Ihre Freunde in der anderen Welt ließen sie in völliger Unkenntnis, sie hatte also von dem, was bevorstand, nicht die geringste Ahnung.
In der ersten Nacht, wo sie bei Sigrun wachte, war sie in großer Angst und Unruhe, das ist selbstverständlich. »Wie wird das enden?« fragte sie sich wieder und wieder. »Wie sollen diese beiden Menschen nur ein neues gemeinsames Leben beginnen? Sigrun ist ja ganz außer sich vor Angst, er aber muß jede Vernunft verloren haben und wie ein wildes Tier vorgegangen sein.«
»Aber es war ja doch nur Eifersucht,« tröstete sie sich. »Und wenn Sigrun sich auch ein wenig vor ihm fürchtet, merkt man ja doch, daß sie ihn lieb hat. Solange aber ihre Liebe nicht tot ist, kann diese sie gewiß wieder zusammenführen.«
Gegen ein Uhr nachts öffnete Sigrun die Augen. Verwundert setzte sie sich im Bett auf und betrachtete die ungewohnte Umgebung. Sie schien zuerst ein wenig verwirrt zu sein, faßt sich aber bald und sagte mit vollkommen ruhiger Stimme zu Lotta:
»Jetzt kannst du dich auch hinlegen, Lotta, aber du mußt die Lampe brennen lassen, und du darfst dich nicht ausziehen. Du mußt bereit sein, mich zu verteidigen.«
Darauf sank sie wieder in die Kissen zurück und fiel aufs neue in Schlaf. – »Sie fürchtet sich noch immer, aber sie ist vollkommen klar,« dachte Lotta Hedman. »Gott sei Lob und Dank! Morgen ist sie wieder gesund.«
Sie tat, wie ihr befohlen war, legte sich auf ein kleines Schlafsofa und schlief bis gegen sieben Uhr; dann stand sie auf, um in den Stall zu gehen und ihr Kleinvieh zu versorgen. Aber als sie die Tür öffnete, rief Sigrun sie zurück.
Sie zitterte und weinte, weil Lotta sie hatte verlassen wollen. Wieder war sie tief erregt, und als Lotta ihr sagte, ihr Mann sei gestürzt und könne sich nicht rühren, war sie unfähig, es ganz zu erfassen.
Lotta blieb also nichts anderes übrig, als sich ans Fenster zu stellen und in die graue Herbstdämmerung hinauszuspähen, bis die Stallmagd vorbeikam. Denn sie mußte sie hereinrufen und ihr sagen, daß die Frau Pfarrer noch zu krank sei, um allein gelassen zu werden, und sie bitten, ihre, Lottas Pflichten, für diesen Morgen zu übernehmen.
Von der Stallmagd erfuhr sie allerlei Neues. Der Amtsrichter war gar nicht zurückgekommen. Er hatte sich zum Kirchenvorsteher geflüchtet, der ein Stück südwärts vom Pfarrhof wohnte. Dort hatte er die Nacht zugebracht, und jetzt am Morgen war der Knecht des Kirchenvorstehers gekommen, um die Sachen des Amtsrichters zu holen.
Aber das bedauere niemand, sagte die Magd. Alle seien froh darüber, daß der Mann den Hof verlassen habe.
Und mit dem Herrn Pfarrer stehe es wirklich schlimm. Er selbst glaube, er habe sich ein Bein gebrochen. Sie hätten schon an den Arzt telephoniert, und dieser habe versprochen, im Laufe des Tages zu kommen.
»So geht's, wenn man sich nicht wie ein gebildeter Mensch benimmt!« schloß die Stallmagd. »Wir wußten ja alle, daß der Amtsrichter in die Frau Pfarrer verliebt ist, aber es wäre keines von uns so verrückt gewesen, zu glauben, sie könne sich aus so einem alten kranken Kerl etwas machen.«
Lotta Hedman war ihrerseits ganz froh über diesen Beinbruch. Der Pfarrer mußte dadurch das Bett hüten, und Sigrun hatte Zeit, sich von ihrem Schrecken zu erholen. Deshalb betrachtete Lotta diesen Unfall fast als eine gnädige Fügung Gottes.
»Gott sei Lob und Dank!« sagte sie seufzend. »Nun wird alles gut. Und wenn dies überstanden ist, werden sie vielleicht glücklicher als vorher.«
Späterhin am Morgen kam der Hofjunge des Kirchenvorstehers mit dem einen Brief dahergeschlichen, aber Lotta Hedman schickte ihn mit dem uneröffneten Brief zurück.
Sonst war es ein stiller, ruhiger Tag. Sigrun stand nicht auf, sondern schlief Stunde um Stunde weiter. Und nicht nur sie schlief; der ganze Hof schien in denselben Schlummer versenkt worden zu sein wie die Hausfrau.
»Hier ist's heute über die Maßen still, es wird einem ganz unheimlich zumute,« sagten die Köchin und das Hausmädchen, als sie ins Brauhaus hinüberkamen, um sich nach ihrer Herrin zu erkundigen. »Es ist, als liege jemand im Sterben.«
Nach einer Weile schickte der Pfarrer nach Lotta, um von ihr zu erfahren, wie es seiner Frau gehe. Lotta ging zu ihm hinüber und sagte, was ja auch die Wahrheit war, Sigrun schlafe unausgesetzt, sie habe kein Fieber, und die kleine Schramme auf ihrer Stirn habe nicht das geringste zu bedeuten.
Aber als er vorschlug, sie sollten Sigrun ins Wohnhaus herüberschaffen, wollte Lotta nichts davon wissen; sie erklärte es fürs beste, Sigrun bleibe, wo sie sich jetzt befinde. Sie zittere am ganzen Körper und habe entsetzlich Angst.
»Sie fürchtet sich gewiß vor mir,« sagte der Pfarrer.
Seine Gesichtszüge drückten tiefen Schmerz aus. Es war nicht allein das gebrochene Bein, was ihm weh tat.
»Sie kommt von selbst zurück, sobald sie wieder bei Kräften ist,« entgegnete Lotta hastig.
Der Kranke seufzte. »Nein, sie kommt nie mehr zu mir zurück,« sagte er, »nie mehr. Sie wird nie mehr den Mut haben, zurückzukommen.«
Lotta Hedman hätte nicht geglaubt, daß sie mit dem Manne, der ihr die schönsten Jugendträume zerstört hatte, jemals Mitleid haben würde. Aber jetzt versuchte sie, ihn doch zu trösten.
»Ach, das Glück wird gewiß in dieses Haus zurückkehren!« sagte sie.
Sie dachte wirklich mit keinem Gedanken daran, Mann und Frau zu trennen. Im Gegenteil, sie tat alles, was in ihrer Macht stand, sie zu versöhnen und wieder zu vereinigen.
Als der Doktor gegen Abend kam, sagte er ungefähr dasselbe über Sigrun wie Lotta: Sie habe keine eigentliche Krankheit, und sie werde gewiß wieder gesund werden, wenn man sie nur zur Ruhe kommen lasse. Aber ihre Nerven seien zerrüttet, und jetzt sei eine Art Krisis eingetreten.
Man müsse sehr vorsichtig mit ihr sein. Man dürfe ihr nicht widersprechen und sie nicht anstrengen. Auch dürfe man sie nicht überreden, etwas anderes zu tun, als das, wozu sie Lust habe.
»Ich bin mir über diesen Fall noch nicht ganz klar, sagte der Arzt. »Denn es kann sich auch ganz anders verhalten. Frau Rhånge kann möglicherweise von jemand angesteckt sein und den Keim zu einer Krankheit in sich tragen, die schnell und heftig zum Ausbruch kommen wird. Aber das kann ich jetzt noch nicht sagen.«
Späterhin waren diese Worte des Doktors, die verschiedene Leute vom Hof gehört hatten, Lotta von sehr großem Nutzen. Sie wunderte sich dann, daß sie gesagt worden waren, und schrieb auch das einer höheren Fügung zu.
Auf diese Weise verging eine ganze Woche. Täglich kam ein heimlicher Bote von dem Gast des Kirchenvorstehers, mußte aber jedesmal unverrichteter Dinge wieder abziehen. Tagtäglich wurde Lotta zum Pfarrer gerufen, um Bericht zu erstatten. Täglich schlief Sigrun vom Morgen bis zum Abend.
Als Lotta später über dieses Schlafen nachdachte, sagte sie sich: »Es lebte etwas in ihr, das wußte, was ihr bevorstand. Sie schlief nicht, weil sie müde und matt war, sondern sie sammelte Kräfte.«
Selbst in den Stunden, wo die junge Frau wach war, lag sie still und schweigend da.
Dann runzelte sie die Stirn, und manchmal nickte sie mit dem Kopfe; wie wenn sie etwas bejahe, was sie sich selbst vorgeschlagen hatte. Lotta dachte wohl, Sigrun schmiede gewiß Zukunftspläne, aber vorläufig hatte sie keine Kenntnis von ihnen.
Eines Tages bat Sigrun Lotta, ins Pfarrhaus hinüberzugehen und ihr siebenhundert Kronen zu holen, die sie in einer Kommodenschublade liegen hatte. »Diese Summe gehört mir,« sagte sie. »Ich habe sie mir von dem Geld, das ich von meinen Eltern zu verschiedenen Geburtstagen erhielt, zusammengespart. Du wirst verstehen, daß ich dieses Geld bei mir haben möchte; es ist mir ungemütlich, wenn es in dem leeren Haus liegt.«
Lotta fand das sehr richtig, und sie holte das Geld.
An einem anderen Tag sehnte sich Sigrun danach, etwas zu lesen, und Lotta brachte ihr eine Zeitung. Sie lag lange da und studierte die Anzeigen der Dampfschiff- und Eisenbahnverbindungen. Dann legte sie das Blatt weg. Lotta gab nicht weiter darauf acht,