Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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oder zu einer Prophetin von Gott bestimmt. Und sie machte sich nicht über mich lustig, sondern sagte nur ganz demütig, sie selbst könne nie dergleichen sehen, aber ihr Wunsch sei, Krankenpflegerin zu werden. Doch nicht von gewöhnlichen Kranken, sondern von Pestkranken oder Aussätzigen. Oder wenn das nicht möglich wäre, dann wolle sie sich der Blödsinnigen annehmen oder Blinde lesen oder Taube sprechen lehren. Ihr größter Kummer, sagte sie, sei die Befürchtung, ihre Eltern würden ihr die Erlaubnis zu einer derartigen Beschäftigung nicht geben.

      Heute noch sehe ich sie vor mir, wie schön sie aussah, als sie von dem allen sprach,« sagte Lotta Hedman.

      Der Mann ihr gegenüber schaute einen Augenblick auf, und seine Augen strahlten. »Sie machen mir eine große Freude durch Ihre Erzählung,« sagte er. »Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Freude mir das ist.«

      »Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen,« erwiderte Lotta Hedman. »Ich fürchtete schon, Sie würden diese Erzählung jetzt recht langweilig finden.«

      »Wie können Sie so etwas denken!« rief der Mann. »Und wenn Sie mir von dieser Tochter des Propstes von Stenbroträsk erzählten, bis wir uns trennen, so würde es mir nie langweilig. Sie sind vermutlich seit dieser ersten Bootfahrt gut Freund mit ihr geworden?«

      »Ja,« antwortete Lotta Hedman, »soviel ist sicher, gute Freunde wurden wir. Wir ruderten fast jeden Abend, solange der Konfirmationsunterricht dauerte; denn Sigrun saß gern in einem Boot und glitt darin die Ufer entlang, ohne ein besonderes Ziel. Fahrten auf Dampfschiffen und Eisenbahnen waren ihr nicht sehr angenehm, und sie fuhr auch nicht gern in einem Wagen, aber es machte ihr Freude, in einem Ruderboot den Fluß hinabzutreiben. Ihre größte Sehnsucht war, auf das weite Meer hinauszukommen.«

      Der Mann, der Lotta Hedman gegenübersaß, hatte wieder den Kopf gesenkt und die Hand über die Augen gelegt. »Ach freilich,« dachte er, »sie hatte sich lange danach gesehnt, aus das Meer hinauszukommen, das sagte sie zu mir. Sie hatte sich, seitdem sie fünfzehn Jahre alt war, danach gesehnt. Und ich durfte ihr diesen Wunsch erfüllen. So hab' ich doch etwas Gutes in meinem Leben getan.«

      Lotta Hedman, die keiner weiteren Aufmunterung von seiten ihres Zuhörers bedurfte, fuhr unverdrossen in ihrem Bericht fort:

      »Ich dachte, sobald der Unterricht ein Ende habe, würden wir uns nicht mehr sehen; aber den ganzen Sommer danach kam Sigrun fast täglich zum Fluß hinunter, und ich war dann schon mit dem Boot da, und wir fuhren stundenlang flußauf und flußab. So machten wir es Sommer für Sommer, und das war die glücklichste Zeit, die ich jemals erlebt habe.«

      Der Mann gerade gegenüber seufzte tief auf. – »Warum kehrst du zu mir zurück. Sigrun?« flüsterte er. »Warum kommst du so jung, so gut, so schön, so unerfahren und unberührt? Ich habe an dich zu denken versucht wie an eine alternde Frau, an eine Mutter mit ihrem Kind, an eine liebende und geliebte Gattin. Warum kehrst du in der ganzen Lieblichkeit deiner Jugend zurück?«

      »Doch nun sollen Sie erfahren, wie es mit unserer Freundschaft weiterging,« sagte Lotta Hedman.

      »Als sie vier Jahre lang gedauert hatte, saß ich eines Sonntagnachmittags aus unserer Seite des Flusses daheim in unserem Häuschen und betrachtete einen großen, rotangestrichenen Bauernhof, der vor dem nach Osten gehenden Fenster emporwuchs. Eine Hauswand nach der anderen trat hervor, und ich fragte mich, was für ein Hof das sein könne und warum er sich gerade an diesem Abend so prächtig aufbaue.

      Der Tag war ziemlich weit vorgeschritten, es fing schon an zu dämmern. Mein Vater und meine Mutter waren am Vormittag in der Kirche gewesen, und jetzt saßen sie am Herd, jedes auf seiner Seite, und rauchten und plauderten. Ich aber saß vorn am Fenster und schaute auf den Hof hin, der noch immer an dem grauen Abendhimmel emporwuchs.

      Es war ein rotes Wohnhaus mit zwei Stockwerken, das hoch oben auf einem Hügel stand, mit einer Menge alter Apfelbäume auf dem davorliegenden Abhang. Auf der einen Seite des Obstgutes sah ich einen Wirtschaftshof mit den Scheunen, und auf der anderen lagen das Waschhaus und der Stall und ein großer steinerner Keller mit einer einzelnen kleinen eingebauten Dachkammer darauf.

      Neben diesem Keller stand ein Baum, den ich nicht mit Namen hätte nennen können. Er war verkrüppelt, hatte einen dicken Stamm und weit ausgebreitete Äste; er schien uralt zu sein und machte einen unwirschen, ja drohenden Eindruck.

      Meine Eltern, die am Herd saßen, unterhielten sich eigentlich nicht miteinander. Sie dachten nur gemeinsam, denn sie wußten recht gut, wie sie miteinander daran waren.

      »Ach, das tut mir doch sehr leid für Lotta!« sagte die Mutter. Und der Vater erwiderte sofort, ohne zu fragen, ja, es tue ihm auch sehr leid. Denn er hatte natürlich soeben an dasselbe gedacht wie sie.

      Ich aber dachte bei mir, sie wüßten ja gar nicht, was sie sagten, denn warum sollte ich ihnen leid tun, solange ich so viele Gesichte hatte und Stimmen vernahm, über die ich mich freute?

      Und der große Hof stand noch immer ebenso deutlich da. Mir war, als könnte ich sofort durch das Gattertor treten und in dem Haus einen Besuch machen. Ich sah die Geräte, die auf dem hinteren Hof liegengeblieben waren und den Eimer neben dem Brunnen und die Hundehütte und den Taubenschlag, und ich sah, es war ein ganz besonderer Hof, wo alles großzügig angelegt war; aber es sah auch wieder altväterisch und altmodisch dort aus.

      Totenstill und verlassen lag er da. Kein Mensch, ja nicht einmal irgendein Tier rührte sich.

      Da sah ich etwas, das mich mehr als alles andere überraschte. Der Hof war von den Äckern durch eine steinerne Mauer getrennt, und mitten in dieser Mauer erblickte ich ein Gattertor. Und der eine Torpfosten stand aufrecht und richtig, der andere aber war grau und fast verfault, er wäre auch sicher umgefallen, wenn nicht von allen Seiten eine Menge Klötze eingerammt gewesen wären.

      In dem Augenblick, wo ich diesen alten Torpfosten bemerkte, überlief mich ein Schauder, heiße Angst stieg in mir auf, und ich wollte am liebsten nichts mehr sehen.

      Ich schlug die Hände vors Gesicht und drehte dem Fenster den Rücken; aber der Hof verschwand deshalb doch nicht. Als ich nach einigen Minuten hinausschaute, stand er noch ganz so da wie vorher, und er machte einen schönen, prächtigen Eindruck. Leuchtend hob er sich von den dunkeln Hügeln ab, die hinter ihm aufstiegen. Und wer einen solchen Hof in Wirklichkeit sah, der mußte denken, dort wohnten reiche, mächtige Leute. Alles war gut erhalten, außer diesem einen Torpfosten.

      Ich versuchte, ihn nicht anzusehen, weil er mir Angst einflößte; aber gerade als ich den Blick von ihm abwendete, entdeckte ich, daß sich doch ein Mensch auf dem Hof befand. Es war eine alte Frau, die an dem Fenster der Kellerstube nahe bei dem Torpfosten saß und auf diesen hinausschaute.

      Sie war alt und hatte ein strenges, aber schönes Gesicht und weißes Haar, das eine Haube bedeckte, wie sie zu meiner Zeit kein Mensch mehr trug. Ganz, ganz still saß sie da, die Hände im Schoß gefaltet, und hielt den Blick beständig auf den Pfosten gerichtet. Wie versteinert schaute sie auf ihn hinaus.

      Ich fürchtete mich vor ihr noch mehr als vor dem Torpfosten, und ich wendete mich von dem Fenster ab und versuchte, den Anblick loszuwerden, indem ich an Sigrun dachte.

      Ich stellte mir vor, was für gute Freunde wir gewesen waren und noch waren. Es gab nichts, was uns hätte trennen können. Im vergangenen Winter war Sigrun mehrere Monate bei Verwandten weiter südwärts auf Besuch gewesen, aber als sie zurückkehrte, waren wir dieselben guten Freunde wie vorher.

      Wenn mich irgend etwas bedrückte und quälte, so brauchte ich mir bloß Sigruns Bild vor die Seele zu rufen, dann verschwanden alle quälenden Gedanken. Aber diesmal half es nichts. Als ich mich dem Fenster wieder zuwendete, stand der alte Hof noch immer da, und die alte Frau saß noch immer auf ihrem Platz und schaute finster und unentwegt auf dieselbe Stelle hinaus.

      Und mein Vater und meine Mutter am Herd drüben redeten auch noch gerade so wie vorher.

      ›Ja, das wird für Lotta schwer sein,‹ sagte die Mutter. ›Aber sie ist ja jung, und wenn man jung ist, so vergißt man.‹

      ›Ach freilich, solange einem die Jugend über vieles hinweghilft, geht