Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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in Stenbroträsk unterbrach und sagte:

      »Ich würde Sie gern wegen einer Angelegenheit um Rat fragen, die mich bedrückt. Sie wissen, ich lebe allein und habe niemand, den ich fragen könnte.«

      »Sagen Sie nicht, Sie wollten mich um Rat fragen!« erwiderte er. »Einen Rat kann ich Ihnen sicher nicht geben. Aber erzählen Sie mir trotzdem, was Sie auf dem Herzen haben. Sie sprechen so gut, und die Reise ist lang. Ich selbst muß mit dem Zug bis nach Dalsland fahren. Bis ich heimkomme, dauert es noch mehrere Tage.«

      »Nun also, ich war einstmals mit der ältesten Tochter des Propstes von Stenbroträsk sehr befreundet,« begann Lotta Hedman. »Wir gingen zusammen in den Konfirmationsunterricht.«

      Sie konnte nicht weitersprechen, die Tränen traten ihr in die Augen.

      »Ich habe noch nie einen Menschen so lieb gehabt wie sie,« fuhr sie nach einem kurzen Kampf bewegt fort. Der Mann saß ganz still da und mochte keinen Versuch, zu drängen oder zu helfen. Er sah eher entmutigt aus.

      »Sie müssen mir erlauben, zu erzählen, wie es war, als sie zum erstenmal mit mir sprach, damit Sie begreifen, wie sie gewesen ist.«

      »Ja, tun Sie das!« sagte er. »Es ist gewiß das beste. Beeilen Sie sich ja nicht. Wir haben den ganzen Tag vor uns.«

      »Also damals, wo wir zusammen in den Konfirmationsunterricht gingen, standen wir eines Vormittags während einer Pause zu elf oder zwölf in einer Ecke des Kirchhofs beisammen und sprachen über ein Stück aus dem Katechismus. Und ich erinnere mich noch genau, wie einer von den Jungen sagte, es könne gar nicht anders sein, Gott müsse die Menschenkinder lieb haben. Er habe uns doch erschaffen, und darum müsse er wohl auch mit uns zufrieden sein.

      Wir, die dort in der Ecke standen und miteinander plauderten, waren die ärmsten und jüngsten von den Konfirmanden. Die anderen, die besseren und vornehmeren, gingen vor der Kirche in kleinen Gruppen auf und ab, und manchmal scharten sie sich um die älteste Tochter des Propstes, die dieses Jahr auch den Konfirmationsunterricht besuchte. Sie war schön und hatte etwas an sich, das jeden anzog. Man war kaum imstande, wo anders hinzusehen als nach der Seite, wo sie sich befand.

      Aber wir anderen, wissen Sie, wir wußten, daß die Tochter des Propstes niemals eine von uns als Freundin wählen würde, und wir standen in einer Ecke und versuchten uns zu trösten, indem wir über ein Stück aus dem Katechismus sprachen.

      ›Ja, wenn wir der dort glichen,‹ sagte ich, ›dann würde Gott sicher mit uns zufrieden sein.‹

      Ich dachte dabei an die Tochter des Propstes, und plötzlich wendeten wir uns alle zusammen um und starrten sie wieder an.

      Sie hatte herrliches, weiches braunes Haar, das sich an den Schläfen kräuselte und in Locken über Scheitel und Nacken herabfiel. Und sie hatte ein längliches Gesicht mit schmalen Wangen und langen Augenwimpern und Augen, die einem tiefen Brunnen glichen. Ja, sie war gewissermaßen aus einem feineren Stoff als wir anderen. Sie erinnerte an eine durchsichtige Beere. Sie war sehr groß und neigte den Kopf auf die eine Seite, und wir fanden, daß dies ausgezeichnet zu ihrem ganzen Aussehen und ihrem Wesen paßte.«

      Der Mann, der dieser Geschichte lauschte, bedeckte plötzlich die Augen mit der Hand. Er sah ein heißgeliebtes Antlitz vor sich, sah es, wie er es draußen am Meer gesehen hatte, als ein schönes Bild nach dem anderen vor ihm aufgetaucht war. So merkwürdig jung und fragend hatte es ausgesehen.

      »Sie hieß Sigrun,« sagte Lotta Hedmann, »und das war ein außergewöhnlicher Name; aber er war nicht das einzig Außergewöhnliche an ihr. Gerade an jenem Tage, wo ich sie im Sonnenschein auf dem Platz vor der Kirche stehen sah, begriff ich, warum man den Blick nicht von ihr abwenden konnte.

      Freilich, rein äußerlich war sie uns anderen völlig gleich. Sie hatte zwei Augen, eine Nase und einen Mund, war in der Propstei zu Stenbroträsk geboren, und ihre Eltern waren nicht anders als die Eltern von anderen. Aber das konnte den nicht täuschen, der sehende Augen hatte. Denn Sigrun war nicht vom Schlage gewöhnlicher Menschen, sie stammte aus einer anderen Welt.«

      Der Mann, der noch immer die Hand vor den Augen hielt, nickte unwillkürlich. Das war das richtige Wort: »aus einer anderen Welt«, ein verirrter Zugvogel, der sich von seinen Kameraden getrennt hatte und unter eine Schar von Vögeln geraten war, die nicht von seiner Art waren.

      »Denn es gibt andere Welten,« sagte Lotta Hedman, »es gibt viele außer der, die wir jetzt sehen. Und von einer dieser Welten stammte Sigrun. Aber Sie verstehen vielleicht nicht, was ich meine?«

      »Doch,« antwortete der Mann, »ich verstehe es. Ich habe selbst einmal einen Menschen gesehen, der aus einer anderen Welt war. Wenigstens glaube ich's zu verstehen,« fügte er hinzu, wie wenn er meinte, er habe mit zu großer Sicherheit gesprochen.

      »Und ich schlich mich in einen Winkel unter dem Glockenturm,« fuhr Lotta Hedman in ihrer Erzählung fort, während sie das Gesicht in den Händen verbarg. »Ich mußte über das nachdenken, was das bedeutete, wenn man sagte, Sigrun sei kein gewöhnliches Menschenkind.

      Sollte Sigrun, wenn sie aus einer anderen Welt stammte, mir nicht ansehen können, daß ich eine Auserwählte war und einmal Gottes Wort der Welt zu verkündigen haben würde? Und sollte sie gar nie ein Wort mit mir sprechen wollen? Sollte nicht sie, die anders war als die übrigen, ein besseres Urteil haben und besser wählen können?

      Aber ich blieb nicht lange mit meinen Gedanken ungestört. Die anderen Konfirmanden, alle die zwölf, die sich nicht zu der Tochter des Propstes hinwagten, kamen herbei und gesellten sich zu mir.

      ›Hier sitzt Lotta Hedman und weint, weil Sigrun sie nicht anschaut,‹ sagte eine von ihnen.

      ›Du wirst doch begreifen, Lotta, daß sich Sigrun um ein Mädchen, das so aussieht wie du, nicht kümmert,‹ bemerkte eine andere, und sie versuchte, mich zur Vernunft zu bringen.

      ›Bedenke doch, was für Haare du hast! Es steht dir ja um den Kopf wie dem Struwelpeter.‹

      Ich saß still da und hörte ihnen zu. – ›Ach, wenn es nur das wäre, was uns trennt!‹ dachte ich. ›Aber Sigrun stammt ja aus einer anderen Welt, das ist das Schlimmste.‹

      ›Und du hast einen so sonderbaren und verkrüppelten Körper,‹ sagten die anderen Konfirmanden. ›Deine Kleider sitzen nie glatt und ordentlich wie bei uns anderen. Und du hast stechende Augen, und du schreist, wenn du sprichst!‹ Bisher hatte ich keine Tränen in den Augen gehabt; aber jetzt fühlte ich, wie sie sich hervordrängen wollten, weil die anderen, indem sie mich zu trösten suchten, grausam und häßlich waren.

      Aber da war mir plötzlich, als verbreite sich um mich her ein warmer, sanfter Lichtschein. Es war, wie wenn an einem kalten Wintertag ein Sonnenstrahl in die Kammer fällt.

      Eine kühle, weiche Hand zog mir die Hände vom Gesicht, und als ich aufsah, stand Sigrun vor mir. Sie lächelte mich an und fragte, ob ich sie am Nachmittag, wenn der Unterricht vorbei sei, in meinem Boot an das andere Ufer hinüberrudern wolle.

      Und obgleich ich sehr wohl begriff, daß die anderen Sigrun von meiner Armut und Kränklichkeit erzählt hatten, und obgleich ich wußte, daß sie mir diese Ruderfahrt nur aus Mitleid vorschlug, erfüllte mein Herz doch eine unaussprechliche Glückseligkeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie es mir zumute war, und wie ich Sigrun von diesem Augenblick an liebte.«

      »Und wie ich sie von diesem Augenblick an liebte,« wiederholte der Zuhörer im stillen, und er fühlte, wie ein Paar Lippen seine Stirne streiften und hörte ein leises, melodisches Lachen. »Obgleich ich wußte, daß es nur aus Mitleid geschah,« flüsterte er vor sich hin, »obgleich ich es vollkommen durchschaute, daß es nur aus Mitleid geschah.«

      »Sigrun,« murmelte er fast hörbar, »warum kehrst du heute auf diese Weise zu mir zurück? Ich glaubte, ich hätte dich für immer verscheucht. Warum kehrst du zurück?«

      »Aber am Nachmittag, als wir unterwegs waren,« fuhr Lotta Hedman fort, »da fragte Sigrun, ob ich es sei, die am Begräbnistag ihrer Großmutter die schöne Musik in der Propstei gehört hatte, und bat mich, ihr doch alles noch einmal zu erzählen.