darum soll ich in mein Elend zurück?« fragte sie.
Der Mann schien unruhig zu werden. Er warf ihr einen raschen Blick zu und schaute dann zur Seite.
»Sie ist tot; was macht es ihr aus, unter welchem Namen sie unter die Erde kommt?« sagte Sigrun mit einer Stimme, die vor Verzweiflung bebte.
»Ich meine, es sei nicht recht gegen Rut,« versetzte der Mann eigensinnig.
»Nein,« erwiderte Sigrun, »es ist nicht recht, das weiß ich. Aber glaubt doch ja nicht, daß ich jetzt noch wieder heimgehen werde. Das tu' ich nicht.« Sie deutete auf den Fluß, dessen schwarzer Wasserspiegel zwischen den schneebedeckten Ufern hervorleuchtete.
»Da hinein geh' ich,« sagte sie.
Fest und entschlossen stand sie vor dem Manne. Er konnte genug von ihrem Gesicht sehen, um zu erkennen, welche feste Entschlossenheit es ausdrückte: jawohl, sie würde tun, was sie sagte.
Er wandte sein Gesicht zur Seite, als ob er sich scheue, sie anzusehen.
»Rut würde allerdings ein viel schöneres Begräbnis und alles, was dazu gehört, bekommen, das seh' ich wohl ein,« sagte er. »Und mir macht es auch nicht soviel aus, denn sie war nicht eigentlich meine Frau, wenn sie auch die letzten paar Monate mit mir herumgefahren ist. Aber ich meine doch...«
Lotta schrie laut auf. Sigrun war von dem Manne weggeeilt. Schon stand sie drüben am Brückengeländer und bückte sich, um unten durchzuschlüpfen.
»Um Gottes willen!« rief der Scherenschleifer und lief ihr nach. »Tun Sie sich kein Leid an! Es soll alles sein, wie Sie wollen!«
»Nie, niemals kehre ich in die alten Verhältnisse zurück, das sage ich Ihnen!« versetzte Sigrun.
»Nein, das sollen Sie auch nicht. Ich werde schweigen.«
»Sigrun ist heut nacht gar zu merkwürdig,« dachte Lotta. »Niemand kann ihr widerstehen. Sie macht mit uns allen, was sie will.«
Das schien die Wahrheit zu sein. Der kleine verdrießliche Mann wußte gar nicht, wie er sich ihr gefällig genug zeigen sollte.
»Heute hab' ich nicht mein gewöhnliches Fuhrwerk,« sagte er. »Ich mußte, um Rut suchen zu können, heute morgen einen Schlitten entlehnen. Aber gerade darum könnte ich Sie wohl ein Stück Weges weiterfahren. Es ist für jemand, der gewohnt ist, in der warmen Stube zu sitzen, nicht so leicht, durch den Schnee zu wandern.«
Der lange Tag
Der Tag, der mit Sigruns Flucht begonnen hatte, wurde für viele ein schwerer und ernster Tag, ein Tag, so lang, daß man meinte, er wolle nie ein Ende nehmen.
Lang wurde dieser Tag für Lotta Hedman, die, als sie morgens um drei Uhr ins Brauhaus zurückkam, dort alles unverändert vorfand und sich nun, so gut sie es verstand, auf das vorzubereiten suchte, was kommen mußte. Sie suchte alle Kleider der Toten zusammen, stopfte sie in den Backofen, warf einen Arm voll Holz darauf, zündete an und ließ alles zusammen zu Asche verbrennen. Dann wusch sie den Ofen rein und zog die Vorhänge vor, so daß alles genau wieder so aussah wie am vergangenen Abend.
Sie schaute auch schaudernd und bebend in die Brauhauskammer zu der Toten hinein. Sonst fürchtete sie sich zwar nicht vor den Abgeschiedenen, aber sie meinte, sie und Sigrun hätten sich an dieser hier schwer vergangen, und sie zitterte, wenn sie sich ihr nahte. Dennoch führte sie aus, was sie sich vorgenommen hatte: sie nahm ein Bettuch und breitete es über die Leiche, so daß diese vollständig verhüllt war, und sprach dann mit Andacht und Rührung ein Gebet.
In diesem Gebet fand sie großen Trost. Die Gewißheit, daß diese Tote keine Feindin von ihr und ihrer Herrin war, durchströmte wie eine Woge ihr ganzes Wesen, nein, keine Feindin, sondern ihre getreueste Helferin und Verbündete, vor der sie durchaus keine Furcht zu haben brauchte.
Lotta suchte sich auch auf das vorzubereiten, was sie dem Pfarrer und den Dienstboten sagen wollte. Sie dachte daran, daß am verflossenen Tag niemand Sigrun gesehen hatte, sie konnte ihnen also sagen, die Krankheit habe schon in der vorletzten Nacht ihren Anfang genommen. Sigrun habe ihretwegen nicht nach dem Arzt schicken lassen, sie habe den Ausschlag für ganz ungefährlich gehalten. Und weiter, ja, was sollte sie weiter sagen?
Lotta ging eine Weile sinnend auf und ab. Bald aber fühlte sie sich allzu matt und mutlos, um noch weiter hin und her zu wandern, und sie setzte sich auf einen Stuhl. Aber auch ruhig sitzen zu bleiben vermochte sie nicht mehr; sie stand auf und lehnte sich an die Wand. Schließlich sank sie dicht neben dem Bett der Toten auf den Fußboden nieder und blieb da sitzen.
»Eigentlich sollte ich zum Herrn Pfarrer gehen,« dachte sie. »Ich sollte die Dienstboten wecken.« Aber sie tat weder das eine noch das andere. Sie blieb ruhig sitzen, wiederholte sich immer wieder ihre Erklärungen und drehte sie in Gedanken hin und her.
»Auf die eine oder die andere Weise kommt doch alles an den Tag,« dachte sie. »Wir kommen in Unglück und Schande, Sigrun und ich. Es ist entsetzlich, hier darauf warten zu müssen.«
Eine Weile wurde ihr doch eine große Linderung zuteil, die sie ihren Sorgen und Kümmernissen entrückte.
Während sie so angstgequält neben der Toten auf dem Fußboden saß, trennte sich ihre Seele von dem Körper, erhob sich und schwebte im Flug durch den Weltraum.
Bald war sie so hoch gestiegen, daß Lotta Hedman die irdischen Dinge in ihrem Zusammenhang überschauen konnte. Sie sah jetzt nicht wie sonst nur ein kleines Stück davon, sondern erschaute sie in ihrer ganzen Ausdehnung. Sie sah nicht nur ein kleines Stück von Flüssen und Bächen, sondern konnte dem Wasserlauf von der Quelle bis zur Mündung folgen. Sie sah nicht nur ein kleines Stück eines Waldes, sondern erblickte die gewaltigen Baummassen in ihrer ganzen Ausdehnung. Und die Bergrücken konnte sie in ihrer ganzen Länge verfolgen. Die Ebenen breiteten sich unter ihr aus, und die Gestalt der Länder zeichnete sich von der blanken Meeresfläche ab.
Lotta deuchte dies ein schönes und erhebendes Schauspiel zu sein, aber ihre Seele blieb nicht dabei stehen, sondern erhob sich noch höher.
In wenigen Augenblicken war sie in einem Raum angelangt, von wo aus sie die Schicksale der Menschen in ihrem Zusammenhang überschauen konnte. Lotta konnte die Wanderschaft der Menschen durch das Tal des Lebens verfolgen. In einer Spanne Zeit, die ihr kürzer als Sekunden deuchte, ging das vor sich. Sie sah die Menschen ins Leben treten, sah sie ihren kurzen Weg zurücklegen und wieder hinaustreten ins Unbekannte. Sie sah ihre Freundin Sigrun auf ihrer Wanderung, sah den Weg, der abgesteckt vor ihr lag, und andere Pfade, die ihn kreuzten.
Sie sah auch den Weg, den die Frau, die jetzt tot neben ihr lag, hatte gehen müssen. Es war ein finsterer, armer und schwerer Weg, und er war schon am Verschwinden, aber er verschwand nicht so, daß er sich mit Finsternis bedeckt hätte, nein, er verschwand im Licht.
Am Ende ihres Weges stand noch die Tote und schaute auf ihre Laufbahn zurück, die sich in ein lichtes Band verwandelte, und Lotta erkannte, daß die Seele der armen Wandrerin sich freute.
Die Tote deutete hinüber auf Sigruns Pfad und auf einen der Wege, die ihn kreuzten.
»Sieh her!« sagte sie zu Lotta. »Was ich am innigsten gewünscht habe, das geht durch meinen Tod in Erfüllung.«
Damit verschwand die Tote in einer leuchtenden Helle, deren Glanz so groß war, daß Lotta Hedmans Seele ihr nicht zu folgen vermochte, sondern zurückbleiben mußte
In demselben Augenblick kehrte Lotta Hedmans Seele in ihren Körper zurück; Lotta fühlte sich nun für eine Weile aller Furcht ledig, und sie meinte, was sie geschaut habe, werde und müsse also geschehen.
Diese Seelenruhe verblieb ihr auch, bis sich die Tür des Brauhauses öffnete und jemand fragte, ob sie wisse, daß es schon halb acht Uhr sei.
Da wollte Lotta Hedman sich erheben, aber jetzt war ihre Ruhe verschwunden. Sie dachte an all das Schwere, dem sie jetzt entgegenging, und sie vermochte nicht auf die Beine zu kommen, sondern mußte sitzen bleiben.
Die Tür wurde wieder zugemacht, niemand kam herein, ein paar Minuten vergingen