Kälte, aber es lag doch so viel Schnee, daß der Boden weiß war. Ja, man konnte sogar Schlitten fahren.
Dieses Weiß vor dem Fenster, das Sigrun an ihre Heimat mit ihren langen Wintern erinnerte, schien einen wohltätigen Einfluß auf sie auszuüben. An demselben Tag, wo der erste Schnee fiel, stand sie auf und kleidete sich an.
»Das ist recht, meine Liebe,« sagte Lotta Hedman. »Wenn du versuchst, ein wenig aufzustehen, kommst du gewiß früher zu Kräften. Nun werde ich dich gewiß bis Weihnachten wieder gesund pflegen können, daran zweifle ich gar nicht.«
Die junge Frau hielt mitten im Ankleiden inne.
»Ist es schon bald Weihnachten?« fragte sie. »Das hatte ich ganz vergessen.« Sie war sichtlich unangenehm davon berührt, daß sie an das bevorstehende Fest erinnert worden war. Weihnachten konnte sie unmöglich wo anders als im eigenen Hause feiern, das schien ihr plötzlich klar geworden zu sein. »Wenn etwas geschieht, muß es vor Weihnachten geschehen,« murmelte sie. »Ich muß vor Weihnachten fertig sein.«
Lotta Hedman aber, die diese Worte hörte, glaubte, es handle sich um irgendein Geschenk, das bis zum Weihnachtsabend fertig sein müsse.
Eines Abends erzählte Lotta Hedman Sigrun von dem Mann, den sie im Zug getroffen hatte. Sie beschrieb sein Aussehen, seine sanfte, wohltuende Stimme, seine Demut.
»Er war sehr freundlich gegen mich,« sagte sie. »Aber gerade als ich eines meiner Gesichte hatte, lief er mir davon.«
»Was für ein Gesicht war das?« fragte Sigrun.
»Es handelte sich um etwas weit droben im Norden,« antwortete Lotta. »Ich sah ein mit Eis bedecktes Stück Land und ein schwarzes Zelt und einen großen Schlitten.«
Sigrun lag ganz still da und suchte in ihrer Erinnerung.
»Weißt du, Lotta, du bist doch ein merkwürdiges Geschöpf,« sagte sie nach einer Weile. »Den du da getroffen hast, kann niemand anders sein, als Sven Elversson. Er sah genau so aus wie der Mann, den du beschrieben hast, und es sähe ihm ganz ähnlich, davonzulaufen, als du anfingst, etwas zu sehen, das an Eisfelder und Polarreisen erinnerte.«
»Wer ist Sven Elversson?« erkundigte sich Lotta.
Bei dieser Frage erwachte Sigrun ein bißchen aus ihrer Stumpfheit, und sie erzählte Lotta einen Teil von Sven Elverssons Geschichte.
»Ich wollte, ich wüßte, wo er sich jetzt befindet,« sagte sie zuletzt. »Er war ein sehr guter, aber sehr unglücklicher Mensch. Ich glaube, er kam sich so verachtet, so erniedrigt vor, daß er es als seine Aufgabe betrachtete, sich um Dinge anzunehmen, für die sich andere zu gut hielten. So ließ er sich zum Beispiel einmal zu einem Mörder in dessen Zelle einsperren, um ihn zu einem Geständnis zu überreden. Er heiratete eine Kleinkinderlehrerin, eines der häßlichsten Mädchen, das ich jemals gesehen habe. Das geschah wohl auch aus Demut. Als wir in Applum wohnten, sprachen alle Menschen von ihm, aber er zog früher von dort weg als wir.«
Lotta Hedman erinnerte sich an die sanfte Stimme ihres Reisegefährten und an das große Vertrauen, das er ihr eingeflößt hatte.
»Du kannst überzeugt sein, Gott hat etwas mit diesem Mann vor,« sagte sie. »Wenn ich das alles nur schon gewußt hätte, als ich ihm begegnet bin!«
»Ich wollte, ich wüßte, wo er jetzt zu finden wäre!« sagte Sigrun. »Alle Elenden und Hilfsbedürftigen wendeten sich an ihn. Seitdem er von Applum fort ist, hat man nichts mehr von ihm gehört. Er hat sich wohl irgendwohin geflüchtet, wo man seine Geschichte nicht kennt.«
An dem Abend, wo die beiden über Sven Elversson redeten, war Sigrun wieder aufgestanden und hatte sich vollständig angekleidet, ja sie war sogar mit ins Brauhaus hinausgegangen. Lotta hatte den Tisch und die Korbstühle dorthin geschafft, der gewaltige Ofen war durch die Kattunvorhänge verborgen, das Hausmädchen hatte ein kleines Teebrett für Sigrun und Lotta zurechtgemacht; sie hatten es da so gemütlich wie möglich.
Aber als das Hausmädchen fragte, ob die Frau Pfarrer sich jetzt wohl genug fühle, ins Wohnhaus überzusiedeln, antwortete Sigrun sofort:
»Ich weiß nicht, was das mit mir ist, Malin. Ich glaube, ich werde jetzt erst richtig krank. Heut abend tut mir der Kopf und der Hals weh. Mein ganzer Körper ist rot; ich bekomme wohl irgendeinen Ausschlag.«
»Warum sagt sie das nur?« dachte Lotta. »Sie ist doch ganz gesund und hat nicht den geringsten Ausschlag.«
Aber dann sagte sie sich, ihre Freundin wolle vielleicht dadurch allem Zureden, Weihnachten doch im eigenen Heim zu feiern, vorbeugen.
»Wie wird das noch weitergehen?« fragte sich Lotta voll neuer Sorge. »Wird sie dieses Grauen vor ihrem Manne nie mehr überwinden? Ach, das war ja immer so mit ihr! Wenn ihr einmal jemand Angst eingejagt hat, läßt sie sich nicht so schnell wieder beruhigen. Und wenn ich bedenke, daß sie, die so gern Kranke pflegt, nicht in ihr Haus geht, um ihren Gatten zu versorgen, ja, daß sie kaum danach fragt, ob es ihm besser geht! Das ist ein schlechtes Zeichen.«
Nachdenklich betrachtete sie ihre Freundin. Sigrun sah so müde und hinfällig aus, wie alle, die ein paar Tage zu Bett gelegen haben.
»Was für ein unseliges Schicksal verfolgt sie nur?« dachte Lotta. »Warum muß sie, dieses reine, unschuldige Geschöpf, das es mit der Vornehmsten und Schönsten aufnehmen kann, hier in einem Raume sitzen, der nicht viel besser ist als ein Schuppen?«
Nein, sie paßten wirklich nicht zusammen, die vergeistigte Schönheit der jungen Pfarrfrau und die kahlen Holzwände, der rauhe Bretterboden und das schmutzige Dach des Brauhauses!
»Wahrhaftig, alle beide tun mir leid, Sigrun ebensosehr wie der Pfarrer!« dachte Lotta. »Er hat es auch nicht allzu behaglich, während er da auf seinem Schmerzenslager liegt und sich nach ihr sehnt.«
Ja, irgend etwas Trauriges lag in der Luft. Nach einer Weile sah Lotta, wie ihre Freundin die Hände vors Gesicht schlug und sich langsam hin und her wiegte.
»Ach, wenn ich doch tot wäre!« klagte sie. »Das wäre das Beste. Wenn ich doch sterben dürfte!«
»Der Aufenthalt hier im Brauhaus ist gewiß auf die Dauer zu trübselig und langweilig für dich, Sigrun,« sagte Lotta rasch. »Ich denke, wir schaffen dich morgen ins Wohnhaus hinüber.«
Sigrun fuhr in die Höhe. Ihr Gesicht wurde aschgrau.
»Was meinst du? Was sagst du da? Hat er dich bestochen?«
»Ich glaube wahrhaftig, du bist ganz verrückt, Sigrun.«
»Ja, das ist so, Lotta, ich bin verrückt, vor Schrecken verstört. O, du weißt nicht, was ich durchgemacht habe!«
Und sie begann zu erzählen. Nicht viel, aber doch genügend, daß die andere verstehen konnte. »Wie könnte ich in diese Verhältnisse zurückkehren?« fragte sie.
»Aber das sind doch nur Beweise dafür, daß er dich lieb hat!« warf Lotta ein.
»Ich hab' ihn auch lieb,« sagte Sigrun. »Ich bin ihm nie, niemals, Lotta, das sage ich dir, auch nur mit einem Gedanken untreu gewesen, aber er hat mir niemals getraut, und das tut mir weh. Das tut mir weher als alles andere.«
Lotta Hedman sagte, die Eifersucht sei ein Fehler der Jugend. Wenn die Menschen alt genug seien, verschwinde sie von selbst.
»Nein,« sagte Sigrun, »bei ihm verschwindet sie nicht. Sie ist ein Erbteil; alle seine Verwandten sind ebenso. Glaube nur, er hat mir wieder und wieder versprochen, sie abzulegen. Aber was hat das geholfen? Damit er Ruhe bekommt, sind wir sogar in die Einöde hier heraufgezogen. Nun siehst du, was wir dabei gewonnen haben.
Meinst du vielleicht, ich hätte kein Mitleid mit ihm? Niemand weiß besser als ich, wie er sich quält. Und es geht mit ihm abwärts, Lotta, er predigt schlechter und verliert jedes Interesse. Es ist sehr, sehr schade um ihn.
Aber es ist auch schade um mich. Ich lebe in einer ständigen Todesangst. Ach, wie oft hat er mir jetzt eine Angst eingeflößt, die mir meinen ganzen Mut genommen hat! Du müßtest mich geradezu fesseln