suchen müßte.«
»Aber ...« rief Sigrun, und sie hatte plötzlich ein Gefühl wie ein Schiffbrüchiger, über dem die Wogen zusammenschlagen. »Wohnt denn nicht Sven Elversson auf Hånger?«
»Doch,« erwiderte der Scherenschleifer. »Ich wäre lieber auch nicht hierher gegangen, aber es blieb ja nichts anderes übrig.«
»Aber wenn er Sie fragt, wo Sie seine Frau haben?«
»Dann wird mir schon irgend etwas einfallen.«
»Daß er auch gerade hier wohnen muß!« rief Sigrun in Verzweiflung.
»Nun, er hat sich ja gerade diesen Ort ausgewählt, weil er so einsam liegt und keine Nachbarschaft hat. Gewöhnliche Leute kommen nie hierher, aber alle Landstreicher und armen Wandersleute kehren bei ihm ein.«
Sigrun fuhr den Hügel hinunter dem Hofe zu. Ihre Verzweiflung legte sich beinahe sofort wieder, die frühere Stumpfheit kehrte zurück, und eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr, sie solle sich keine Sorgen machen, es werde alles gut gehen.
Dicht bei der Einfahrt zum Hofe stand ein kleines rot angestrichenes Häuschen.
»Hier ist es, hier müssen Sie hineingehen,« sagte der Scherenschleifer, indem er sich ein wenig aus seiner Schlaftrunkenheit aufraffte.
»Ich will auf den Hof fahren und das Pferd einstellen,« sagte er. »Sie können so lange hier hineingehen. Die Landstreicherhütte ist ganz leer. Der Schlüssel liegt unter der Schwelle.«
Sigrun trat in ein kleines Haus, das durch einen Mittelgang in zwei Hälften geteilt war. Zu beiden Seiten des Ganges war je ein Zimmer, und beide waren ganz gleich eingerichtet. Sie hatten nackte Wände, an den Wänden festgemachte Betten mit Strohmatratzen, eine Feuerstelle, einen großen, schweren Tisch und einige schwere Stühle. Ein Eimer mit Wasser und ein Armvoll Holz waren auch vorhanden, aber keine Kissen, keine Bettücher, kein Kochtopf, keine Teller, keine Handtücher, kein Waschgeschirr, eigentlich nichts, was mitgenommen werden konnte. In dem einen Zimmer stand ein riesiger Schrank, der Schlüssel war jedoch abgezogen.
Die Zimmer waren nicht vollständig kalt; es mußte wohl am Vormittag Feuer darin gebrannt haben, auch war es sauber darin und gut gelüftet.
»Ich muß versuchen, Feuer anzumachen,« dachte Sigrun.
Während sie damit beschäftigt war, kam der Scherenschleifer herein. Er konnte sich jetzt kaum mehr aufrecht halten. Ohne ein Wort zu sprechen, warf er sich in eines der Betten und schlief sofort ein.
»Ich glaube nicht, daß er krank ist,« dachte Sigrun. »Er wird wieder ganz wohl sein, wenn er die Nacht durchgeschlafen hat. Ich brauche keine Hilfe zu holen.«
Sie machte auch im anderen Zimmer ein Feuer an, setzte sich davor nieder und versuchte, sich Pläne auszudenken. Plötzlich fühlte sie, wie müde sie war, sie wäre beinahe vom Stuhl gefallen, und außerdem war sie auch hungrig.
»Ich hätte daran denken und mir ein paar belegte Brote mitnehmen sollen,« murmelte sie vor sich hin, und damit wurden ihre Gedanken auf ihre Reisetasche gelenkt. Wo war diese? Sie war nicht im Zimmer, mußte also im Schlitten liegengeblieben sein.
Sofort eilte sie hinaus. Der Schlitten stand vor dem Hause, und die Tasche lag darin. Sie ergriff sie und wollte eben zurückgehen, als eine Stimme sie anrief.
»Bist du es, Rut?«
Es war rasch dunkel geworden. Sigrun vermochte kaum noch, einen alten, gebückten Mann zu unterscheiden, der langsam auf sie zukam.
»Kommen Sie nicht hierher!« rief sie. »Wir bringen die Pocken mit!«
»Ja, das weiß ich schon,« erwiderte der Mann. »Es ist uns deswegen telephoniert worden, und wir hätten nicht erwartet, daß ihr gerade hierher kommen würdet. Ja, ja, das ist nun so, Not kennt kein Gebot.«
»Das ist wohl Joel Elversson, Sven Elverssons Vater,« dachte Sigrun. »Er ist alt und stumpf geworden. – Er hält mich für seine Schwiegertochter.«
»Sven ist heute nicht zu Hause,« sagte Joel auf seine feierliche Art und Weise. »Aber wir, ich und Thala, wollen so gegen dich handeln, Rut, wie er handeln würde, wenn er wüßte, daß du in Not und Lebensgefahr hier wärest. Da hast du den Schlüssel zum Schrank. Du weißt, daß du darin alles findest, was du brauchst. Und wir wollen euch Essen herunterbringen und es vor die Tür stellen.«
Damit reichte er ihr einen kleinen Schlüssel, den sie entgegennahm, ohne ein Wort zu sagen. Er schien auch gar keine Antwort zu erwarten.
»Hier trägt dir niemand etwas nach, Rut,« sagte er. »Wir begreifen ja wohl, was dich fortgetrieben hat. Mach es euch nun so behaglich, wie du kannst, und schlaf in Ruh'.«
Er ging seines Weges, und Sigrun eilte ins Haus zurück. In dem Schrank fand sie Laken und Kissen, alles, was man in einem Gastzimmer braucht. Gleich darauf wurde auch das Essen gebracht.
Einen Teil davon stellte Sigrun dem Scherenschleifer in sein Zimmer, darauf schloß sie ihre Tür fest zu und legte sich zu Bett.
»Ich muß ein Paar Stunden schlafen,« dachte sie. »Dann gehe ich meines Weges. Ich muß von hier fort, ehe mich jemand erkannt hat.«
Und sie schlief auch schon, noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte.
Der Morgen
Als Sigrun erwachte, schien eine kleine rote Wintersonne zu ihr in die ärmliche Kammer herein, in der sie lag. Sie hatte nicht nur ein paar Stunden geschlafen, sondern die ganze Nacht hindurch, und nun hatte sie es sehr eilig, aufzustehen und das Zimmer in Ordnung zu bringen, damit sie ihres Weges gehen könnte.
Sie war vom Schlafe gestärkt, fühlte sich kräftig und entschlußfähig und war nicht unzufrieden mit dem Schritte, den sie getan hatte. Das einzige, was sie ängstigte, war die Furcht, entdeckt zu werden. Aber wenn sie nur von Hånger fortkommen konnte, ohne erkannt zu werden, dann, meinte sie, sei die Gefahr überstanden.
Wieder fand sie ein Brett mit Essen vor ihrer Tür, und dabei ein Papier mit ein paar Zeilen darauf:
»Wir nehmen an, daß du jetzt wieder bei uns bleiben willst, da der Scherenschleifer allein weggegangen ist. Du bist willkommen, zweifle nicht daran.«
Sigrun ging in das gegenüberliegende Zimmer und sah, daß der Scherenschleifer wirklich fort war. Das war schon eine Sorge weniger. Sie war jetzt ausgeruht und wollte viel lieber zu Fuß gehen, als mit ihm in seinem Schlitten fahren. Nun wollte sie sich bis zum nächsten Dorf, wo sie ein ordentliches Fuhrwerk bekommen konnte, durchfragen. Die nächste Eisenbahnstation konnte nicht sehr weit entfernt sein, und vor dem Abend war sie wohl schon in Göteborg.
Sigrun band sich das schwarze Tuch über den Kopf zog Lotta Hedmans Mantel an, ergriff ihre Tasche und wollte gehen.
Ehe sie jedoch das Zimmer verließ, machte sie die Tasche auf, um nachzusehen, ob das Geld und alles andere darin sei. Gleich darauf stieß sie einen Schreckensruf aus. Ihre siebenhundert Kronen waren verschwunden.
Sie griff in die Manteltasche und in die Kleidertasche. Das Geld war nirgends.
Ach, das Geld war gestohlen, das wurde ihr sofort klar. Der Scherenschleifer hatte es aus der Tasche genommen, als diese im Schlitten lag.
Sie mußte sich niedersetzen, um nicht umzufallen. Das war ein fürchterlicher Schlag für sie. Jetzt konnte sie nicht nach Amerika reisen. Alle Wege waren ihr verschlossen. Ach, du lieber Gott!
Sie legte den Kopf auf den Tisch und versuchte nachzudenken. Ja, sie hatte mit ihrem Reisegefährten gestern von dem Gelde gesprochen. Vielleicht hatte er gestern den ganzen Tag über nichts anderes nachgedacht, als wie er es ihr stehlen könnte. Mitten in seiner Müdigkeit und Erschöpfung hatte er doch an diesem Vorsatz festgehalten.
Und damit hatte er ihr auch das Weiterleben unmöglich gemacht.
»Es ist eine harte Welt für den, der sich arm und einsam in sie hinausbegibt,« sagte sie. »Eine harte Welt.«
Was über sie