Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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Recht hast du, diese ganze Erzählung über Sigrun anzuhören?« sagte er zu sich selbst. »Nimm dich in acht! Nimm dich in acht! Die Sehnsucht kehrt zurück, der Schmerz kehrt zurück, die Liebe erwacht aufs neue. Es wird wie vor sechs Jahren, wo du auf den Klippen saßest und Liebesträume träumtest. Tag für Tag saßest du dort und träumtest von ihr.«

      »Und dann zog sie mich auf die Seite, um mich zu fragen, ob ihr Verlobter nicht ein ganz besonderer, herrlicher Mensch sei, und ob ich je geglaubt hätte, daß es seinesgleichen auf der Welt gäbe,« fuhr Lotta Hedman fort. »Und als ich noch immer nichts sagte, verlor sie die Geduld.

      ›Was ist denn mit dir los?‹ rief sie. ›Warum bist du so stumm und verdrossen? Ich dachte, es würde dir gut tun, mit einem Geistlichen zu sprechen. Und mein Verlobter wollte so gern mit dir reden. Ich hatte ihm so viel von dir erzählt und ihm gesagt, was für ein merkwürdiges Geschöpf du seiest. Was soll er jetzt denken?‹

      Ich saß ganz still da, bis Sigrun schon dicht bei der Tür war, aber dann eilte ich ihr nach.

      ›Ach, heirate ihn nicht, Sigrun!‹ rief ich aus. ›Er macht dich unglücklich!‹ Und als mich Sigrun nun groß ansah, fügte ich in meiner Angst hinzu: ›Er wird deine Seele töten, wie er die meine getötet hat.‹

      Da richtete sich Sigrun hoch auf.

      ›Jetzt bist du schlecht!‹ sagte sie. ›Wie kannst du so abscheulich reden, weil jemand dir etwas zu sagen wagte, was du nicht gerne hörst?‹

      Hierauf ging sie unwiderruflich.

      Und ich war froh, daß mein Vater und meine Mutter nichts sagten, weder um mich zu trösten, noch um etwas zu erklären. Leise schlich ich in die kleine, eiskalte Küche hinaus, setzte mich da nieder und weinte. Weinte eine Stunde um die andere. Ich beweinte diese schöne Freundschaft, ich beweinte meine Seele, die ihrer Kraft beraubt worden war und die sie nie wiedererlangen würde, und ich biß in die Frucht der Verachtung. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich ihre Bitterkeit geschmeckt.«

      Lotta Hedmans Stimme war leiser geworden, wie bei dem Schluß ihrer Erzählung von dem Brief an den König und von dem tausendjährigen Reich. Ihr Gesicht verriet einen großen Kummer. Sie empfand noch heute die Qual der Demütigung.

      Ach, wie glücklich war Lotta Hedman, daß sie das alles erzählen durfte! Wie herrlich war es, über Sigrun reden zu können! Wie bemühte sie sich, hochschwedisch zu sprechen! Wie trachtete sie danach, es in feierlichen Worten einem Erbauungsbuch gleichzutun! Wie dankbar war sie diesem Zuhörer, der immer noch still dasaß und lauschte, für seine unerschöpfliche Geduld!

      »Jetzt hab' ich Ihnen nur noch ein Erlebnis zu berichten, damit Sie mir den Rat geben können, den ich brauche,« sagte sie.

      »Beunruhigen Sie sich ja nicht,« erwiderte er. »Sprechen Sie, wie es Ihnen am besten paßt. Wir haben noch genügend Zeit vor uns.«

      Lotta Hedman fiel sofort in den Erzählerton.

      »Ja, es war im Herbst desselben Jahres,« begann sie, »und es hatte eben sehr heftig zu regnen angefangen. Wir alle drei, mein Vater und meine Mutter und ich, hatten ins Haus eilen müssen, damit wir nicht durch und durch naß wurden.

      Doch kaum waren wir drinnen, da wurde die Tür nochmals aufgerissen, und ein paar große, gewaltige Männer kamen hereingestürmt. Sie baten höflich, wir möchten ihnen doch erlauben, bei uns unterzustehen, bis der Regenschauer vorüber sei. Mein Vater hieß sie willkommen, und die Mutter und ich stellten jedem einen Stuhl neben die Tür.

      Und der eine von ihnen war gesprächig und fragte den Vater, ob sie wohl Arbeit bei dem neuen Sägewerk, das gerade in Stenbroträsk gebaut wurde, bekommen könnten. Aber der andere sprach kein Wort, sondern starrte nur zu dem nach Osten liegenden Fenster hinaus.

      Und gerade gegen dieses Fenster schlug der Regen mit voller Kraft. An den Scheiben strömte unaufhörlich Wasser herunter, und man konnte kaum durch sie hindurchsehen.

      Ich fragte mich, was es wohl sein könne, auf das der Fremde so hinstarre. Denn etwas anderes als Regentropfen und Hagelkörner konnte er nicht sehen, das war mir sehr klar.

      Dann setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am Fenster und schaute hinaus.

      Aber es war nichts anderes zu erblicken, als die kleinen grauen Wirtschaftsgebäude und das Wasser, das von allen Dächern herunterströmte. Und es war so trüb und dunkel, daß man kaum bis zum Flußufer hinsehen konnte. Dort waren die grauen Regenwolken so dicht wie ein Vorhang.

      Ich dachte daran, wie ich an diesem Fenster an dunkeln Abenden gesessen hatte, ohne daß mich die Dunkelheit daran gehindert hätte, etwas zu sehen, und wie ich auch bei dichtem Schneesturm von diesem Platz aus trotz der Schneeflocken gar vieles hatte sehen können. Schiffe, die vorüberfuhren, und Eisenbahnzüge, die dahinbrausten, und Könige, die in herrliche Städte einzogen, und Hochzeitszüge, die an mir vorbeiwanderten, und Engel, die vor meinen Augen gespielt und sich im Reigen gedreht hatten.

      Was aber nützte es mir jetzt, wenn ich mich an dieses nach Osten liegende Fenster setzte? Mein hellsehendes Auge war seiner Kraft beraubt worden, und ich sah jetzt nichts anderes mehr als den Schuppen, den Hof und den herabströmenden Regen. Mir wurden keine Botschaft, keine Warnungen und keine Offenbarung mehr zuteil.

      Und doch, etwas, das einem roten Haus und hohen Wäldern glich, sah ich jetzt von der grauen Wolkenwand sich abheben, aber es blieb dunkel und undeutlich.

      Ich versuchte mich darüber zu freuen, weil ich nun wie alle anderen war; aber die Armut des Lebens bedrückte mich schwer, seitdem ich nichts Übernatürliches mehr sah oder hörte.

      Ich hatte keine Freude mehr am Leben. Ich glich einem Menschen, der lange Zeit an einem reichbesetzten Hochzeitstisch gesessen hatte, jetzt aber kein Stückchen Brot mehr besaß, um seinen Hunger zu stillen.

      Und ich hatte niemand mehr, der mich trösten konnte, denn Sigrun sollte in diesen Tagen heiraten und mit ihrem Manne nach der Pfarrei Applum in Bohuslän übersiedeln; sie hatte mich gefragt, ob ich sie in ihr neues Heim begleiten und ihr dort helfen wolle, denn so hatten wir es einmal vor langer Zeit miteinander ausgemacht. Aber ich hatte geantwortet, ich wolle lieber in Stenbroträsk bei meinen Eltern bleiben. Denn ich wollte nicht mit Sigrun fortziehen. Sie war nie wieder wie früher zu mir gewesen, seit ich über ihren Bräutigam etwas Schlechtes gesagt hatte; und ich konnte auch nicht mehr einen verirrten Vogel in ihr sehen, denn sie schien jetzt völlig in allem Menschlichen daheim zu sein.

      Da, mitten in meinen trübsten Gedanken vernahm ich Schritte; der Schweigsame von den beiden Wanderern trat neben mich und beugte sich gegen die vollgeregneten Scheiben vor.

      ›Das ist ein ganz merkwürdiges Fenster,‹ sagte er, während er meinen Arm berührte, damit ich hinausschaue. ›Ich möchte wissen, ob Sie dasselbe sehen wie ich?‹

      ›Ich sehe gar nichts,‹ antwortete ich. ›Aber warum sagen Sie, dieses Fenster sei merkwürdig?‹

      ›Nun, es ist doch gewiß merkwürdig, wenn ich durch das Fenster eines Hauses in Stenbroträsk den Hof Hånger in Dalsland sehe,‹ entgegnete er.

      ›Ist das ein Hof, der hoch auf einem Hügel liegt, aus dessen Abhang Apfelbäume stehen?‹ fragte ich. ›Gibt es dort ein Kellergebäude mit einem Dachstübchen und ein Gattertor mit einem alten, verfaulten Torpfosten, und sitzt dort eine alte Frau an dem Fenster der Kellerstube?‹

      ›Ja, sagte er, indem er sich vorbeugte, um besser zu sehen. ›So ist es. An dem Fenster der Stube sitzt eine alte Frau, es ist alles richtig.‹

      ›Und starrt sie nicht unausgesetzt auf den Torpfosten hin? Sieht es nicht aus, als könne sie den Blick nicht von ihm abwenden!«

      ›Gewiß,‹ antwortete der Mann und holte tief Atem, ›gewiß sitzt sie da und gibt acht, daß der Torpfosten nicht umfällt. Das muß sie bis ans Ende der Welt tun.‹

      Und ich sah, wie ihn das quälte, was er schaute. Große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, er war totenbleich, und es fiel ihm schwer, ein Wort herauszubringen.