können, ich blieb also stehen und wartete an der Tür.
Fast im selben Augenblick aber, da ich hereinkam, fing jemand im oberen Stockwerk an Klavier zu spielen, und ich hörte jeden Ton so deutlich, fast wie wenn sich das Klavier in demselben Raume, wo ich stand, befunden hätte. Es klang wunderbar schön, und ich freute mich über die Abwesenheit der Mägde und der Haushälterin, nun konnte ich doch ganz ruhig dableiben und zuhören. Ich hatte gar kein Verlangen, fortzukommen. Im Gegenteil, – die ganze Nacht hätte ich dastehen und zuhören mögen und hätte es doch nicht satt bekommen.
Bis dahin hatte ich kein anderes Instrument je gehört, als eine Handharmonika oder die alte Orgel in der Kirche von Stenbroträsk, und deshalb fragte ich mich immer wieder, was für ein schönes Instrument das sein könne, auf dem gespielt werde. Und es waren keine von den Melodien, die ich kannte, sondern langgezogene Töne, die wie starke Windstöße dahergezogen kamen; sie waren voller Wohlklang und so deutlich, daß mir war, als liebkosten sie mir im Vorübergehen die Wangen.
Und während ich so atemlos lauschte, da erwachten in mir wunderbare, herrliche Gedanken. Mir war, als habe ich die Erde verlassen, als sei ich schon halbwegs droben bei Gott im Himmel.
Aber dann kamen Leute in die Küche herein, und plötzlich war das schöne Spiel vorbei.
Als die Haushälterin die Milchflasche ausgeleert hatte, brachte sie mir etwas zu essen und forderte mich auf, am Tisch Platz zu nehmen. Sie sagte, an diesem Tag sei jemand von der Propstei begraben worden. Die alte Dame, die Mutter des Propstes, sei gestorben, und mehrere von den Leidtragenden hätten bei ihnen zu Mittag gegessen. Nun wolle sie mich von dem Essen dieses Gastmahls kosten lassen.
Da sie nun so gut und freundlich gegen mich war, faßte ich mir ein Herz und fragte, wer wohl so schön im oberen Stockwerk gespielt habe.
Doch die Haushälterin war äußerst erstaunt und konnte kaum auf meine Frage antworten.
›Was sagst du da, Kind?‹ fragte sie. ›Du kannst doch unmöglich jemand im oberen Stockwerk haben spielen hören. Das Klavier steht ganz im anderen Ende des Hauses, das hört man nicht einmal bis hierher in die Küche. Außerdem wirst du wohl begreifen, daß an dem Tag, an dem die alte Dame auf den Kirchhof hinausgetragen wurde, niemand daran denkt, zu musizieren.‹
Nachdem sie das gesagt hatte, wurde es mäuschenstill in der Küche. Ich wußte recht wohl: was ich gehört hatte, hatte ich gehört, wollte jedoch nicht widersprechen.
Die Haushälterin dachte einen Augenblick nach, dann wollte sie mich aufs neue überzeugen.
›Es ist das Zimmer der alten Frau Propst, das hier über der Küche liegt,‹ sagte sie, ›und dies wäre der letzte Platz auf der ganzen Welt, wo an diesem Tag jemand musizieren würde.‹
Mir traten die Tränen in die Augen, denn ich sah wohl, daß sie meinte, ich hätte eine Unwahrheit gesagt. Und ich wäre am liebsten auf und davon gegangen, aber das konnte ich nicht, ehe ich das aufgegessen hatte, was mir vorgesetzt worden war.
Doch siehe da, als ich noch so dasaß und mich hundert Meilen weit weg wünschte, ging plötzlich die Tür auf, der Propst steckte den Kopf herein und fragte, ob seine Leute denn nicht gehört hätten, daß es zum Abendgebet geläutet habe.
Da wurden alle in der Küche verlegen, und sie begannen sich zu entschuldigen.
›Diese Lotta Hedman hier hat uns ganz außer Fassung gebracht, und so haben wir alles andere vergessen,‹ sagten sie. ›Sie behauptet, sie habe, als sie vor einer Weile in die leere Küche kam, gehört, wie im oberen Stockwerk jemand Klavier spielte; aber wir verstehen nicht, was sie meint, denn wir wissen doch, daß heute am Begräbnistag niemand eine Taste angerührt hat.‹
Und ich, ich Ärmste, die auf diese Weise angeklagt wurde, wußte nicht, was ich tun sollte. Schnell legte ich Messer und Gabel weg, schob den Teller zurück und schickte mich an, rasch zur Tür hinauszugehen.
›Ach, wenn es so ist!‹ sagte der Propst. ›Dann müssen wir alle Gott danken. Dies ist eine große Gnade. Ich wußte es ja, meine liebe Mutter würde mir einen Gruß senden, falls es in ihrer Macht stünde. Sie würde nicht für immer von mir gehen, ohne mir ein Zeichen zu geben, das für mich, der noch in der Finsternis und Ungewißheit lebt, ein Leitstern sein könnte.‹
Darauf trat er zu mir und legte mir die Hand auf den Kopf.
›Also du bist eine von den Auserwählten,‹ sagte er. ›Du bist eine von denen, die Grüße von den Toten zu den Lebendigen bringen sollen. Ja, vielleicht spricht Gott selbst einmal durch deinen Mund.‹
Mehr sagte er nicht. Er hob nur meinen Kopf in die Höhe und sah mir tief in die Augen, und dann seufzte er und ging hinaus.
Als ich später über den Fluß heimwärts ruderte, dachte ich über alles nach, was ich erlebt hatte. Und mir war, als sei ich auf eine wunderliche Weise verwandelt und als könne ich nie mehr dieselbe werden, die ich bis dahin gewesen war.
Und dies war das erstemal, wo mir etwas Merkwürdiges widerfahren war, das erstemal, wo ich Kenntnis davon bekommen hatte, daß ich dazu auserwählt war, das zu hören und zu sehen, was den Weisen und Gelehrten verborgen bleibt.
Und in diesem Augenblick dachte ich beinahe, ich würde einer von den Propheten des Herrn werden, von denen ich in der Heiligen Schrift gelesen hatte. Ich glaubte, ich würde dahin kommen, Worte auszusprechen, die ebenso lange bestehen würden wie Himmel und Erde. Ja, ich glaubte, ich würde unter den Menschen erhöht werden, und es fiel mir nimmermehr ein, zu denken, daß ich nichts weiter werden sollte, als eine arme Arbeiterin in einer Kistenfabrik.«
Die Mitkonfirmandin
Der fremde Mann dankte Lotta Hedman sehr herzlich für diese Erzählung.
»Ich bin mehr als froh, daß ich gerade heute mit diesem Zug fuhr,« sagte er. »Ach, man sollte viel öfter himmlische Musik zu hören bekommen! Dann würde vieles in der Welt anders werden.«
Als er diese Ansicht geäußert hatte, lehnte er sich in seine Ecke zurück und zog den Hut über die Augen. Aber Lotta Hedman war fest davon überzeugt, daß er es nicht tat, um zu schlafen, sondern nur um über das, was er gehört hatte, ungestört nachdenken zu können.
Nachdem einige weitere Augenblicke vergangen waren, empfand sie große Lust, mehr mit ihm zu sprechen.
»Du mußt mit diesem Mann von Sigrun reden. Du mußt dich mit ihm wegen deiner Reise beraten,« flüsterte eine mahnende Stimme in ihrem Herzen. »Aber warum soll ich mit einem Mann über Sigrun sprechen, der ihr und auch mir völlig fremd ist?« beruhigte sie sich selbst. Einen Augenblick später jedoch war die Lust aufs neue da. »Sprich mit ihm von Sigrun! Sieh ihn dir jetzt an, wo sein Hut auf die Seite gerutscht ist. Das ist ein guter Mann, der viel Kummer erlebt hat. Er hat ein demütiges Herz. Wem er auch immer begegnet, er mag noch so heruntergekommen und sündhaft sein, sicherlich hält er ihn für mehr als sich selbst. Mit diesem Mann kann man über alles sprechen. Sprich mit ihm über Sigrun!«
»Nein, Lotta Hedman, sei vorsichtig, du bist jetzt nicht daheim in Stenbroträsk, wo du alle Menschen kennst! Woher weißt du, daß dieser Mann so vortrefflich ist? Vielleicht macht er sich gerade jetzt im stillen über dich lustig,« flüsterte eine andere Stimme gleich nachher.
Der Zug fuhr und fuhr immer weiter. Von Haltestelle zu Haltestelle ging es. Leute stiegen aus und stiegen ein. An einem großen Bahnhof, wo sich mehrere Eisenbahnlinien kreuzten, verließen alle Reisende bis auf Lotta Hedman und den Mann, der ihr gerade gegenüber saß, den Wagen dritter Klasse.
Kaum waren sie allein, so richtete sich der Mann auf, legte den Hut in das Netz hinauf und begann sich mit Lotta zu unterhalten.
Er war freundlich, klug, höflich und vor allen Dingen demütig und gütig. Und gerade wegen dieser Güte konnte kein Mensch länger als fünf Minuten mit ihm zusammen sein, ohne sich danach zu sehnen, ihm alle seine Sorgen anvertrauen zu dürfen.
»Dieser Mensch wird meine Schwachheit verstehen,« dachten alle, die mit ihm zusammenkamen. »Es müßte wohltun, wenn man mit ihm reden könnte. Er würde