Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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bin ich, was ich einmal tue, das tu' ich auch richtig,« sagte der Mann, als er sich wieder auf den Schlitten setzte.

      Diese neuen paar Meilen zogen sich indes sehr in die Länge. Wieder mußte das Pferd ausruhen und gefüttert werden. Bald zeigte sich auch, daß in dieser Gegend ungenügend Schnee gefallen war, die Schlittenbahn war überaus schlecht, und die beiden mußten große Strecken zu Fuß gehen.

      Und die Zeit verstrich. Es wurde beinahe zwölf Uhr, bis das neue Wirtshaus in Sicht kam.

      Aber gerade, als sie endlich die Wirtschaftsgebäude sahen, kam ihnen ein Mann mit einem Milchwagen entgegengefahren.

      »Nimm dich in acht, Gustavson!« rief er dem Scherenschleifer zu. »Eben ist dem Wirt telefoniert worden, daß er euch aufhalten soll. Ihr sollt ansteckungsverdächtig sein. Die Pfarrfrau in Algeröd ist heute nacht an den schwarzen Blattern gestorben, und nun behauptet man, du und deine Frau, ihr hättet die Ansteckung aus Norwegen mitgebracht.«

      Das gab einen neuen Aufenthalt und neue Überlegungen. Man beschloß, umzukehren. Keines von beiden hatte Lust, an diesem gefährlichen Wirtshaus vorzufahren.

      Nun schlug der Scherenschleifer vor, sie wollten den Weg gen Osten nach Dalsland einschlagen.

      »Auch von dort geht eine Eisenbahn nach Göteborg, und dort kennt Sie niemand,« sagte er.

      Sie schlugen also einen Weg ein, der nach Osten führte, und der sie wieder hinauf auf die nackte, öde Hochebene brachte.

      Hier war die Schlittenbahn besser, aber das arme Pferd war beinahe völlig erschöpft. Nachdem es zum drittenmal ausgeruht und gefressen hatte, war es auch auf dem Boden des Habersackes angelangt.

      Der Scherenschleifer zog Brot und Butter hervor und fing an zu essen. Sigrun hatte nichts, aber sie war auch nicht hungrig.

      Wenn sie später an diesen Tag zurückdachte, wunderte sie sich über sich selbst.

      »Es war sehr sonderbar. Ich war ganz ohne Gefühl, ganz ruhig und empfand keine Unruhe, keine Müdigkeit, keinen Hunger. Ich wußte die ganze Zeit über, daß alles gehen würde, wie es gehen mußte. Ich war wie vollständig stumpf, aber dabei doch sehr kräftig und leistungsfähig. Sicherlich war jemand in meiner Nähe, der mir beistand.«

      Während der langen Rast auf der Hochebene stellte sie eine Frage an ihren Reisegenossen.

      »Haben Sie nicht gestern gesagt, die Tote sei gar nicht Ihre Frau gewesen?«

      »Gewiß hab' ich das gesagt, und das ist auch die Wahrheit. Sie hatte einen braven Mann und ein schönes Heim, aber sie wollte lieber mit mir herumziehen.«

      Sigrun fragte weiter, nicht, weil ihr diese Sache sehr wichtig gewesen wäre, nichts auf dieser Welt war ihr an jenem Tage wichtig, aber die Zeit verging während eines Gesprächs rascher.

      »Sie hatte Sie also lieber als ihren Mann?«

      »Ich weiß nicht recht, was ich über diese Sache sagen soll. Sie war mit einem verheiratet, der Sven Elversson heißt. Ich weiß nicht, ob Sie von ihm gehört haben?«

      Sigrun nickte.

      »Ich meinte erst, er sei ihr leid geworden wegen dem da, Sie wissen schon, was ich meine,« sagte der Mann. »Allmählich aber fand ich heraus, daß sie ihn verlassen hatte, weil sie meinte, er liebe sie nicht.«

      »Sie war ja sehr häßlich,« sagte Sigrun. »Er hat sie aus Barmherzigkeit geheiratet.«

      »Ja, sie war häßlich, aber sie war ein guter Mensch,« erwiderte der Scherenschleifer. »Sie gehörte zu denen, die für die, so sie lieben, alles tun können.«

      Trotz der Stumpfheit, die über ihr lag, fand Sigrun in diesen Worten etwas, das sie unangenehm berührte. Sie hörte auf, nach der Frau zu fragen.

      »Wissen Sie, wo sich Sven Elversson jetzt aufhält?« fragte sie.

      »Er wohnt auf einem Hof in Dalsland, der Hånger heißt. Das war einmal ein großes Gut, allein es hat dort in verflossenen Zeiten so viel Unglück gegeben, daß niemand mehr dort wohnen mochte und der verödet dalag. Sven Elversson bekam ihn fast umsonst. Dort wohnt er, seit seine Frau fort ist, ganz allein mit seinen alten Eltern, und dort nimmt er so viele Arme wie nur immer möglich, Kinder und Erwachsene, bei sich auf und hilft ihnen, so gut er kann.«

      Mit dem Scherenschleifer verhielt es sich indes an jenem Tage genau so wie mit Sigrun; er mußte unter irgendeinem fremden Einfluß stehen. Er, der sonst als eine richtige Landplage schreiend und lärmend umherzog, war still und bescheiden und berichtete von allen Leuten nur Gutes.

      Als sie endlich weiterfuhren, Sigrun drinnen im Schlitten und der Mann vorne auf dem Sitzbrett, die Beine wie gewöhnlich nach außen hängen lassend, da geschah es, daß er ins Gleiten kam und auf die Straße hinunterfiel.

      Sofort blieb das Pferd stehen. Der Mann stand wieder auf und setzte sich wie vorher zurecht, aber nach kurzer Zeit glitt er wieder hinunter.

      »Ich weiß nicht, was mit mir los ist,« sagte er. »Es dreht sich mir alles im Kopf.«

      Sigrun forderte ihn auf, sich neben sie in den Schlitten zu setzen. Das tat er auch, und sie fuhren weiter. Aber schon nach einer kleinen Weile fielen ihm die Zügel aus den Händen.

      »Ich bin gewiß krank,« sagte er und sah ganz verdutzt drein. »Es geht mir wohl, wie es Rut gegangen ist.«

      Allein Sigrun suchte ihn eilends zu beruhigen.

      »Sie haben heute nacht nicht geschlafen,« sagte sie. »Setzen Sie sich in die Ecke und schlafen Sie. Ich will kutschieren, während Sie sich ausruhen.«

      Wieder war da etwas, das ihren Mut aufrecht erhielt.

      »Er ist nicht angesteckt, er ist nur müde und erschöpft. Da, jetzt schläft er schon!« schien ihr eine Stimme ins Ohr zu flüstern.

      Nachdem sie ein Stück weit gefahren waren, blieb das Pferd stehen und weigerte sich, noch einen Schritt zu machen.

      Sigrun faßte den schlafenden Reisegenossen am Arm und schüttelte ihn.

      »Kennen Sie hier in der Nähe einen Ort, wohin Sie mich bringen können? Das Pferd kann nicht weiter, und es wird allmählich dunkel.«

      »Glauben Sie, daß ich die schwarzen Blattern habe?« fragte er.

      »Nein, Sie sind nur schläfrig, sonst fehlt Ihnen nichts,« sagte Sigrun.

      Gleich darauf suchte er auch wirklich seine Lebensgeister zusammenzuraffen.

      »Es bleibt uns nichts anderes übrig,« sagte er. »Eine halbe Meile von hier ist ein Haus, das ist, wie man sagt, ein ›Landstreicherhotel‹. Wir müssen versuchen, dorthin zu fahren.«

      »Ja, wir müssen durchaus unter Dach kommen,« sagte Sigrun.

      »Es bleibt uns nichts anderes übrig,« wiederholte der Mann. »Ich hätte mich allerdings dort lieber nicht noch einmal sehen lassen. – Wir sind jetzt über die Grenze und damit in Dalsland,« fuhr er fort. »Wenn wir die nächste Anhöhe erreicht haben, dann geht's abwärts. Fahren Sie beim nächsten Kreuzweg links und dann geradeaus bis zum ersten Hof, den Sie sehen.«

      Als Sigrun schließlich das Pferd die Anhöhe hinaufgebracht hatte, erblickte sie im schwindenden Tageslicht eine weite Landschaft unter sich ausgebreitet, sanft abfallend, schön, reich an Seen und waldigen Hügeln, die sich fein und scharf von der schneeschweren Luft abzeichneten. Dieses herrliche Bild belebte sie, sie trieb das Pferd kräftiger an, erreichte den Kreuzweg und bog nach links ab.

      Die schöne Aussicht zeigte sich noch mehrere Male, aber die nächste Umgebung war immer noch gleich einsam. Zuletzt aber erblickte sie doch gerade unter sich einen Hof. Das Wohnhaus war ziemlich groß, von beinahe herrschaftlichem Aussehen, aber alle Nebengebäude waren klein und unansehnlich, beinahe nur wie Häuser auf einem größeren Kätneranwesen.

      Wieder weckte sie den Kranken.

      »Sind wir jetzt da?« fragte sie.

      »Ja,«