und da zeigten sich wohl Wacholderbüsche und Heidekrautflächen, kleine Fichten und moosbewachsene Strecken, aber überall trat der Felsengrund deutlich zutage.
Je mehr Lotta von der Landschaft sah, desto niedergedrückter wurde sie.
»Was ist denn nur Sigrun und ihrem Mann eingefallen? Wie konnten sie in eine solche Gegend ziehen?« dachte sie. »Vorher scheinen sie es doch gut gehabt zu haben. Das nahe Meer, eine wohlhabende Gemeinde, ringsum Menschen. Warum haben sie sich nur in eine solche Wüste zurückgezogen?«
Es war, als ginge etwas von der Hoffnungslosigkeit dieser Steinwüste auf Lotta über.
»Hier kann weder ein Pfarrer noch irgendein anderer Mensch sein Leben fristen,« sagte sie leise. »Ach, ich werde mich wohl wieder nach Hause begeben müssen, wenn sie nicht so viel haben, um mich bei sich aufzunehmen.«
In diesem Augenblick kam es ihr etwas unüberlegt vor, daß sie sich zu ihrer Mitkonfirmandin Sigrun Rhånge aus den Weg gemacht hatte, ohne von dieser erwartet zu werden oder darum gebeten zu sein. Sie hätte es Sigrun unbedingt durch ihre Eltern wissen lassen, oder sie aus andere Weise von ihrer Ankunft unterrichten sollen.
»Lieber Gott!« dachte sie, während sie auf dem Postkarren saß. »Seitdem Sigrun vor sechs Jahren Stenbroträsk verlassen hat, weiß ich fast nichts mehr von ihr. Sie schrieb mir wohl im ersten Jahr ein paar Briefe, und ich sah sie ja auch einigemal in dem Sommer, wo sie daheim auf Besuch war, aber wir haben uns beide nicht bemüht, die Freundschaft wieder aufzufrischen.
Immerhin darf ich die schönen Briefe, die ich von ihr nach der Geburt ihrer kleinen Tochter erhielt, nicht vergessen. Sie waren mir eine große Freude. Sigrun wollte sogar, ich solle zu ihr hinunterkommen und ihr bei der Pflege der Kleinen helfen. Aber ich konnte ja nicht von meinen Eltern fort und hatte wohl auch keine Lust dazu. Ich dachte, es würde mir schwer fallen, bei Sigrun in Stellung zu sein, und ich fürchtete mich vor ihrem Mann. Später hab' ich das allerdings bereut, denn als das Kind starb, mußte ich immer wieder denken, ob es nicht vielleicht doch am Leben geblieben wäre, wenn ich Sigrun zur Seite gestanden und ihr bei der Pflege der Kleinen geholfen hätte. Und Sigrun denkt vielleicht ebenso. Denn von jener Zeit an hab' ich kein Wort mehr von ihr gehört.«
Auf Lotta Hedmans Brust legte sich allmählich ein schwerer Druck. Diese ganze Reise war wahrscheinlich höchst überflüssig.
»Ja, das mag nun sein, wie es will,« suchte sie ihre zunehmende Angst zu beschwichtigen, »eines ist sicher, ich habe jeden Tag Stimmen und Mahnungen gehört, die mir befahlen, zu reisen. Ich hatte bei meinen Berechnungen keine Ruhe mehr. – ›Zuerst Sigrun, Sigrun zu allererst,‹ hieß es, wenn ich etwas über den Krieg und das tausendjährige Reich wissen wollte. Und als meine Eltern gestorben waren und mein Bruder unser Haus übernommen und mir nur die erbärmliche Kellerstube überlassen hatte, warum hätte ich mich da nicht auf den Weg machen sollen, um zu sehen, ob Sigrun mich nicht braucht? Komm, Lotta Hedman, raffe dich auf! Du hast jedenfalls etwas von der Welt gesehen, hast also dein Geld nicht ganz unnötig fortgeworfen!«
Gerade als sie auf diese Weise ihre sinkende Zuversicht neu zu beleben suchte, hob der Fuhrmann die Peitsche und deutete auf einen spitzigen, schwarzen Kirchturm, der aus einer Baumgruppe emporragte.
»Sehen Sie, dort ist die Kirche,« sagte er. »Nun sind wir bald da.«
Gleich darauf ging es bergab, auf ein schmales Tal zu. Lotta sah unten im Tal einen sich dahinschlängelnden Fluß, sie sah Höfe, Häuser, Äcker, Baumgruppen und eine kleine, weiße Kirche.
Aber ehe sie noch ins Tal hinuntergekommen waren, hob der Fuhrmann noch einmal die Peitsche.
»Ich glaube wahrhaftig, da geht die Frau Pfarrer auf der Straße vor uns her,« sagte er.
Als Lotta Hedman diese Worte hörte, nahm der Druck auf ihrer Brust beständig zu, und sie konnte kaum mehr atmen. Ihr ganzer Mut verschwand.
»Ach, warum hab' ich mich nur so ohne weiteres auf den Weg gemacht?« dachte sie. »Wer weiß, ob Sigrun überhaupt noch an mich denkt? Warum hab' ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen? Am Ende nur, um verschmäht und verspottet zu werden.«
Als dann der Fuhrmann, der glaubte, sie wolle als Dienstmädchen auf den Pfarrhof, fragte, ob er halten solle, damit sie ihre neue Herrin begrüßen könne, wurde sie ganz verwirrt.
»Barmherziger Himmel!« seufzte sie. »Ich hätte wirklich die größte Lust, umzudrehen.«
Und schließlich, als Sigrun nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, wurde Lottas Angst so groß, daß sie es nicht länger aushielt. Der Glaube an innere Stimmen und Mahnungen verließ sie vollständig. Sie streckte die Hand aus und griff nach den Zügeln.
»Wenden Sie um Himmels willen um!« rief sie. »Ich will nicht weiterfahren. Ich bin sicher an einem falschen Ort.«
Aber sie waren Sigrun schon ganz nahe; diese hörte die Worte und drehte sich um. Als sie die fremde Frauensperson sah, die dem Kutscher die Zügel zu entwinden versuchte, flog ein leises Lächeln über ihr ernstes Gesicht.
Doch im nächsten Augenblick legte sie die Hand aufs Herz, das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen, und sie eilte auf den Wagen zu.
»Bist du es, Lotta? Bist du es wirklich?« rief sie mit Tränen in den Augen.
Als Lotta die Pfarrfrau weinen sah, glaubte sie nicht anders, als Sigrun denke an ihr kleines Mädchen, das hatte sterben müssen, weil sie nicht zu seiner Pflege gekommen war.
Sie sprang aus dem Wagen und wollte auf der Landstraße auf die Knie fallen, um Sigrun um Verzeihung zu bitten.
Aber ehe sie so weit gekommen war, fing Sigrun sie in ihren Armen auf und sagte, sie sei sehr, sehr glücklich, sie zu sehen.
Und es wurde Lotta klar, daß Sigrun vor Freude weinte, weil sie gekommen war.
Da wurde sie selbst sehr froh und meinte, das sei das Schönste, was ihr jemals widerfahren sei. Aber zugleich dachte sie: »Wie unglücklich muß Sigrun sein! Wäre sie es nicht, so würde sie sich nicht so freuen, ihre alte, arme Mitkonfirmandin wiederzusehen.«
Der Pfarrhof
Es war an einem Abend im November, wo die Tage kurz sind und die Nächte niemals ein Ende zu nehmen scheinen.
In der ganzen Umgebung des Pfarrhofs von Algeröd herrschte Ruhe und Stille und ebenso auf dem Pfarrhof selbst. Die Pferde waren von der Arbeit heimgekommen und standen schon im Stall. Die Kühe waren gemolken und die Hühner auf ihre Sitzstangen hinausgeflogen.
Im Brauhaus, oder richtiger gesagt, in der kleinen Kammer innerhalb des Brauhauses, saß an diesem stillen Abend Lotte Hedman bei ihren Berechnungen. Sie hatte die Bibel vor sich samt Feder, Tinte und Papier und stellte gründliche Forschungen in dem ihr so lieben Buch der Offenbarung an.
In der Küche des großen Wohnhauses hatte man das Feuer im Herd ausgehen lassen; die Köchin und das Hausmädchen saßen an der Nähmaschine und versuchten, einer Bluse, die die Näherin verschnitten hatte, doch noch eine ordentliche Form zu geben. In der Gesindestube aber dehnte und streckte sich der Knecht auf einer Bank und wartete auf das Abendessen.
Der Pfarrer selbst saß in seinem Arbeitszimmer, aber nicht am Schreibtisch, sondern in einem Schaukelstuhl, der in einer Ecke stand. Er hatte eine Lampe neben sich und las in einer Zeitung. Wenn er die Augen hob, konnte er ins nächste Zimmer sehen, wo seine Frau sich auf einem kleinen Schemel vor dem Ofen niedergelassen hatte. Sie stützte das Kinn auf die Hände und schaute in das brennende Holzfeuer.
Neben Sigrun saß der kranke Amtsrichter, den die Pfarrleute als Pensionär bei sich aufgenommen hatten, um damit ihrer großen Armut, in die sie seit der Übersiedlung in diese magere Pfarrei im Gebirge geraten waren, etwas abzuhelfen. Der Amtsrichter war ein fünfzigjähriger Mann, der bisher immer nur sein Leben genossen hatte. Jetzt aber war er unter Vormundschaft gestellt und in diese Einöde verbannt worden, damit er das Wenige, was er an Geld und Gesundheit noch übrig hatte, nicht auch noch verschwendete.
Dem Amtsrichter war wohl anzumerken, daß er einmal einen Schlaganfall gehabt hatte,