der Zuhörenden wie kalter Stahl. Es lief ihnen ein Schauder über den Rücken. Ein paar Jahre früher würde eine so seltsame Rede großen Spott hervorgerufen haben. Aber man lebte im ersten Jahre des Weltkrieges, man war voller Entsetzen und Erwartung, war keinen Tag sicher und fragte sich, was die Russen da droben bei Haparanda eigentlich vorhätten.
»Und das alles und noch vieles andere steht in meinem Brief an den König. Und ich hab' ihm geschrieben und ihm gesagt, wie er handeln solle, damit er und alle Schweden in der bevorstehenden Zeit Gottes Zorn entgehen und das Recht erlangen können, auch in Gottes tausendjährigem Reiche zu leben.
Aber ich habe Gott um Hilfe gebeten und ihn gefragt, wie mein Brief in die Welt hinauskommen solle, da niemand mir helfen will. Und Gott hat mir befohlen und gesagt, was ich zu tun habe, denn ich habe eine Sünde begangen, die erst gesühnt sein muß, ehe mein Brief hinausgehen und den Menschen vor Augen kommen darf. Um diese meine Sünde wieder gut zu machen, bin ich jetzt auf dem Weg nach dem Süden.«
Die Spannung in dem Wagenabteil hatte ihren Höhepunkt erreicht. Dieses Menschenkind behauptete, es wisse, was alle wissen wollten: wann der Krieg ein Ende nehmen werde. Sofort richtete jemand weiter hinten im Wagen die Frage an die junge Person: »Wann wird der Krieg zu Ende sein?« Und andere fielen mit ein: »Ja, wann ist er zu Ende? Wenn Sie es wissen, so sagen Sie es uns!«
Das Aufhören der schrecklichen Angst, die über der Menschheit lag, schien plötzlich in greifbarer Nähe zu sein. Man würde vielleicht bald noch einmal eine Zeit erleben, wo das Morden in der Welt draußen ein Ende nahm, wo man wieder das Recht hatte, an etwas anderes zu denken als an den Krieg, wo man nicht Tag und Nacht von dem Gedanken an trauernde alte Frauen, an verzweifelnde Flüchtlinge und an verschmachtende Gefangene verfolgt wurde.
Die Bauern dachten an die Tage, wo sie nicht mehr ihre Söhne und Knechte zur Bewachung der Neutralität hergeben müßten, die Kaufleute, die zu Anfang des Krieges glänzende Geschäfte gemacht hatten, jetzt aber von Warenknappheit bedroht waren, die Arbeiter, denen die kommende Teuerung und der Mangel an Lebensmitteln immer drohender näherrückte, sie alle fragten wie aus einem Munde: »Wann hört das auf? Wann wird dieses Elend ein Ende nehmen?«
Diese Wirkung ihrer Rede schien die Hellseherin aus Stenbroträsk nicht erwartet zu haben.
»Das hab' ich in meinem Brief niedergeschrieben!« rief sie. »Es wird veröffentlicht, sobald ich meine Schuld gesühnt habe, dann läßt Gott meinen Brief in die Welt hinausgehen.«
In dem Eisenbahnwagen war eine deutliche Abnahme der Teilnahme zu spüren. Diese Person da wußte ebensowenig wie alle anderen. Man setzte sich wieder.
Dem Schluß ihrer Rede, den paar Worten, die sie dann noch sprach, lauschte kaum noch jemand, ausgenommen die freundliche Frau, die das Gespräch begonnen hatte.
»Und ich habe keine andere Zeit zum Schreiben als die Nacht,« sagte die junge Arbeiterin, »die Nacht, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, und wenn meine Finger steif und müde sind, und die schwedische Sprache ist mir nicht geläufig. Sie ist anders als die Sprache, die wir untereinander sprechen. Ich werde sehr müde vom Schreiben.
Und ich lebe in sehr traurigen Verhältnissen,« fuhr sie fort. »Ich bin arm, krank und einsam, und ich hab' eine Wohnung, mit der sich niemand anderes begnügen würde, und es graut mir vor alledem, was geschehen wird.«
Sie hatte recht gut gemerkt, wie die Teilnahme an ihren Worten verschwunden war. Ihre Stimme wurde leiser, und es kam etwas Träumerisches über sie; zuletzt sprach sie bloß noch flüsternd und mit gesenkten Blicken. Nur die ihr zunächst Sitzenden konnten die Worte noch verstehen.
»Aber ich bitte Gott, er möge mein Leben verschonen und mich in die geläuterte Schar aufnehmen. Ich bitte ihn, er möge mich zu dem letzten Drittel zählen und mich, die dazu ausersehen war, das Kommen seines tausendjährigen Reiches unter großem Hohn zu verkündigen, auch in diesem Reich leben und unter den Auserwählten sein lassen, die diese Erde in Gerechtigkeit erstrahlen sehen werden.«
Die schöne Musik
Unaufhörlich rollte der lange Zug aus dem Norden von Haltestelle, zu Haltestelle, und die Reisenden, die in demselben Abteil wie Lotta Hedman saßen, stiegen allmählich aus: zuerst der Bauer und die Bäuerin, dann die freundliche Frau, die Lotta dazu veranlaßt hatte, zu sagen, wer sie war. Als die freundliche Frau verschwunden war, kam ein Mann, der große Ähnlichkeit mit einem Laienprediger hatte, und setzte sich auf den guten Eckplatz. Er war schon vorher in demselben Wagen gewesen, hatte aber einen unbequemen Platz mitten auf einer Bank gehabt.
Dieser Mann ließ sich sofort mit Lotta Hedman in ein Gespräch ein. Er fragte sie, ob sie schon vor dem Weltkrieg Offenbarungen gehabt habe, oder ob sie erst nach dessen Beginn hellseherisch geworden sei. Er sprach mit einer sanften, leisen, sehr angenehmen Stimme, die warme Anteilnahme bezeugte, ohne geradezu Zweifel oder Glauben zu verraten. Anderen Menschen kam seine Art, sich auszudrücken, fast ärgerlich demütig vor, aber Lotta Hedman gefiel es, daß sie in einer fast ehrfurchtsvollen Weise angesprochen wurde, nachdem sie zum erstenmal vor fremden Menschen bekannt hatte, wozu sie auserwählt war.
»Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir etwas von Ihren Gesichten erzählen wollten,« sagte der Mann. »Ich weiß nicht, ob ich das verlangen kann, da ich Ihnen doch fremd bin, aber Sie dürfen überzeugt sein, ich würde es als eine große Ehre betrachten.«
Dem konnte die junge Frauensperson nicht widerstehen, und so begann sie, von dem erstenmal zu berichten, wo ihr etwas Merkwürdiges begegnet war. Doch sprach sie jetzt mit einer ganz anderen Ruhe als vorher. Sie erhob allerdings die Stimme und bekam auch jetzt mehr Zuhörer als nur den, mit dem sie sprach, aber der Mann vor ihr übte einen beruhigenden Einfluß auf sie aus und dämpfte unwillkürlich ihren Eifer.
»Ich war damals erst vierzehn Jahre alt,« begann sie, »und hatte mich soeben von einer schweren Krankheit erholt, die der Tod, mein Verfolger, mir geschickt hatte, und so war ich sehr schwach und hatte das Gefühl, wie wenn mein ganzer Körper verwelke und zusammenschrumpfe. Aber ich lebte nicht allein wie jetzt, sondern wohnte bei meinen Eltern. Und sie waren nur arme Bauersleute, aber sie nahmen Rücksicht auf meine Schwäche und ließen mich zu Hause, und ich mußte nicht zu Fremden in den Dienst gehen. Und die Mutter verlangte nichts weiter von mir, als daß ich ihr ein bißchen half und Gänge für sie machte und ihr jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel vorlas.
Zu jener Zeit gab es noch keine Sägemühle und keine Kistenfabrik, keine Arbeiterwohnungen und noch keine eigene Gemeindeverwaltung in Stenbroträsk. Auf unserer Seite des Flusses lagen nur ein paar kleine Bauernhöfe. Die Kirche, der Pfarrhof und die größeren Bauernhöfe aber lagen am jenseitigen Ufer, wie heutigentags auch noch.
Es war an einem Sonntagabend, als die Mutter sagte, ich solle mit der Milch zur Propstei hinüberrudern. Im Sommer hatten alle anderen Bauern ihre Kühe droben auf den Almen, und so war es im Dorf mit Milch schlecht bestellt; wir waren die nächsten Nachbarn, bei denen der Propst welche bekommen konnte.
Als ich mich ins Boot gesetzt hatte und zur Propstei hinüberruderte, fiel mir das merkwürdig leicht. Es war, als sei der schwere, flache Kahn mit einem kleinen, schmalen Flußboot vertauscht worden, als habe sich das Wasser in glattes, schönes, fettes Öl verwandelt, und als seien die Ruder frohe, leichte Vogelschwingen geworden. Ganz still und ruhig war es um mich her. Ich hörte kein Knirschen an den Ruderspillen und kein Plätschern im Wasser und kein Geräusch von den Ufern her. Nicht einmal eine Kuhglocke ließ sich vernehmen. Am Flußufer saßen keine plaudernden Buben und Mädchen, und alle die Schwalben, die zwischen den Strandhügeln dem Fluß entlang ihre Wohnung hatten und sonst beständig vor ihren Nestern herumflogen, waren heute verschwunden, und man wußte nicht, wo sie sich aufhielten.
Und als ich über den Fluß hinübergerudert war, meine Milchflasche herausgenommen und mich auf den Weg nach der Propstei gemacht hatte, fiel mir das Gehen gar nicht schwer, obgleich der Hügel steil war und obgleich ich die Sonne gerade im Gesicht hatte. Die Sonne brannte nicht, und die Milchflasche war ganz leicht.
Und ich dachte im stillen, ich müsse gewiß mit großer Sehnsucht erwartet werden, und es werde mir sicher irgendwie etwas Erfreuliches bevorstehen, denn so leicht war mir der Weg nach