sie mir durchaus nicht, was Sie eigentlich von mir wollen?«
»Ich danke Ihnen noch einmal,« sagte Sven Elversson mit sehr sanfter Stimme, wie wenn er bange wäre, das Mißfallen des Angeklagten zu wecken. »Das sind lauter Fragen, die zu beantworten ich gerne die Gelegenheit haben möchte. Ich wohne, wie gesagt, auf der Grimö, und die Insel liegt weit draußen im Meere. Sie könnten mir eigentlich gleichgültig sein, denn Sie wandern doch wohl nur auf dem Festlande umher. Aber ich habe eine Mutter, die das zweite Gesicht hat, und letzten Winter am Morgen des dreizehnten Februar bat sie mich, aufs Festland hinüberzufahren und nachzusehen, wie es mit zwei alten Verwandten von uns stehe, die in einer einsamen Hütte zwischen den Hügeln wohnten, weit entfernt von der Landstraße und von jeder Nachbarschaft. Sie hatte einen schweren Traum gehabt und meinte, es wäre gut, wenn jemand nachsähe, wie es den Alten gehe. Und ich tat, wie sie mir aufgetragen hatte. Dadurch war ich der erste, der sah, was Sie in der Nacht getan hatten. Es war ein schrecklicher Anblick, das kann ich nicht leugnen, und ich habe seither immer gewünscht, es möchte so kommen, daß Sie nie mehr frei umhergehen könnten. Und darum hab' ich auch das Geld gesammelt. Verstehen Sie, ich wünsche Ihnen gar nichts