Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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Treppe hinaus, um die Tür zuzuziehen, und als er wieder in die Stube hineinkam, standen die beiden kleinen Mädchen schon da drinnen.

      Es waren ein Paar arme Bettelkinder, zerlumpt und schmutzig und hungrig, ein Paar arme kleine Mädel, die jede einen Sack schleppten, der ebenso lang war wie sie selber.

      »Wer läuft denn noch so spät in der Nacht auf der Landstraße herum?« fragte der Bauer mit strenger Stimme.

      Die beiden Kinder antworteten nicht gleich, sondern stellten erst ihre Säcke hin. Dann gingen sie auf ihn zu und reichten ihm ihre kleinen Hände zum Gruß. »Wir sind Anna und Birte Marie aus Engärdet,« sagte die ältere, »und wir möchten gern um Unterkunft bitten.«

      Er nahm die ausgestreckten Hände nicht und wollte eben die Bettelkinder zur Tür hinauswerfen, als wiederum eine Erinnerung in ihm aufstieg. Engärdet, war das nicht das kleine Haus, wo eine arme Witwe mit ihren fünf Kindern gewohnt hatte? Aber die Witwe schuldete seinem Vater einige hundert Kronen, und der Vater hatte ihr Haus verkauft, um zu seinem Gelde zu kommen. Die Witwe zog dann mit den ältesten Kindern nach Norrland, um Arbeit zu suchen, während die beiden jüngsten von der Armenordnung versorgt wurden.

      Ihm war bitter zumute, als er sich dessen erinnerte. Er wußte, daß sein Vater viel Böses hatte hören müssen, weil er das Geld eingetrieben hatte, das ihm doch von Rechtswegen zukam.

      »Was macht ihr denn jetzt?« fragte er die Kinder mit strenger Stimme. »Sorgt denn die Armenverwaltung nicht für euch? Warum lauft ihr herum und bettelt?«

      »Dagegen können wir nichts machen,« antwortete das ältere von den Kindern. »Die Leute, bei denen wir wohnen, haben uns auf Betteln ausgeschickt.«

      »Dann habt ihr ja auch eure Säcke voll und könnt euch über nichts beklagen,« sagte der Bauer. »Es wird wohl am besten sein, wenn ihr nun etwas von dem, was ihr da habt, herausholt und euch satt esset, denn hier ist nichts mehr zu bekommen. Alle die Frauenzimmer sind schon zu Bett gegangen. Und dann könnt ihr euch in die Ofenecke legen, so daß ihr nicht friert.«

      Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie von sich weisen, und seine Augen hatten fast einen harten Ausdruck. Er mußte ja froh sein, daß er einen Vater gehabt hatte, der sein Hab und Gut zusammenhielt. Sonst hätte er am Ende als kleiner Junge auch mit dem Bettelsack herumlaufen müssen so wie diese beiden.

      Kaum hatte er den Gedanken ausgedacht, als die scharfe, spottende Stimme, die er heute abend schon einmal gehört hatte, ihn Wort für Wort wiederholte. Er lauschte und wußte sofort, daß es nichts war, nichts weiter als der Wind, der im Schornstein heulte. Aber das merkwürdige war, daß als der Wind die Worte wiederholte, sie ihm so sonderbar dumm und hart und falsch vorkamen.

      Die Kinder hatten sich indessen nebeneinander auf den harten Fußboden hingelegt. Sie hatten noch keine Ruhe gefunden, sondern lagen da und murmelten.

      »Schweigt still, hört ihr!« sagte er. Er war so gereizt, daß er sie gern hätte schlagen können.

      Aber sie fuhren fort zu murmeln, obwohl er ihnen noch einmal zurief, daß sie still sein sollten.

      »Als Mutter fortging,« sagte eine klare, kleine Stimme, »hat sie mir das Versprechen abgenommen, daß ich jeden Abend mein Abendgebet sprechen soll. Und das muß ich tun, und Birte Marie auch. Wenn wir ›Nun schließ ich meine Augen‹ gebetet haben, werden wir ganz still sein.«

      Der Bauer saß da, ohne sich zu rühren, und hörte die Kleinen ihr Gebet sagen. Dann ging er auf und nieder, auf und nieder mit langen Schritten, und dabei rang er seine Hände, als sei er in großer Not.

      Das Pferd abgearbeitet und zuschanden gemacht und diese beiden Kinder an den Bettelstab gebracht! Und beides das Werk seines Vaters! Was sein Vater tat, war am Ende doch nicht ganz richtig gewesen.

      Er setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zittern und zu beben, und Tränen traten ihm in die Augen. Er beeilte sich, sie abzutrocknen, aber es kamen neue Tränen, und er bekam genug damit zu tun, sie zu beseitigen. Aber es half alles nichts, es kamen immer mehr.

      Nun öffnete die Mutter die Tür der Kammer, und er beeilte sich, den Stuhl so zu drehen, daß er ihr den Rücken zuwandte. Sie mußte aber doch etwas Ungewohntes bemerkt haben, denn sie blieb lange still hinter ihm stehen, als erwarte sie, daß er ihr etwas sagen werde. Aber dann fiel ihr ein, wie schwer es immer für einen Mann ist, über die Dinge zu reden, die ihm am meisten am Herzen liegen. Sie mußte wohl versuchen, ihm zu helfen.

      Sie hatte von der Kammer aus gesehen, was in der Stube vor sich gegangen war, so daß sie nach nichts zu fragen brauchte. Ganz leise ging sie zu den schlafenden Kindern hin, nahm sie in ihre Arme und trug sie in ihr eigenes Bett in der Kammer. Darauf ging sie wieder zu dem Sohn hinaus.

      »Hör einmal, Lars,« sagte sie und tat so, als sähe sie nicht, daß er weinte. »Die Kinder mußt du mir lassen.« – »Was sagst du da, Mutter?« fragte er und bemühte sich, seiner Tränen Herr zu werden. »Sie haben mir schon alle diese Jahre leid getan, seit dein Vater ihrer Mutter das Haus wegnahm. Und dir auch.« – »Hm.« – »Ich will sie hier behalten und ein Paar ordentliche Menschen aus ihnen machen. Sie sind zu gut, um herumzulaufen und zu betteln.«

      Er konnte nicht antworten, denn jetzt stürzten ihm die Tränen aus den Augen, aber er nahm die alte Hand seiner Mutter und streichelte sie.

      Dann aber fuhr er plötzlich auf, als fürchte er sich vor etwas. »Was würde Vater dazu sagen?« – »Vater hat seine Zeit gehabt, wo er befahl,« sagte die Mutter, »jetzt ist das an dir. Solange Vater lebte, mußten wir ihm gehorchen. Jetzt sollst du dich so zeigen, wie du bist.« – Der Sohn war so überrascht durch diese Worte, daß er zu weinen aufhörte. »Ich zeige mich doch so, wie ich bin,« sagte er. – »Nein,« erwiderte die Mutter, »das tust du nicht. Du gibst dir nur Mühe, deinem Vater ähnlich zu sein. Er hatte in kargen Zeiten gelebt, und das hatte ihm bange gemacht, daß er verarmen könne. Er hielt es für seine Pflicht, in erster Linie an sich selbst zu denken. Du aber hast nie etwas erlebt, was dich hart machen könnte. Du hast mehr, als du gebrauchst, und es würde unnatürlich sein, wenn du nicht auch an andere denken wolltest.«

      Der Junge war hinter den kleinen Mädchen in die Stube gegangen und hatte sich in einer dunklen Ecke versteckt. Es dauerte nicht lange, bis er den Schlüssel in der Rocktasche entdeckt hatte. »Wenn der Bauer nun die Kinder zur Tür hinausjagt, nehme ich den Schlüssel und laufe damit weg, dachte er.

      Die Kinder wurden also nicht zur Tür hinausgejagt, und der Junge saß in seiner Ecke und es wollte ihm nichts einfallen, was er tun könne. Die Mutter sprach lange mit ihrem Sohn, und während sie sprach, versiegten die Tränen, und schließlich saß er mit einem so schönen Ausdruck im Gesicht da und sah so aus wie ein anderer Mensch. Und während der ganzen Zeit streichelte er die alte Hand.

      »Nun müssen wir aber wohl zu Bett,« sagte die Alte, als sie sah, daß er sich wieder beruhigt hatte. – »Nein,« sagte er und erhob sich schnell, »ich kann noch nicht zu Bett gehen. Da ist noch ein Gast, dem ich über nacht Obdach gewähren muß.«

      Mehr sagte er nicht, zog aber schnell den Rock über; zündete eine Laterne an und ging hinaus. Draußen herrschte noch derselbe Sturm und dieselbe Kälte, aber als er auf die Treppe hinauskam, summte er eine Melodie vor sich hin. Er dachte daran, ob das Pferd ihn wohl wieder erkennen würde, ob es sich wohl freuen würde, wieder in den alten Stall zu kommen.

      Als er über den Hofplatz ging, hörte er, daß eine Tür offen stand und im Winde klapperte. »Das ist die Scheunentür, die wieder aufgeweht ist,« dachte er und ging hin, um sie zu schließen.

      Einen Augenblick später stand er vor der Scheune und wollte gerade die Tür verschließen, als er meinte, etwas da drinnen pußeln zu hören.

      Der Junge hatte nämlich die Gelegenheit benutzt und war mit ihm zusammen hinausgegangen und gleich nach der Scheune gelaufen, wo die Tiere gestanden hatten. Aber sie standen nicht mehr draußen im Regen. Ein starker Windstoß hatte längst die Scheunentür wieder aufgerissen und ihnen ein Dach über dem Kopf verschafft. Das, was der Bauer pußeln hörte, war der Junge, der in der Scheune herumlief.