nickte zögernd.
»Jetzt aber, Lotta, jetzt hat Gott meine Gebete erhört. Er hat den Tod zu mir geschickt. Auf diese Weise kann ich gehen, ohne mein Wort zu brechen. Ach, begreifst du denn gar nicht, daß das Gottes Wille ist?«
»Ich will nichts mehr von dieser Sache hören, Sigrun,« entgegnete Lotta, indem sie einen Versuch machte, aufzustehen; aber Sigrun hielt sie in dem Korbstuhl zurück.
»Gott selbst ist es, der mir hilft, Lotta,« sagte sie. »Auf diese Weise kann ich gehen, ohne Eduard unglücklich zu machen. Eduard wird mich betrauern, das glaube ich gewiß, ein oder zwei Jahre wird er um mich trauern, und es wird eine Trauer ohne Bitterkeit sein. Wie aber, wenn ich Eduard jetzt davonliefe? Meinst du, er würde sich zufrieden geben? O nein! Er würde nach mir suchen, und wenn er mich fände, würde er mich vielleicht töten. Und wenn ich mich von ihm scheiden ließe, würde er sich zu Tode grämen. Aber wenn ich aus dem Leben schiede ... Das wäre nur ein Schmerz für ihn. Auf den Tod brauchte er nicht eifersüchtig zu sein. Verstehst du nicht, Lotta, wie viel besser das für ihn wäre, als alles andere?«
»Für ihn,« antwortete Lotta, »das mag sein; aber für dich?«
»Für mich,« sagte die junge Frau mit einem Lächeln, indem schon ein Abglanz des Himmels lag, »für mich ist jetzt alles gut, was für ihn gut ist.«
»Das beste für ihn wäre, dich behalten zu dürfen,« erwiderte Lotta hartnäckig.
»Aber gerade das kann ich eben nicht!« rief Sigrun mit verzweifelter Stimme. »Du weißt nicht, was es heißt, ständig bewacht zu sein, niemals irgendeine Freiheit zu haben. Du weißt nicht, wie entsetzlich diese ewigen Auftritte, Versöhnungen und Gelübde der Besserung sind, die niemals gehalten werden und nur Verdruß und Erbitterung im Gefolge haben. Du weißt nicht, was es heißt, immer fürchten zu müssen, es werde etwas Entsetzliches geschehen, immer zu Notlügen gezwungen zu sein, obgleich man nur tut, was gut und recht ist. Nein, du weißt nicht, was das alles heißt, sonst würdest du mich nicht ermahnen, zurückzukehren!«
»Nein,« sagte Lotta Hedman, »nein, mein liebes Herz. Ich wußte ja nicht, daß du es so schwer gehabt hast. Erst gestern und jetzt hast du mir davon erzählt. Aber gibt es denn keinen anderen Ausweg?«
Die junge Frau stand auf.
»Es gibt einen Ausweg,« sagte sie mit großem Nachdruck. »Gott hat ihn mir gezeigt, aber Lotta Hedman will nicht erlauben, daß ich ihn gehe.«
Kein Mensch kann die geradezu überwältigende Macht von Sigruns Schönheit beschreiben, wenn sie Worte wie diese sagte. Es ging eine Zauberkraft von ihr aus, deren sie sich wohl bewußt war, und die sie niemals so schonungslos und so erfolgreich auszuüben gewagt hatte, wie in dieser Nacht.
»Ich will ja nichts Unrechtes tun, Lotta,« fuhr Sigrun fort. »Ich will in den Krieg ziehen und den Verwundeten helfen. Mein ganzes Trachten geht darauf aus. Ich schäme mich, weil ich hierbleibe und niemand etwas nütze. Du weißt, wie ich mich gerade danach mein ganzes Leben lang gesehnt habe. Gott hat mir geholfen, Lotta. Warum willst du es nicht auch tun?«
Was konnte die arme Lotta Hedman sagen? Noch niemals hatte sie Sigrun so geliebt wie in dieser Nacht. Sie leistete auch nur noch Widerstand, weil sie wußte, daß Sigruns Mann aus einer Selbstmörderfamilie stammte. Vielleicht würde er sich töten, wenn er seine Frau verlor. Aber wie dem auch sein mochte, sie wagte Sigrun nichts davon zu sagen. Denn sie meinte, es würde Sigruns Angst vor ihrem Manne noch steigern.
»Aber du hast doch deine Eltern –« war alles, was sie über die Lippen brachte.
»Ich bin von den Pocken angesteckt und kann jetzt nicht zu meinen Eltern reisen,« sagte Sigrun.
Damit ging sie auf Lotta zu und drückte sie aufs neue in den Korbstuhl nieder.
»Lotta, ich bin sehr unglücklich,« begann sie wieder. »Jeder Tag ist mir eine Qual. Soll ich mein ganzes Leben lang so leiden müssen?«
»Aber Sigrun, warum willst du uns allen einen solchen Kummer bereiten?«
»Kummer?« sagte Sigrun. »Kummer? Was ist das? Trauer um eine Tote? Was ist das? Was ist das im Vergleich zu der Trauer um einen Lebenden? Ich bin gezwungen, um Eduard zu trauern. Erinnerst du dich nicht mehr, was für ein Mann er war, als ich ihn kennen lernte? Er wußte sich zu beherrschen, war glücklich, strebsam. Er war ein guter Prediger, seine Gemeinde liebte ihn. Und jetzt? Siehst du nicht, wie verändert er ist? In der Armut und Einsamkeit hier geht er zugrunde. Ich muß von ihm fort, Lotta. Wäre ich tot, so würde er sich um eine andere Gemeinde bewerben. Und er würde das werden, was er zu werden versprach, ehe er das Unglück hatte, mir zu begegnen.«
»Du kannst mich niemals zu der Ansicht bekehren, du müssest so etwas Entsetzliches tun.«
Sigrun zuckte die Achseln.
»Ich will dir auch nicht vormachen, daß ich es nur seinetwegen tue. Ich tue es, weil ich unglücklich bin und dieses Unglück nicht länger ertragen kann. Ach, Lotta! Wenn ich doch nicht wirklich sterben darf! Ich weiß, das wäre das Beste. Aber das Nächstbeste für mich ist, zu verschwinden. Ich gehe unter, ich werde wahnsinnig! Ich bin vielleicht schon jetzt wahnsinnig.«
»Und mich willst du überreden, dir dabei behilflich zu sein, daß ich dich nie mehr sehen kann?« sagte Lotta in ihrer Verzweiflung. Sie hatte nicht von sich selbst sprechen wollen, aber sie mußte alle Gegengründe anführen, die es gab.
»Warum solltest du mich nicht mehr sehen können, wenn ein paar Jahre darüber hingegangen sind?« erwiderte Sigrun. »Hör jetzt nur, wie ich es mir gedacht habe! Ich gehe die erste Strecke zu Fuß, bis ich in eine Gegend komme, wo mich niemand kennt. Dort nehme ich mir einen Wagen bis zur nächsten Eisenbahnstation. Ich denke mit der Bahn bis Göteborg zu fahren, und von dort aus reise ich nach Amerika. In Amerika trete ich bei den Krankenpflegerinnen ein und gehe mit diesen später ins Feld. Du siehst, es ist durchaus nicht unmöglich. Und wenn einige Jahre vorüber sind, schreib ich dir.«
»Versuch es nicht, mich zu verführen,« sagte Lotta. »Ich kann nicht so lügen, wie ich es dann tun müßte.«
»Ich habe Tag für Tag lügen müssen, seitdem ich verheiratet bin,« erwiderte Sigrun mit unsagbarer Bitterkeit.
Lotta Hedman hatte das Gefühl, als werde ihr Herz in tausend Stücke zerrissen. Sie war von tiefstem Mitleid erfüllt. – »Meinetwegen mag sie tun, was sie will!« dachte sie. Zu gleicher Zeit aber war sie so außer sich vor Angst über das, was Sigrun vorhatte, daß sie zu weinen begann.
»Gott wollte mir helfen, aber Lotta Hedman will es nicht,« sagte Sigrun.
»Aber Sigrun!« rief Lotta, indem sie mit der Rückseite ihrer Hand rasch eine Träne abwischte. »Willst du mich zwingen, es zuzugeben, daß du dich selbst zugrunde richtest? Du willst etwas ganz Entsetzliches tun, schon der Gedanke daran macht mich schaudern. Dein Name soll unter den Lebenden ausgelöscht sein. Du willst dich ohne Freunde, ohne Eltern, ohne auch nur sagen zu können, woher du kommst, in die Welt hinausbegeben. Ach, du gerätst in eine furchtbare Lage, wenn es dir glückt, und in Schmach und Schande, Wenn du entdeckt wirst!«
Diese Worte hatten nicht den geringsten Erfolg. Die junge Frau war ebenso fest entschlossen wie vorher. Aber sie hörte nun mit dem Bitten und Überreden auf und begann zu drohen:
»Bedenke das eine, Lotta! Wenn du mir heute nacht nicht in dieser Weise hilfst, gehe ich morgen zu dem, der beim Kirchenvorsteher auf mich wartet.«
»Das tust du niemals,« sagte Lotta.
»Irgend etwas tue ich. In die alten Verhältnisse gehe ich in keinem Fall zurück!«
Ehe Lotta hierauf antworten konnte, trat ein Zwischenfall ein.
Die beiden hörten Schritte, die sich dem Brauhaus näherten, vorsichtige, aber schwerfällige und deutliche Schritte. Diese Schritte hielten nicht beim Eingang an, sondern setzten ihren Weg rings um das Haus fort. Ein paarmal noch wurden sie wieder vernehmlich, dann verhallten sie.
Sigrun machte Lotta ein Zeichen; diese eilte an ein Fenster, schob den Vorhang